„Da braut sich was zusammen“AFGHANISTAN

„Da braut sich was zusammen“

„Da braut sich was zusammen“

Verstöße gegen Sitten und Wertvorstellungen der Afghanen durch westliche Organisationen sind vor allem in Kabul an der Tagesordnung. Sie spielen den Taliban in die Hände und bringen neuen und unerwarteten Zulauf für die islamistischen Kämpfer. Das Land könnte für den Westen bereits verloren sein, befürchtet Dr. Conrad Schetter vom Zentrum für Entwicklungsforschung der Universität Bonn. Mit ihm sprach das EURASISCHE MAGAZIN über die Lage in Afghanistan im fünften Jahr der westlichen Intervention.

Von Hans Wagner

  Zur Person: Conrad Schetter
  Dr. Conrad Schetter ist Wissenschaftler am Zentrum für Entwicklungsforschung der Universität Bonn. Dort leitet er die Forschungsgruppe „Politikgestaltung und Konflikte“, die sich vor allem mit Zentralasien und Ostafrika befasst.

Schwerpunkte der Forschung sind lokale Macht- und Gewaltstrukturen, internationale Interventionsbemühungen und kollektive Identitäten.

Projekte und Veröffentlichungen von Conrad Schetter finden Sie hier:
www.zef.de
www.zef.de/amudarya.0.html
www.state-failure.de/index.htm
Dr. Conrad Schetter  
Dr. Conrad Schetter  

Eurasisches Magazin: Ist Afghanistan ein befreites Land?

Conrad Schetter: Die Frage lässt sich kaum mit ja beantworten. Tatsache ist, dass in dem Land nach wie vor Krieg geführt wird. Ein immer größer werdender Teil der Bevölkerung ist enttäuscht darüber, dass die Intervention eben nicht die erwartete Freiheit gebracht hat. Zunehmend haben die Afghanen das Gefühl, in einem besetzten Land zu leben, nicht in einem befreiten Land.

EM: War denn Befreiung wirklich das Ziel des Einmarsches?

Schetter: Es gab sicher mehrere Motive für die internationale Intervention in Afghanistan nach dem Anschlag vom 11. September 2001. Die amerikanische Nation war verwundet. Die Regierung Bush musste eine Reaktion zeigen, die dieser Verwundung angemessen schien. Weil Osama bin Laden und sein Terrornetz Al Kaida in Afghanistan vermutet wurden, war dieses Land zum Interventionsziel auserkoren worden. Man wollte die Terrorzentrale beseitigen und danach das Land wieder aufbauen. Durch dieses humanitäre Versprechen des Wiederaufbaus war es den USA zudem möglich, die eigene Bevölkerung und die Bündnispartner fast geschlossen hinter sich zu bringen.

EM: War der Krieg also richtig und gerecht?

Schetter: Kann es überhaupt einen gerechten Krieg geben? Das kann nur höchstrichterlich entschieden werden. Natürlich gab es gute Gründe für die Intervention: Die Taliban stellten eine Gefahr für die nationale und internationale Sicherheit dar. Afghanistan war so etwas wie ein sicherer Hafen für die weltweit vernetzten islamistischen Gruppen. Deshalb war die Vertreibung der Taliban in den Augen der internationalen Gemeinschaft, allen voran der USA, richtig und notwendig.

Die afghanischen Besonderheiten entsprechen nicht westlichen Vorstellungen

EM: Ist für das Afghanistan von heute noch eine evolutionäre, organische Entwicklung denkbar, die das Land aus seinem nach westlicher Sicht mittelalterlichen Zustand herausführt und es wieder aufbaut, wie Bush versprochen hatte?

Schetter: Das wäre durchaus möglich. Aber die Organisationen der Gebernationen stehen unter einem großen Legitimationsdruck – sie müssen in aller kürzester Zeit Nachweise für Tätigkeiten erbringen, die sie nach den Maßstäben ihrer Auftraggeber durchzuführen haben. Das ist einer der Gründe, warum es immer wieder zu massiven Eingriffen in die afghanische Gesellschaft kommt. Ein evolutionärer Prozess müsste auf den afghanischen Identitäten, Institutionen und Organisationsformen aufbauen und an sie anknüpfen. Aber diese afghanischen Besonderheiten entsprechen eben nicht westlichen Vorstellungen von Entwicklungspolitik. Das heißt, dass den Afghanen vorgegeben wird, wie und wohin sie sich zu entwickeln haben. Die Begeisterung über diese Behandlung hält sich verständlicherweise sehr in Grenzen.

EM: Auch die städtischen, westlich orientierten Strukturen – vor allem in Kabul – und die alten Traditionen des Landes lassen sich anscheinend nicht vereinbaren?

Schetter: Das ist eines der grundlegenden Probleme Afghanistans. An diesen wirklich tiefen Gegensätzen innerhalb des Landes haben sich sämtliche afghanischen Konflikte im 20. Jahrhundert entzündet und immer wieder zu großen Gewalteruptionen geführt. Die Entwicklungspolitik tut sich hier schwer, weil sie fast gezwungen ist, sich auf die eine oder andere Seite zu schlagen. Sinnvoll wäre es natürlich, durch Entwicklungshilfe diese krassen Gegensätze aufzulösen.

In Kabul gibt es 1.200 NGOs – vor den Toren der Stadt keine einzige

EM: Wie meinen Sie das?

Schetter: Zum Beispiel sind in Kabul über 1.200 Nichtregierungsorganisationen angesiedelt, die Entwicklungshilfe leisten sollen. Vor den Toren der Stadt in Richtung Süden ist keine einzige mehr zu finden.

EM: Das ist in der Tat asymmetrische Entwicklungspolitik. Wer fragt eigentlich die Afghanen, was sie gerne hätten und wie sie sich ihre Zukunft vorstellen?

Schetter: In der Rhetorik der internationalen Gemeinschaft wird dieses Eingehen auf die Bevölkerung immer sehr stark betont. Man spricht von einer Politik des „leichten Fuß Aufsetzens“, das soll heißen, dass es vor allem die Afghanen den Prozess bestimmen. De facto aber findet genau dies nicht statt. Man gebraucht hier einfach leere Worthülsen. Es gibt natürlich auch nur wenige afghanische Ansprechpartner, mit denen man das Thema der afghanischen Bedürfnisse überhaupt erörtern könnte. Die Kapazitäten auf  Seiten des afghanischen Staates sind sehr gering. Aus all dem folgt, dass die Entwicklungsprojekte nach dem Gusto der Geberländer durchgeführt werden und sich eben gerade kaum an den vorhandenen Bedürfnissen orientieren.

 EM: Wie steht die Bevölkerung zur Regierung Karsai und zu den Amerikanern – sind sie wirklich bei der Mehrheit gleichermaßen verhasst?

Schetter: Man hat Karsai lange zugute gehalten, dass er ein Verbindungsglied zwischen den Afghanen und der internationalen Gemeinschaft darstellte, sozusagen ein Grenzgänger war zwischen den Welten, der die Sprache beider Seiten sprach. Aber als es dann im März 2006 zu dem Prozess gegen Abdul Rahman kam, der vom Islam zum Christentum konvertiert war, hat Karsai seine Legitimierung in Afghanistan verspielt. Rahman hätte bei einer Verurteilung wegen Abtrünnigkeit vom Islam die Todesstrafe gedroht. Karsai hat damals dem vor allem von den Amerikanern öffentlich ausgeübten Druck nach Rettung sofort nachgegeben, und die Freilassung Rahmans durchgesetzt,  anstatt sich, entsprechend der Idealvorstellung afghanischer Herrscher, als Hüter des Islams zu bewähren. Dadurch hat der afghanische Präsident in den letzten Monaten enorm an Einfluss verloren. Hier hat vor allem der öffentlich geäußerte Druck der internationalen Gemeinschaft Hamid Karsai großen Schaden beigefügt. Dies hätte auf weitaus elegantere, diplomatischere Art gelöst werden können.

EM: Was wird ihm konkret vorgeworfen?

Karsai schreckt nicht davor zurück islamische Werte an die USA zu verkaufen

Schetter: Dass er eben doch eine Marionette der Amerikaner ist. Als solche hatte er bei der Mehrheit der Afghanen vorher gar nicht gegolten. Aber jetzt hat er mit seinem Verhalten in den Augen der Afghanen verdeutlicht, dass er nicht einmal davor zurückschreckt, islamische Werte an die USA zu verkaufen.

EM: Und wie sieht das afghanische Volk die Amerikaner?

Schetter:  Sie wurden anfänglich mit einer gewissen Erwartung auf Befreiung vom Joch der Taliban wahrgenommen. Inzwischen hat sich der Wind aufgrund des wenig angepassten Verhaltens der Amerikaner sehr stark gedreht. Daran schuld ist zum Beispiel das brachiale militante Vorgehen der US-Truppen im Süden des Landes, dem immer wieder Zivilisten zum Opfer fielen, Hochzeitsgesellschaften, Bauern auf dem Feld, Kinder. Es ist auch die Missachtung afghanischer Traditionen. Sie werden oft verletzt, beispielsweise in dem GI’s ungeniert in Frauengemächer eindringen, um sie zu durchsuchen. Nicht einmal afghanische Männer betreten diese Räume. Heute sind die Amerikaner aus all diesen Gründen keineswegs mehr wohlgelitten.

EM: Welche Rolle spielen eigentlich die afghanischen Frauen, die Mütter, die Großmütter?

Schetter: Aus westlicher Sicht wird die strikte Trennung von männlicher und weiblicher Welt kritisiert und ganz besonders die Unterdrückung der Frau, was in vielen Bereichen auch stimmt. Aber auch hier muss differenziert werden. Es spielt nämlich das Alter eine ganz besondere Rolle, die wir im Westen so gar nicht kennen. Frauen gewinnen in Afghanistan mit zunehmendem Alter eine beeindruckende Machtfülle. In familiären Angelegenheiten haben sie vielfach das Sagen. Söhne und Männer müssen sich den Entscheidungen der Frauen beugen, zum Beispiel in wirtschaftlicher Hinsicht. Großmütter im gestandenen Alter werden sehr stark respektiert in der afghanischen Gesellschaft. Sie nehmen auch durchaus Einfluss auf politische Entscheidungen.

„Viele wichtige Entscheidungen innerhalb der Familie werden von Frauen getroffen.“

EM: Das ist schwer verständlich, erst müssen die Frauen den Schleier nehmen, sich unter der Burka verstecken, haben nach unseren Beobachtungen wenig zu melden, und plötzlich ist es so, dass sie sogar das Sagen haben. Wie kann man sich das erklären?

Schetter: Dadurch, dass man unterscheidet zwischen Repräsentation und Entscheidungsgewalt. Die Repräsentation liegt bei den Männern, viele wichtige Entscheidungen innerhalb der Familie werden von Frauen getroffen. Dabei gibt es eine Altershierarchie. Großmütter schalten und walten über ihre Söhne und Enkel. Sie bestimmen die Namen der Kinder und entscheiden oftmals über wirtschaftliche Ressourcen der Familie. Die Mitarbeiter vieler Hilfsorganisationen wissen darüber im Allgemeinen kaum Bescheid.

EM: Kann man angesichts der Stärke ihrer Tradition und der Prägung durch den Islam denn überhaupt annehmen, die Afghanen würden das westliche demokratische System als überlegen ansehen oder gar anerkennen?

Schetter: Nein, sicher nicht. Bis auf eine sehr kleine urbane Schicht in der Stadt spielt für Afghanen der Islam die entscheidende Rolle. Darauf ist die gesamte Gesellschaft ausgerichtet, wenngleich auch unterschiedliche Islamverständnisse im Land zu finden sind. Die meisten Afghanen verstehen unter Demokratie einen wirtschaftlichen Aufschwung. Sie möchten schlicht, dass es ihnen wirtschaftlich besser geht. Die Verknüpfung von Demokratie und Wohlstand wird von vielen Politikern der internationalen Gemeinschaft herausgestellt. Dadurch werden Erwartungen geweckt, dass man nun bald so leben könne wie in der westlichen Welt. Das ist gefährlich, denn wenn diese Entwicklung nicht eintritt, ist  Demokratie in den Augen der Afghanen nichts wert. Die Enttäuschung ist programmiert. Davon ist die Situation  gegenwärtig geprägt. Der Aufschwung bleibt in den Augen vieler Afghanen stecken, die Demokratie hat versagt. Dass das eine nicht unbedingt an das andere gekoppelt ist, auch in anderen Ländern nicht, das wissen die Menschen in Afghanistan nicht, oder es wird ignoriert.

Das deutsche Paktia-Projekt aus den 60er Jahren würden die Menschen beklatschen

EM: Gibt es geeignete afghanische Traditionen aus den Zeiten vor den Taliban, an denen westliche Organisationen und Hilfsprojekte sich orientieren und an die sie anknüpfen könnten?

Schetter: Natürlich finden sich diese Traditionen, die mit Entwicklungspolitik kompatibel sind. Es gibt vielerorts lokale Entscheidungsstrukturen, die partizipativ sind und eine Legitimierung erfahren. Afghanen wollen ja zudem Entwicklung, etwa Bildung – auch für Mädchen. Natürlich wollen die Afghanen aber auch mitbestimmen, in welche Richtung die Entwicklung gehen soll. Zudem gibt es einige Entwicklungsprojekte aus der Vergangenheit, die nach wie vor großes Ansehen bei den Afghanen genießen. Allen voran das Paktia-Projekt, das in den 1960er Jahren eines der größten Entwicklungsprojekte der Bundesrepublik war und damals stark kritisiert wurde.

EM: Worum ging es bei dem Paktia-Projekt?

Schetter:  Um den Aufbau der Infrastruktur der Provinz Paktia, also Straßen, Energieversorgung etc. Außerdem natürlich um Bildungseinrichtungen und auch die Entwicklung der Wirtschaft. Ziel war es, eine ganze Provinz zu entwickeln. Da gibt es Anknüpfungspunkte bis heute, und die Afghanen haben damals das Projekt sehr begrüßt. Wenn die deutsche Regierung dies wieder aufleben lassen würde, kämen die Menschen auf die Straßen, um Beifall zu klatschen.

EM: Und warum spielen solche Projekte keine größere Rolle beim Aufbau in Afghanistan?

Schetter: Weil unsere Entwicklungspolitik sich stark verändert hat. Heute steht statt solch klassischer Entwicklungspolitik Social Engineering im Vordergrund, was insbesondere meint, die Gesellschaft nach westlichen Vorstellungen umzugestalten.

„Die Entwicklungspolitik in Afghanistan kann nicht funktionieren.“

EM: Funktioniert diese Entwicklungspolitik in Afghanistan?

Schetter: Nein, das tut sie nicht. Sie kann auch nicht funktionieren. Wenn man die afghanische Gesellschaft mal mit einer Uhr vergleicht, die man verstellen will, die man  weiterdrehen möchte in Richtung auf Modernität, dann darf man immer nur an einem Rädchen drehen. In Afghanistan wird derzeit an allen Rädchen gleichzeitig gedreht. Das ist falsch. Daran scheitert die Entwicklung dieses Landes auch immer wieder. Es wird entwickelt, ohne Prioritäten zu setzen, bzw. jede Organisation setzt ihre eigene Priorität.

EM: Sie sagten, weit über 1.200 Nichtregierungsorganisationen, NGOs, würden allein in Kabul arbeiten. Woher kommen sie, was machen sie und wer koordiniert sie – sind das lauter einzelne Rädchen?

Schetter: Im Prinzip ja. Diese Organisationen lassen sich ungern koordinieren. Sie haben alle ihre eigenen Vorstellungen. Der afghanische Staat unternimmt gegenwärtig erste Koordinierungsversuche, die aber alle noch in den Anfängen stecken. Zudem stehen sich diese Organisationen oft gegenseitig im Weg. Nicht selten sind Projekte kontraproduktiv. Dazu kommt, dass gute Staatsbeamte in die NGOs abwandern, weil diese das Zwanzigfache bezahlen.

EM: Sie sprechen von Projekten, könnten Sie mal ein Beispiel nennen, was man sich denn darunter vorzustellen hat und wie die Projekte dieser 1.200 NGOs sich im Wege stehen?

Schetter: Unter Projekten versteht man in der Tat höchst unterschiedliche Maßnahmen. Das beginnt mit ganz einfachen humanitären Maßnahmen, wie etwa der Nahrungsmittelverteilung. Aber es gibt eben auch sehr hintergründige Projekte, die versuchen, die Gesellschaftsstruktur zu verändern, Demokratie zu etablieren, indem sie beispielsweise den Aufbau von Parteien initiieren  etc. Das heißt, es wird alles gleichzeitig gemacht, was sich kontraproduktiv auswirkt: Sie können nicht zum einen Projekte durchführen, die lokale Strukturen stabilisieren sollen und gleichzeitig Projekte durchführen, die genau dies verändern wollen. Sie können nicht die Herzen der Afghanen gewinnen und ihnen gleichzeitig sagen, dass man sie so wie sie gerade sind, nicht haben will.

Ein Beispiel dafür, wie wenig eine Konzeption für den Wiederaufbau durchdacht war, ist der Aufbau der Armee. So scheiterte der Aufbau einer afghanischen Armee anfangs daran, dass die USA für ihren Kampf gegen die Taliban afghanische Milizen im Umfang von 50.000 Mann unter Waffen hatten. Die Amerikaner zahlten das Mehrfache dessen, was man bei der Armee verdienen konnte. Natürlich wollte kaum jemand zur Armee.

Getreidelieferungen für die Bevölkerung führen zu Mohnanbau auf den Feldern

EM: Gibt es weitere solcher Beispiele?

Schetter: Ja, in Hülle und Fülle. Zum Beispiel, dass verschiedene Hilfsorganisationen  unmittelbar nach dem Einmarsch Getreide auf dem Weltmarkt einkauften und es der Not leidenden  Bevölkerung Afghanistans zur Verfügung stellte. Mit dem Erfolg, dass die Bauern sagten, ich brauche jetzt keinen Weizen mehr anzubauen, also pflanze ich Schlafmohn auf meinen Äckern an, das bringt ohnehin das Mehrfache ein. Auch die Demokratisierungsbemühungen führen nicht zu dem, was als Ziel vorgegeben wird, nämlich die Stabilisierung des Landes. Das weiß man schon aus anderen Regionen der Welt, dass durch Demokratisierung etablierte Strukturen verändert werden und es damit zumindest vorübergehend zu einer Destabilisierung kommt. Das wird viel zu wenig bedacht.

EM: Die Vereinten Nationen sollen 700 Mitarbeiter im Land haben – was machen diese Leute?

Schetter: Die gehören auch einer der Parallelstrukturen an, die sich in Afghanistan entwickelt haben. Nehmen wir Kundus, dort finden Sie den Bürgermeister und den Gouverneur als staatliche Vertreter. Daneben die so genannten Provincial Reconstruction Teams, die mittlerweile in nahezu jeder Provinz zu finden sind und über eine eigene Infrastruktur verfügen. Zudem kommen noch unzählige humanitäre und Entwicklungsorganisationen. Und dann gibt es auch noch die Vereinten Nationen, die mit ihren Büros in allen größeren Städten sitzen, mit ihrem eigenen Stab, einer eigenen Logistik und mit eigenen Informationsnetzwerken. Die VN bilden mittlerweile einen Schattenstaat in Afghanistan. Sie sind mit all ihren  großen Unterorganisationen im Land vertreten, ob das die FAO ist, die Organisation für Ernährung und Landwirtschaft oder das Kinderhilfswerk Unicef. Die wichtigsten Flugverbindungen  in Afghanistan werden von den Vereinten Nationen bedient. Wenn Sie als Angestellter des BMZ auf dem Luftweg nach Afghanistan kommen wollen, ist das nur mit den Maschinen der VN erlaubt.

Afghanistan – ein verdecktes Protektorat der USA und der VN

EM: Und wie ist es innerhalb Afghanistans?

Schetter: Die afghanische Fluggesellschaft Ariana Afghan Airlines fliegt nur Kabul und Herat an. Die Vereinten Nationen unterhalten dagegen im Land ein sehr dichtes Flugnetz. Im Prinzip werden große Teile der Infrastruktur von den Vereinten Nationen gestellt. Sicherheit – sofern man davon reden kann – von den USA. Afghanistan ist nüchtern betrachtet ein verdecktes Protektorat der Vereinten Nationen und der USA.

EM: Sie haben Afghanistan ja auch als das Umerziehungslager des Westens bezeichnet.

Schetter: Das war eine bewusste Provokation, um zu einer Diskussion über die meiner Meinung nach unhaltbare Situation in Afghanistan aufzurufen. Aber es stimmt natürlich. Denn wenn Sie einen Zaun um das Land ziehen, haben Sie genau das: ein Umerziehungslager; andere würden sagen eine große Schule. Als ich im März das letzte Mal in Afghanistan war, nahm ich bei meiner Abreise den Eindruck mit, dass ich ein Land verlasse, in dem versucht wird, Afghanen an allen Ecken und Enden umzuerziehen.

EM: Welche Art von Hilfe bräuchte das Land – was kann man besser machen?

Schetter: Die Entwicklung muss langfristig angelegt werden, auf dreißig oder vierzig Jahre, nicht wie die Weltbank meint auf ein Jahrzehnt. Das Wichtigste ist zunächst, das Land zu stabilisieren, auch wenn man dabei mit Kräften zusammenarbeiten muss, die einem nicht gefallen, wie zum Beispiel den so genannten Feldkommandanten oder Warlords. Strukturen für eine Demokratie aufzubauen, braucht einen langen Atem. Und es ist unerlässlich, den Dialog mit den Afghanen zu suchen, und nicht mit westlichen Konzepten anzurücken, um sie auf Biegen und Brechen durchzudrücken. Wenn wir es mit der Demokratie ernst meinen, dann sollten wir diesen langen Atem haben und demokratische Strukturen sehr behutsam umsetzen.

„Das Misstrauen wächst.“

EM: In welchem Ansehen stehen die VN und die vielen NGOs, die im Lande tätig sind, denn bei den Afghanen?

Schetter: Das Misstrauen wächst. Immer weniger wird zwischen zivilen und militärischen Akteuren unterschieden. Zudem werfen sowohl afghanische Politiker als auch die Bevölkerung v. a. den afghanischen Entwicklungsorganisationen Ineffizienz und Selbstbereicherung vor.

EM: Und was wird nun aus Afghanistan, aus seiner einst so stolzen Hauptstadt, die nun der Sitz von Tausenden fremden Organisationen ist?

Schetter: In der Vergangenheit haben sich die meisten Prognosen über die Zukunft Afghanistans als falsch erwiesen. Tatsache ist, dass dem Land aufgrund seiner Lage und seiner direkten Nachbarschaft zur Atommacht Pakistan und zum Iran eine große geostrategische Bedeutung beigemessen wird. Das wird auch Teil seines künftigen Schicksals sein. Die Nachbarschaft zu China, zu autoritären Staaten wie Usbekistan, zu Zentralasien, die Erdgasfrage, die großen Gasvorkommen beim Nachbarn Turkmenistan, das alles wird die Zukunft dieses Landes stark mitbestimmen.

EM: Was ist mit dem Stolz der Afghanen – werden sie es weiterhin ertragen, Objekt von ausländischen Interessen zu sein?

Schetter: Es gibt einen Mythos der Freiheitsliebe in diesem Volk. Afghanistan ist nie kolonisiert, nie beherrscht worden. Dieser Freiheitsmythos ist oft das einzige, was den Afghanen bleibt. Wenn er sich gegen die Interventionisten richtet, wird es gefährlich für die amerikanischen Soldaten und auch für die Schutztruppe der ISAF. Dann kann die Situation sehr schnell kippen, wie man bei dem Aufruhr Ende Mai in Kabul sehen konnte.

„Die Taliban sind von den USA unterschätzt worden.“

EM: Deutsche Militärs prophezeien, die Taliban kehren zurück. Afghanistan, sagen sie, steht auf der Kippe. Hat der Westen, haben die USA die Schlacht um Kabul schon verloren?

Schetter: Die Taliban sind von den USA unterschätzt worden. Bis vor knapp einem Jahr hieß bei US-Militärs, die Taliban sind erledigt. Vor allem wurde der Zulauf unterschätzt, den sie wieder erhalten. Dass er so groß ist, hat Gründe, die von der Besatzung verschuldet sind, von den USA und vom Vorgehen des Westens insgesamt. Kabul wird von der Bevölkerung im Land als ein Sündenpfuhl wahrgenommen. Für diese enttäuschten Menschen stellen die Taliban den Gegenpol dar. Auch einflussreiche Kräfte in Afghanistan, die eine Intervention der USA seinerzeit überhaupt erst möglich gemacht hatten, sehen sich heute in ihren Wertvorstellungen mit den Taliban eher in einem Boot als mit der internationalen Gemeinschaft. Da bahnt sich in der Tat eine gefährliche Situation an. Die Taliban bekommen nicht nur laufend Verstärkung, sie haben auch ihre Taktik geändert. So findet ein Wissenstransfer aus dem Irak statt. Die Taliban erreichen mit sehr wenig Aufwand schon jetzt sehr viel.

EM: Was heißt das?

Schetter: Das heißt, dass es jetzt erstmals erfolgreiche Selbstmordattentate in Afghanistan gibt. Bis vor zwei Jahren sind sie noch kläglich gescheitert. Die Taliban wussten gar nicht, wie man sie richtig durchführt. Man hat gelernt. Die islamistischen Kämpfer wissen wie man durch die gezielte Ermordung bestimmter Leute und durch nie aufhörende Attentate das Land destabilisiert. Da sind sie im Süden bereits sehr erfolgreich, und es besteht die große Gefahr, dass diese Destabilisierung auch in den Norden getragen wird.

„Afghanistan steht auf der Kippe.“

EM: Also ist auch Ihre Einschätzung die, dass Afghanistan auf der Kippe steht?

Schetter: Ja, das ist auch meine Einschätzung. Afghanistan steht auf der Kippe, aber nicht allein wegen des Militäreinsatzes, sondern wegen des gesamten Verhaltens des Westens, über das wir ja ausführlich gesprochen haben. Dazu kommt noch ein sehr wichtiger Punkt, nämlich das Auftreten der internationalen Gemeinschaft und ihrer Mitarbeiter im Lande. Dazu zählt, dass die NGOs in weißen Landrovern durch die Gegend fahren und in den schönsten Vierteln von Kabul wohnen. Dazu gehört auch, dass Kabul zu einer Boomtown geworden ist, wie sie sich Mutter Courage nicht hätte vorstellen können. In jeder Ecke Kabuls findet man internationale Restaurants, in denen der Alkohol in Strömen fließt und in denen laute westliche Musik gespielt wird. Es sind ja meistens Leute, die keine Familie haben, die den Tag totschlagen. Dazu kommt, dass es schwer ist, gute Leute für das heiße Pflaster Afghanistan zu bekommen. Was sich in den Restaurants abspielt, soll natürlich nicht bekannt werden. Die meisten Etablissements versuchen sich abzuschotten. Aber es sickert letztlich doch alles durch. Bei den Unruhen kürzlich wurden deshalb nicht nur Büros abgebrannt, sondern erstmals auch ein Restaurant. In ihm hatten Chinesen ein Bordell betrieben. Und es ist nicht das einzige in Kabul. Für einen gläubigen Muslim ist dies unerträglich.

Verlogen: Den Heroinanbau bekämpfen und sich dem Alkohol hingeben

EM: Also sind es diese Verstöße gegen Sitten und Wertvorstellungen der Afghanen, die den Taliban vor allem in die Hände spielen?

Schetter: Genau so ist es. Man betrachtet es als verlogen, dass die westlichen Experten auf der einen Seite den Heroinanbau bekämpfen wollen, und sich andererseits selbst dem Alkohol hingeben. Man sieht die großen Autos, die aufwendige Beratungstätigkeit für diese und jene Kreise und Organisation. Afghanen kann man kaum klar machen, dass der aufwendige Aufbau einer Infrastruktur notwendig ist, während man dem Leid an allen Ecken und Enden begegnet. Damit sind die Afghanen im Alltag ständig konfrontiert. Sie wissen, sobald irgendetwas passiert, ziehen die NGOs ihre Leute ab und sind schnell über alle Berge Afghanistans verschwunden. Aber die Afghanen müssen natürlich bleiben und möglicherweise ausbaden, was die internationalen Organisationen angerichtet haben. Da braut sich etwas zusammen. Es ist nicht übertrieben zu sagen, dieses Land könnte für den Wiederaufbau verloren sein, es steht wirklich bereits auf der Kippe.

EM: Herr Dr. Schetter, haben Sie herzlichen Dank für dieses Gespräch.

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