Muslime und Buddhisten nahmen an der Völkerschlacht bei Leipzig teilVÖLKERSCHLACHT

„Hier ruht ein Sohn der großen Familie der Turkvölker Eurasiens“

Muslime und Buddhisten nahmen an der Völkerschlacht bei Leipzig teil

Von März bis Mai arbeiteten Schüler, Akademiker und Heimatforscher Sachsens, Deutschlands, Litauens, Tatarstans und der Ukraine an Themen wie Interkulturalität, Muslime der Napoleonzeit, Integration und Migration. Anlass war die wenig beachtete und erforschte Teilnahme von Muslimen und Buddhisten an der Völkerschlacht bei Leipzig vor 200 Jahren.

Von Mieste Hotopp-Riecke

Tatarenpulk der Preußischen Armee (Ende 18./Anfang 19. Jh.) Aus: Knötel, Richard: Handbuch der Uniformenkunde: Die militärische Tracht in ihrer Entwicklung bis zur Gegenwart. Hamburg, 1937.
Tatarenpulk der Preußischen Armee (Ende 18./Anfang 19. Jh.) Aus: Knötel, Richard: Handbuch der Uniformenkunde: Die militärische Tracht in ihrer Entwicklung bis zur Gegenwart. Hamburg, 1937.

Egal, ob Tatare aus Polen-Litauen, von der Wolga, Baschkire oder Krimtatar: hier ruht ein Landsmann, ein Sohn der großen türkischen Völkerfamilie Eurasiens“, sagte Ali Khamsin, Außenbevollmächtigter des Nationalrates der Krimtataren „Medschlis“ nach einem Gebet am Grab von „Jussuf, dem Sohn Mustaphas“ bei Kleinbeucha in Sachsen. Die nunmehr 200jährige Grabstätte (EM 02-2012) war nicht Hauptaugenmerk jedoch Anlass für eine internationale Tagung und einen dreimonatigen Jugendworkshop in Leipzig, Borna und Umgebung.

In einer Geschichts- und Medienwerkstatt namens „Pathfinder“, gefördert durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, und auf dem gleichnamigen  Symposium „Für wen kämpfte Jussuf?“ wurden Herkunftsgeschichte und Todesumstände des tatarischen Offiziers „Jussuf, Sohn des Mustafa“ zum Anlass genommen unterschiedliche Facetten im Kontext Islam, Integration, Geschichte und Pädagogik zu beleuchten. Fest steht, dass Jussuf vor 200 Jahren zwischen Leipzig und Bad Lausick bei Kleinbeucha – angeblich mit Pferd - bestattet und das Grab seitdem von Muslimen – Angehörigen „aus dem fernen Russland“ – und sächsischen Nachbarn gepflegt wurde.

Alte Informationstafel zum Tatarengrab Kleinbeucha (Anfang 20. Jh.) 
Alte Informationstafel zum Tatarengrab Kleinbeucha (Anfang 20. Jh.)  
Foto: Helmut Hentschel / Museum der Stadt Borna

Sie fochten auf allen Seiten

Nun haben sich jugendliche Migranten aus Marokko, Tatarstan, Irak, Polen und Westsahara zusammen mit deutschen Jugendlichen mit tatarisch-deutscher Geschichte, aber auch mit der eigenen Migrationsgeschichte und Kultur (Speisen, Kleidung, Sprache) des jeweils anderen beschäftigt. Ein massenhaftes Zusammentreffen von Vertretern islamischer und christlicher Kulturen aus Preußen, Schlesien, Böhmen und Sachsen stellte die Zeit der Napoleonkriege dar. Diese gipfelten in der Leipziger Völkerschlacht, die mittlerweile 200 Jahre zurück liegt. Das monumentale Völkerschlachtdenkmal in Leipzig erinnert daran. Doch es gibt auch andere weniger monumentale Zeugnisse, die an die damaligen Schlachten erinnern. Schlachten, in denen auf allen Seiten der Kombattanten muslimische Tataren fochten. Aber auch Baschkiren, Kirgisen, Kumüken sowie die turksprachigen christlich-orthodoxen Tschuwaschen und buddhistische Kalmüken kämpften neben Preußen, Polen, Franzosen und Russen gegen die jeweils feindlichen Heere.

In Kleinbeucha bei Leipzig zeugt die Inschrift „Jussuf, der Sohn des Mustafa“ auf dem sogenannten Tatarengrab von dieser wenig beachteten Facette der Geschichte.  Umso stärker war der Widerhall nun nach der Initiierung von Konferenz und Jugendworkshop: Grüße kamen vom Ausländerbeauftragten des Landes Sachsen, vom Weltkongress der Tataren in Kasan, vom Kulturministerium der Republik Tatarstan oder dem Weltkongress der Krimtataren aus Simferopol; Bundestagsabgeordnete wie Katharina Landgraf (CDU) kamen oder sandten Grüße, wie der Linkspartei-Vize Dr. Axel Troost. Der renommierte Klaus-Schwarz-Verlag  aus Berlin wird erstmals für ein überregionales Fachpublikum beide Veranstaltungen dokumentieren, angereichert mit Illustrationen der Jugendlichen und von Suzan Emine-Kaube, tatarischstämmige Malerin und Dichterin aus Pinneberg.

Der Autor Mieste Hotopp-Rieke auf der Konferenz „Für wen kämpfte Jussuf“ mit dem „ATLAS TARTARICA“. Diese fundamentale Enzyklopädie beinhaltet das ‚nationale Gedächtnis‘ der Wolga-Tataren, inklusive einiger Seiten zu den Napoleonkriegen und Tatarengräbern in Deutschland, mittlerweile ein Teil der nationalen Erinnerungslandschaft der Tataren.
Der  Autor Mieste Hotopp-Rieke auf der Konferenz „Für wen kämpfte Jussuf“ mit dem „ATLAS TARTARICA“. Diese fundamentale Enzyklopädie beinhaltet das ‚nationale Gedächtnis‘ der Wolga-Tataren, inklusive einiger Seiten zu den Napoleonkriegen und Tatarengräbern in Deutschland, mittlerweile ein Teil der nationalen Erinnerungslandschaft der Tataren.

Jussuf, der Sohn Mustafas kam aus Polen-Litauen

Wer aber war nun dieser Sohn des Mustafa, Yusuf. Dies herauszufinden, war Anlass dieses interdisziplinäre Projekt mit Wissenschaftlern, engagierten sächsischen Nachbarn, Schülern und Schülerinnen, die in und um Leipzig leben, aber ganz verschiedene Herkunftsländer und kulturelle Hintergründe haben. Das gemeinsame Symposium war der  Höhepunkt der dreimonatigen Veranstaltung  auf dem versucht wurde, die Frage nach der Identität des muslimischen Offiziers aus dem Osten zu klären. Und die Zusammenarbeit hat sich gelohnt: Als Zwischenergebnis steht fest, dass Jussuf ein Lipka-Tatare aus dem Baltikum gewesen sein muss. Dafür sprächen unter anderem Indizien wie das Begräbnisritual oder die Verwendung des polnischen „roku“ (für Jahr). Eine internationale Experten-Kommission soll nun die Einheit und den ursprünglichen Stationierungsort derselben eruieren um sich dann Themen zu widmen, die ebenfalls in Sachsen diskutiert wurden: Bilaterale Bildungs- und Forschungsprojekte, vernetzt von Mittelasien, der Wolga-Ural-Region, dem Kaukasus und der Nordschwarzmeer-Region bis zum Baltikum sollen verbunden werden mit Regionalgeschichte und Geschichte des Islam in Europa.

Denn das vom Institut für Caucasica-, Tatarica- und Turkestan Studien (ICATAT) und dem Heimatverein Bornaer Land e.V. initiierte Symposium hatte- unterstützt vom Leipziger ZEOK  - nicht nur zum Ziel, die näheren Umstände seines Todes und der damaligen Geschehnisse zu klären. Vielmehr war der 200. Todestag von Jussuf lediglich Anlass sich generell mit deutsch-muslimischen Interkulturkontakten in Vergangenheit und Gegenwart zu beschäftigen. Die historische Rolle der tausenden Tataren und Baschkiren, die auf den Seiten Frankreichs, Russlands, Preußens und Polens in den Napoleonkriegen kämpften, waren so nicht die alleinigen Themen der Vorträge, sondern auch Erinnerungskultur der Tataren, die Rolle der Krimtataren als letzter europäisch-islamischer Großmacht oder xenophobe Tatarenstereotypen in Schulbüchern wurden diskutiert.

Al-Fatiha-Gebet in Sachsens Wäldern

Auch für die Bevölkerung von Kleinbeucha, die zum Entspannen oder zum Rendezvous seit Jahrzehnten „zum Jussuf gehen“, war es etwas Besonderes, als nach 200 Jahren internationale Wissenschaftler, lokale Heimatforscher und Vertreter der polnisch- litauischen Tataren, der Wolga-Tataren  und der Krimtataren an diesem kleinen aber besonderen Grab bei Leipzig stehen und gemeinsam ein Toten-Gebet sprechen. Dies war für mich einer der emotionalen Höhepunkte des Wochenendes, so der Außenbevollmächtigte Ali Khamsin vom Nationalrat der Krimtataren aus Bachtschisaray. Bekir Ganiyev, Mitglied der krimtatarischen Nationalversammlung Qurultay, hielt die Andacht am Grab auf Arabisch und Krimtatarisch, umringt von den engagierten Bürgern Kleinbeuchas und Mitgliedern des Festvereins Beucha. Dessen Mitglieder – Steinmetze, Gastwirte, Gartenbauer und Schreiner – sorgten zusammen mit dem Heimatverein des Bornaer Landes e.V. in den letzten Jahren für die umfassende Restaurierung des Grabes. Frau Rische aus Beucha, Gastwirtin in zweiter Generation, bewirtete schon baschkirische Fernsehteams und tatarische Wissenschaftler. „Als wir nach der Wende anfingen, uns um das Grab zu kümmern, ahnten wir nicht welche internationalen Kreise dies ziehen würde“ schmunzelt sie in die Runde.
Die in Marketender-Tracht gekleidete Frau vom „Königlich-Sächsischen Chevauleger-Regiment Prinz Clement“  legte nach dem zweisprachigen Gebet Blumen nieder am Grab, das so lange schon gepflegt, erneuert und in Erinnerung gehalten wird. Irakische und tatarische Mädchen nutzen die Gelegenheit und suchen das Gespräch mit der Frau, die aus heutiger Sicht ungewöhnliche Kleidung trägt, die sie nun schon den zweiten Tag beobachteten. Sie tuschelten zuvor und glaubten nicht an die Erklärung von Dr. Theilig, der sagte, dass dies nicht die Alltagskleidung der Frau sei. „Tragen sie das immer“, war dann auch die erste Frage an die Frau in der Tracht aus längst vergangenen Zeiten. „Mich interessiert, wie die Leute lebten, was sie kochten, arbeiteten und eben wie sie sich anzogen. Diese Uniform sei etwas Besonderes“, erklärte die Frau, die im normalen Leben als Masseurin arbeitet und gestressten Menschen Momente der Entspannung schenkt.

Diese Uniform zeichnete sie als Marketenderin aus und berechtigte die damaligen Trägerinnen sich im Kriegslager aufzuhalten. Denn die Hunderttausenden einfachen Soldaten mussten verpflegt werden.   Sie hatten durch Händlerinnen wie ich sie heute anhand der Tracht darstelle, die Möglichkeit sich Nahrung zu kaufen. „Dann laufen sie nicht immer so rum“, fragt Nika, Kind griechisch polnischer Eltern. Nein im normalen Leben trägt sie übliche Kleidung.  Auch über die orientalische Kleidung der anderen Muslime in den damaligen Armeen wurde angeregt diskutiert, zum Beispiel über Rüstäm, den kaukasisch-ägyptischen Leibmameluken Napoleons.

Pathfinder-Workshop: Marketenderin Gertraud Matthes vom Königlich Sächsischen Chevauleger-Regiment „Prinz Clemens“ e.V. mit Journalistin Anja Hotopp und kurdisch-irakischer Workshopteilnehmerin.
Pathfinder-Workshop: Marketenderin Gertraud Matthes vom Königlich Sächsischen Chevauleger-Regiment „Prinz Clemens“ e.V. mit Journalistin Anja Hotopp und kurdisch-irakischer Workshopteilnehmerin.

Lebensgeschichten von Tatarstan bis Westsahara

Die Jugendlichen, die in Leipzig, Kitzscher und Borna zur Schule gehen, studieren oder arbeiten, beobachten, reflektieren und dokumentierten die Tagung und die Exkursion. Sie sind moderne Pfadfinder auf historischen Wegen, so schmunzelnd Dr. Marat Gibatdinov vom Geschichtslehrerverband Tatarstans: „Fällt ihnen etwas auf?“, fragte er die umstehenden Jugendlichen. Julia, 16 Jahre: „Das hatten wir im Geschichtsunterricht so gar nicht. Das war ja eine bunte Schar von Kämpfern mit unterschiedlichen Religionen, Herkunftsländern, Sitten und Bräuchen.“  Dies zu verdeutlichen sei ebenfalls ein Ziel der Veranstaltung, so Prof. Dr. Jakubauskas aus Vilnius, Historiker und Vorsitzender der islamisch-tatarischen Gemeinden Litauens.

„Jüdischgläubige Karaimen, kalmükische Buddhisten, schamanistische Jakuten, orthodox christliche Tschuwaschen und andere Christen aus aller Herren Länder fochten Seite an Seite und aber gegeneinander, es war ein unglaubliches bisher nicht dagewesenes Treffen unter Vorzeichen von Krieg, Gewalt und Elend. Ob ägyptische Mamluken aus dem Kaukasus oder preußische Tataren aus dem Baltikum, auf jeder Seite kämpften Muslime – weniger um Ruhm und Ehre, denn um Existenz und Sold“, erklärt er.  Der ruhige große Mann berichtet den Mädchen und Jungs von seinen Erfahrungen auf der Pilgerreise nach Mekka und von den Begräbnisritualen in seiner Heimat: Auch bei den Tataren Polens und Litauens werde Wasser verspritzt und an die Kinder Almosen vergeben, genau wie bei Jussuf hier in Sachsen vor 200 Jahren.

Interkulturelle Geschichte in einen regionalen Kontext zu setzen, dem sich das ICATAT Berlin-Magdeburg verschrieben habe, dafür sei das Tatarengrab von Kleinbeucha wie geschaffen, so Dr. Marat Gibatdinov. Als Historiker an der Akademie der Wissenschaften Tatarstans kenne er das Grab schon sehr lange und thematisiere es in seiner Heimat. Andere, wie etwa die krimtatarischen Gäste, waren erstmals hier. Die Erhaltung des Grabes habe auf jeden Fall gezeigt, dass ein Miteinander der Kulturen, Akzeptanz, Toleranz auch schon vor zweihundert Jahren möglich und normal war. Gerade Tatarstan und die Republik Krim zeigten heute, dass ein europäischer Islam ohne große Aufgeregtheit möglich sei, so Ali Khamsin nach der Al-Fatiha am Grabe Yusufs, des Sohnes von Mustafa.

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