26.04.2014

Interview: „Es ist das erste Mal seit 1991, dass Russland wieder bei irgendetwas Erfolg hat“

Die Stimmung in der russischen Bevölkerung wird von einer tiefen Befriedigung darüber gespeist, dass der russische Staat im Ukraine-Konflikt den Anschluss der Krim durchgesetzt hat. Das gilt als erster Erfolg seit Jahrzehnten. Aber Moskau binde sich damit und mit den Forderungen der Russen in den ukrainischen Ostgebieten auch schweren Ballast ans Bein. Dadurch könne die Stimmung schnell kippen. Wladimir Putin jedoch schade dies nicht. Er spiele längst eine Rolle ähnlich der der britischen Queen, sei nationale Führungsfigur, Symbol des Zusammenhalts der Russen, aber nicht mehr der Leiter der Politik. Das sagt Boris Kagarlitzki, Direktor des „Instituts für Erforschung der Globalisierung und sozialen Bewegungen“ in Moskau, in einem EM-Interview mit Kai Ehlers.

Eurasisches Magazin: Wie beurteilen Sie die Situation in der Ukraine?

Boris Kagarlitzki: Ich finde die Situation in der Ukraine wirklich aufregend. Zum ersten Mal in diesem Jahrhundert, sagen wir während der letzten sechzig, fünfzig Jahre, gibt es eine Revolution der arbeitenden Klasse, die allerdings mit der äußersten Rechten konfrontiert ist.

EM: Was ist an den Ukrainischen Ereignissen so besonders? Warum reden wir nicht genauso von Syrien, von Mali, Thailand oder einem der anderen vielen Krisenherde? Worin besteht der Unterschied zur arabischen Revolution?

Kagarlitzki: Was in Arabien stattfand, war so etwas wie eine allgemeine Volkserhebung. In der Ukraine erleben wir erstmalig wieder eine richtige Arbeitererhebung. Das bedeutet nicht unbedingt, dass sie lange überleben wird; entweder wird sie niedergeschlagen oder in irgendeiner Weise korrumpiert. Aber es ist trotzdem eine gewaltige Erschütterung, selbst wenn sie nur kurz anhält. Die Ereignisse korrigieren auch einige meiner eigenen Vorstellungen. Ich habe in meinem letzten Buch „Neoliberalismus und Globalisierung“ geschrieben, dass die arbeitende Klasse der alten Industriestaaten schwächer wird, geschichtlich gesehen. Also dass die, die in den aufstrebenden Ländern entsteht,  nicht stark genug ist, sich zu erheben, dass dagegen aber die Mittelklasse zu revoltieren beginnt, dass wir also konfrontiert sind mit einer Situation, in der die arbeitende Klasse nicht die führende Kraft ist, sondern nur als Teil eines Blocks anderer Kräfte wirken kann. Was wir in der Ukraine sehen, scheint eine Ausnahme zu sein. Das tragende Element des Protestes ist die arbeitende Bevölkerung. Natürlich gibt es auch bürgerliche und kleinbürgerliche Teilnehmer. Auch Geschäftsleute sind an den Protesten beteiligt, aber der Kern der arbeitenden Bevölkerung tritt doch sehr stark hervor.

EM: Sprechen wir vom Maidan: Es wird viel über den Charakter der Bewegung gerätselt. Einige sehen ihre Wurzel tatsächlich im sozialen Protest, andere verurteilen den ganzen Maidan als faschistisch. Wie beurteilen Sie diese Bewegung?

Kagarlitzki: Ich denke, es war eine nationale Rebellion von Menschen, deren Zorn sich gegen die Korruption richtet. Es war ein Protest gegen eine korrupte Demokratie, die übernommen wurde von der äußersten Rechten.

EM: Was heißt übernommen?

Kagarlitzki: Die Mehrheit der Bevölkerung war demoralisiert. Die Bewegung gegen eine korrupte Demokratie wurde durch die Rechten zur Bewegung gegen Demokratie überhaupt. Das ist so wie in Italien in den Zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts. Da gab es eine sehr ähnliche Situation. Als Mussolini  an die Macht kam, war die italienische Demokratie korrupt, unpopulär und diskreditiert. Und die Bewegung gegen diese korrupte liberale Situation war nicht von demokratischen, sondern von national-patriotischen Kräften dominiert. Das ist so eine typische Situation.  

EM: Da gibt es aber doch einen Unterschied - die heutige Situation der Ukraine hat sich unter dem allgemein herrschenden nach-sowjetischen Trauma entwickelt.

Kagarlitzki: Da stimme ich zu. Das nach-sowjetische Trauma verschiebt die Proteste ideologisch nach rechts. Die Linke, ihre Sprache, ihre Symbole, ihre Ziele, ihre Geschichte – das ist alles diskreditiert, nicht diskreditiert bei den einfachen Leuten allerdings, das ist der Punkt. Das kann man jetzt im Süd-Osten der Ukraine sehen. Es ist diskreditiert in der Mittelklasse, diskreditiert bei den Intellektuellen. Darin liegt ein enormer Abstand zwischen dem einfachen Volk und den Intellektuellen, die alles, was gewesen ist als totalitär ablehnen, oder den Liberalen, die sagen, ja, das war vielleicht damals alles ganz o.k., aber jetzt ist das passé, man muss nicht zurückgehen usw.

EM: Das nach-sowjetische Trauma ist aber auch noch untrennbar verbunden mit antirussischen Emotionen. Das kompliziert die Situation.

Kagarlitzki: Ja, das ist so. Es gibt ein ganzes Bündel von Gründen, warum die Maidanproteste derart von den Rechten übernommen werden konnten. Der Hauptgrund ist die marginalisierte Bevölkerung im Westen der Ukraine. Das war die Basis für die Entwicklung der äußersten Rechten. Dazu kommt das Nicht-Vorhandensein einer organisierten Linken. So war die Rechte die einzige Kraft, die die jungen marginalisierten Menschen anziehen konnte. Auf der anderen Seite gibt es die Mittelschichten der Stadt Kiew, die vollkommen abhängig sind von der Verteilung der Ressourcen des Landes, die im Kern aus der Ausbeutung der arbeitenden Bevölkerung in Süd-Ost stammen. Kiew produziert eigentlich nichts, was über Serviceleistungen hinausgeht. Das sind die Gründe, warum die Proteste in Kiew von Anfang an sehr verwirrt waren. Sie waren von Anfang an sehr abgetrennt von der arbeitenden Bevölkerung des Süd-Ostens. Es waren nur kleine Teile der politisch aktiven Gesellschaft, die auf den Maidan kamen. Das sind vielleicht 200.000 oder 300.000 Menschen, verstreut über das ganze Land. Sie sind ehrlich davon überzeugt, dass sie die Gesellschaft repräsentieren. Der Rest hat nichts zu sagen, meinen sie, und hat auch kein Recht etwas zu sagen, spielt keine Rolle und wird nie eine Rolle spielen. Dies sind die Menschen, die durch die Vorgänge politisiert wurden. Das sind vielleicht ein, möglicherweise drei oder auch fünf Prozent der Bevölkerung, aber sie stellen eben nur einen Bruchteil der Gesellschaft dar. - Übrigens hat man ja dieselbe Situation in Russland.

„Russland will keine weiteren Ballastregionen durchschleppen“     

EM: Heißt das, die Forderungen,  die anfänglich auf dem Maidan gestellt wurden, unterschieden sich von  denen, die jetzt in den östlichen und südlichen Protesten laut werden?  

Kagarlitzki: Die Bewegung des Maidan hatte vor allem eine Forderung: Weg mit Janukowytsch und seinen Leuten. Das war vollkommen richtig. Es ging darum eine korrupte Regierung loszuwerden. Das Problem besteht darin, dass man statt einer Regierung der Diebe nun eine der Erpresser bekommen hat. Das alte Übel ist einfach durch ein neues, noch größeres Übel ausgetauscht worden. Das geschieht, wenn die Forderungen nur negativ sind, wo es nur darum geht jemanden loszuwerden. Was dabei rauskommt ist, dass Du die Rechten  bekommst.  Aber man muss klar sagen:  Es ist nicht wahr, dass jetzt die Rechten allein an der Macht sind. Die Rechten sind ein Teil der neuen Macht.  Der Punkt ist, dass sie einen Deal mit den Faschisten gemacht haben. Und die Sache ist, dass die Faschisten durch die ganzen Vorgänge zurzeit stärker werden.

Bei den Videos aus Donezk sieht man, wofür die Menschen dort eintreten.  Sie verlangen eine Trennung von Staat und Geschäften. Sie verlangen die Verstaatlichung der Kohlenminen.  Sie protestieren gegen die Nicht-Auszahlung der Löhne, insgesamt gegen das ganze IWF-Paket, also das Ansteigen der Preise, die Monetarisierung der kommunalen Strukturen etc.  Wenn das aber trotz ihrer Forderungen alles so kommen sollte, sagen sie, dann müssen wir uns Russland anschließen, dann haben wir keine andere Wahl. 

Bemerkenswert ist, dass die Russen das überhaupt nicht wollen; Moskau kriegt längst Befürchtungen. Man will keine weiteren Ballastregionen, die man durchschleppen muss.  Mit der  Krim war das ganz anders. Da war alles unter Kontrolle der lokalen Elite. Und klar hat die örtliche Bevölkerung diese Elite unterstützt. Da gab es keine Rebellion von unten. Da gab es keine Mobilisierung der Massen, keine Partizipationsbewegungen.  Auf der Krim gingen die Leute einfach auf die Straße. Da sahen sie die so genannten „Grünen Männer“ zusammen mit den örtlichen Polizeikräften. Da ist nichts umgestürzt worden. Da war hinterher die gleiche Verwaltungsmacht wie vorher. Das war ein einfacher Austausch der Eliten. Das war´s. Es sieht so aus, als sei Moskau von Anfang an involviert gewesen. Aber das geschah nur, weil man auf die ukrainischen Behörden Druck ausüben wollte, um  so eine Art Deal zustande zu bekommen, der die Ukrainischen Behörden etwas beruhigen könnte.

EM: Wie beurteilen Sie die russischen Interventionen in dieser Angelegenheit der Krim?

Kagarlitzki: Ich denke, Moskau hat sich so etwas vorgestellt wie Zypern oder vielleicht auch Kosovo. Sie wollten so etwas wie ein Protektorat unter der Kontrolle von Moskau, das aber zu gleicher Zeit formal unabhängig sein sollte. Aber das hat den lokalen Politikern der Krim nicht ausgereicht. Sie nahmen die Dinge in ihre eigenen Hände und drückten so auf die Geschwindigkeit, so dass Moskau gar keine Zeit, keine Chance mehr hatte zu intervenieren. Moskau musste einfach grundsätzlich akzeptieren, dass  die Krim sich Russland anschließen wollte. Man musste die Krim als ein neues Mitglied der Föderation anerkennen. Jetzt muss Russland eine Menge Geld dafür bezahlen.

EM: Ging die Eile nicht von Moskau aus?

Kagarlitzki: Nein, nein, im Gegenteil, Moskau wurde da hineingezogen.
Das war von außen aber nicht zu erkennen. Alle Entscheidungen wurden vor Ort gefällt. Aber jetzt heißt es natürlich, dass alles von Moskau diktiert worden sei. Ganz gleich, was wirklich passiert, die Leute interpretieren die Dinge wie sie wollen. Ein paar Stunden, bevor die Krim erklärte, dass sie sich Russland anschließen wolle, betonten die Offiziellen in Moskau, dass die Krim ein Recht auf Unabhängigkeit habe, dass es darum gehe, dass die Krim diese Unabhängigkeit wahrnehmen könne. Man konnte es nicht oft genug sagen. Alle offiziellen Verlautbarungen betonten, dass die Krim unabhängig  werden sollte, dass man die Unabhängigkeit unterstützen werde usw. Ein paar Stunden später war klar: keine Unabhängigkeit, einfach nur Anschluss an Russland. Aber da konnte schon niemand mehr sagen, das geht nicht. Das war einfach unmöglich in dieser Situation.

„Die Elite auf der Krim wollte das russische Geld“

EM: Wieso das? Warum hat Russland die Krim übernommen, wenn es das eigentlich gar nicht wollte?  

Kagarlitzki: Die Krim ist ein guter Platz. Sie hat eine gute Tradition. Sie hat ein wunderbares Klima, eine große Geschichte. Sie hat eine Wirtschaft, die wachsen kann, wenn investiert wird. Aber der Punkt ist zweifellos: es ging zu schnell. Für die Elite war die Sache klar: Sie wollten das russische Geld. Sie wussten, dass der ukrainische Staat auseinanderbrechen würde. Sie  wussten,  dass da kein ukrainischer Staat sein würde: Die Ukrainische Währung bricht zusammen; die Ukrainische Wirtschaft fällt auseinander. Zugleich sieht Russland einigermaßen gut aus. Russland hat auch seine Probleme, aber von außen sieht alles viel besser aus. Es gingen ja riesige Mengen an Geld nach Sotchi. Das zeigte, dass die russische Elite, dass Moskau über große Mengen von Geld verfügt. Man wollte,  dass dieses Geld in die Krim fließt. Das ist ja auch eine sehr einfache und durchaus vernünftige Kalkulation.

EM: Wenn Putin erklärte, dass er die Bevölkerung der Krim schützen müsse, war das also nicht richtig?

Kagarlitzki: Putin hatte den Vorgang einfach zu akzeptieren. Da waren ja auch die russischen Geschäftsleute, die interessiert waren, große Gelder auf der Krim  zu investieren, aber nicht bereit, dabei Gelder an die Ukraine zu verlieren. So haben es russische Bürokraten vor der Krise im TV erklärt. Wir haben bisher Millionen von Dollars für die Krim an die ukrainische Regierung gezahlt. Davon ging der größte Teil bisher an die ukrainische Regierung. In Zukunft kann das Geld direkt an die Krim gehen. Jetzt können sie Billionen einsetzen. Aber zur gleichen Zeit werden die Russen den Platz nicht kontrollieren können, denn die örtlichen Eliten kontrollieren die Firmen.

„Die Krim ist der erste Fall seit 1991, dass Russland wieder bei irgendetwas Erfolg hat“

EM: Also hätte Russland gar keinen Nutzen von dieser Übernahme?

Kagarlitzki: Doch es gibt einen Nutzen, wenn man von dem moralischen Trauma spricht. Es ist da erste Mal seit 1991, dass Russland wieder bei irgendetwas Erfolg hat. Es handelt sich um eine Kompensation für dieses moralische Trauma. Viele Menschen sehen es so.

EM: Es ist also ein Signal?

Kagarlitzki: Ja, das ist genau der Grund, warum Putin sich nicht weigern konnte, diesen Platz zu übernehmen und vor dem Hintergrund haben die führenden Kräfte auf der Krim die Sache vorangetrieben.

EM: Alle Erklärungen über notwendige  Hilfe sind also nur Verlautbarungen? Tatsächlich liegen die Dinge ganz anders?

Kagarlitzki: Nun, paradoxerweise kamen die Dinge genau so, wie sie sie verlautbart wurden, nur doch eben nicht ganz so wie man es erwartet hatte…

EM: Wie verhält sich die russische Bevölkerung zu all dem? So weit zu erkennen, schäumt  eine gewaltige nationale Welle in Russland auf?

Kagarlitzki: Nicht so gewaltig, wie es von außen aussieht. Da gibt es keine große Verwirrung, da ist einfach Genugtuung. Die Öffentlichkeit ist sehr ruhig, kein Aufruhr, keine Hysterie. Hysterie gibt es im TV. Hysterie gibt es auch unter den liberalen Führern. Aber wenn du mit Leuten sprichst ist es ziemlich ruhig. Ich war an verschiedenen Orten in letzter Zeit, in Ufa, in Twer, an weiteren Orten. Ich sprach dort mit Studenten,  auch mit einigen Geschäftsleuten. Es ist überall gleich. Es besteht eine generelle Stimmung der ruhigen Befriedigung, nicht mehr als das. Die Leute sagen: o.k., es ist das erste Mal seit zwanzig Jahren, dass irgendetwas gut für uns läuft.  Das erste Mal seit so vielen Jahren erhält der russische Staat etwas, das wir akzeptieren. Aber klar, dieses Ergebnis kann sich natürlich h auch gegen die Regierung wenden. Zu gleicher Zeit sind die Menschen bereit zu sagen, die Krim kostet uns zu viel. Klar, wir wollen die Krim, aber warum müssen wir dafür so viel bezahlen? Wieso kann man  keinen anderen Weg finden, als das Geld von uns zu nehmen?  Wieso kriegen wir nicht dieselbe Unterstützung, die sie bekommen? Wir wollen dasselbe haben wie sie.  Also, die Leute von der Krim sind schuldig.  – Diese Entwicklung geht jetzt natürlich gegen die Regierung. Was in der östlichen und südlichen Ukraine passiert,  ist ja sehr wichtig, denn dort schaffen sie ein Modell des Widerstandes, das sehr leicht auch von russischen Regionen aufgegriffen werden kann. Das ist aber nur eine der Gefahren.

EM: Und die andere?

Kagarlitzki: Das Zweite, nicht ganz so wichtig: Wenn die russische Regierung jetzt nichts unternimmt, um die Bewegung im Süd-Osten zu unterstützen und wenn der Kiewer Staat die Bewegung unterdrückt, was er ja jetzt stark versucht, dann wird sich die öffentliche Stimmung heftig gegen die Regierung wenden. Dann wird sich so etwas wie eine nationale Bewegung gegen  die Regierung wenden. Wenn dagegen die Donezker Republik gewinnt, dann wird das für viele russische Regionen sehr attraktiv, attraktiver als ihre eigene Situation in Fragen der Demokratie und Selbstbestimmung. Das heißt, auch hier sind sie dann im Kreml in einer ernsthaften Schwierigkeit.

EM: Die russische Regierung spricht von Kiewer Faschisten. Wie ist es mit der Bevölkerung? Ist sie in der Lage den sozialen Charakter der Bewegung zu erkennen?

Kagarlitzki: Naja, tendenziell schon.  Sehen Sie mal auf das russische Facebook, Vkontakte.ru. Da werden in zunehmendem Maße soziale Forderungen diskutiert. Auch Ukrainer, die sich auf diesen Seiten äußern, schreiben über die sozialen Forderungen der Bewegung. Übrigens auch in Russland; da gibt es auch Änderungen: Wir sind nicht mehr marginalisiert, man fragt nach mir in der „Komsomolskaja Prawda“, man fragt nach mir in einer Reihe von Meetings. Es gibt da eine  gewisse Bewegung in unseren Medien. Ironischerweise kommt man heute einfacher in die offiziellen Medien hinein als in die liberalen.

EM: Sie reden über die russische Presse?

Kagarlitzki: Ja, im TIV ist die Situation ganz anders. Da herrscht die vollkommene Kontrolle. Aber sonst ist viel Bewegung. Da ist z.B. lenta.ru, das ist die größte Internet-edition. Der Chef ist da zurzeit Alexej Garislawski. Es ist nicht so, dass wir den ganz großen Einfluss haben. Man muss sich keine Illusionen machen. Wir sind in keiner Weise  hegemonial, aber auch nicht mehr isoliert.

EM: Ich verstehe das so, dass der Mainstream in Russland die gegenwärtige Regierung der Ukraine als faschistisch hinstellt, aber es gibt eine ziemlich breite Öffentlichkeit, die versteht, dass man das so nicht sagen kann.

Kagarlitzki: Ja, der Mainstream spricht so, aber zu gleicher Zeit gibt es ein großes Verständnis für die katastrophale soziale Lage.

EM: In Kiew ist es aber wohl anders - dort sollen Linke und Demokraten zur Zeit mit dem Rücken an der Wand stehen?

Kagarlitzki: Ja, es ist so in Kiew. Die Linken dort sind in vielerlei Hinsicht in einer verzweifelten Situation. Sie werden als russische Spione angegriffen. Und dabei sind sie echte Ukrainische Patrioten. Sie wollen wirklich einen Ukrainischen Staat, sie wollen nicht dass die Ukraine durch Russland überrollt wird usw. So betonen sie gelegentlich ausdrücklich ihre  Loyalität zum ukrainischen Staat, die ganz ehrenhaft ist, denn sie müssen das einfach unterstreichen. Aber wenn du die Situation in Charkow betrachtest, so ist die eben doch sehr anders.  Die Linke ist dort sehr viel stärker und dort gibt es Raum für Aktivitäten. In Charkow ist die größte Koalition die „Volkseinheit“. Das sind die Leute der Gruppe „Borotbo“, die aus Kiew geflohen sind. Sie sind zurzeit die stärkte Kraft in der Bewegung. In Donezk haben sie Raum für Aktionen, aber in einer Situation des beinahe Bürgerkriegs ist es sehr schwer aktiv zu sein in Kiew und besonders im Westen.

EM: Was ist der Unterschied zwischen der Maidan-Bewegung und den Aufständen in der Ost-Ukraine?

Kagarlitzki: Auf dem Höhepunktder  Maidan-Entwicklung waren – wie gesagt - vielleicht 300.000 Menschen aktiv. Die meisten von ihnen gehören zur Kiewer Mittelklasse. Die Mehrheit der Kiewer Bevölkerung war dort nicht, mindestens ein Drittel, wenn nicht zwei Drittel waren aus anderen Regionen gebracht worden, auch aus südlichen und östlichen übrigens. Aber eben nicht mehr als die genannten 300.000. Im Osten und im Süden sind Zehntausende von Menschen in jeder Stadt aktiv. Das ist die gesamte Bevölkerung, die da aufsteht. Auch in Kiew stehen die Menschen inzwischen auf. Und das obwohl dort Druck auf sie ausgeübt wird. ja, es gibt jetzt sogar Proteste in Kiew und das ist sehr wichtig. Ich denke Kiew und die mittlere Ukraine werden die nächsten Schauplätze der Bewegung sein.

„Der einzige Weg wie der Staat Ukraine beieinander bleiben kann ist die Föderalisierung“

EM: Hat Russland mit der Einverleibung der Krim das Völkerrecht verletzt?

Kagarlitzki: Klar hat die Krim ein Recht unabhängig zu sein. Da gibt es keinen Zweifel. Die Frage war ja einfach, ob die Ukraine als eigener Staat überleben kann und  wenn nicht, was es da für Lösungen gibt. Auf lange Sicht könnte es zwei Ukrainische Staaten geben, drei oder mehrere. Einzelne Teile können sich Russland anschließen, andere an Polen. Es könnte drei Teile geben oder wie auch immer. Es gibt nur einen Weg, wie die Ukraine zusammenbleiben kann, das ist die Föderalisierung. Der Süd-Osten der Ukraine, die zentrale Ukraine, die West-Ukraine, Transkarpatien als eigenständige Teile, die zusammen ein Ganzes bilden. Dann kann es Zusammenschlüsse geben wie z.B. in der Schweiz. Das ist der einzige Weg wie dieser Staat beieinander bleiben kann. Wenn man dieses Land zentralisieren will, treibt man es auseinander. Es ist klar,  dass es genau das nicht überleben wird.

EM: Wie beurteilen Sie das Ergebnis des ganzen Prozesses, der sich nach dem Maidan entwickelt hat?

Kagarlitzki: Bis jetzt ist das eine Revolution, eine sich entwickelnde Revolution. Wenn sie erfolgreich verläuft, wird das zu einer Föderalisierung und Demokratisierung des Landes führen, die möglicherweise noch durch  Bewegungen in Russland verstärkt werden. Wenn sie niedergeschlagen wird, wird das Land dramatisch nach rechts abdriften und Europa gleich mit. Das würde zu einer langen Periode der Destabilisierung und zu einem schweren Trauma führen. Möglicherweise wird es dann aufgehoben durch Bewegungen, die in Russland entstehen.

„In Russland wächst eine riesige ökonomische Krise heran. Im Grunde können uns nur noch westliche Sanktionen retten“

EM: Wie meinen Sie das?

Kagarlitzki: Nun, in Russland wächst eine riesige ökonomische Krise heran. Im Grunde können uns nur noch westliche Sanktionen retten. Wenn wir keine Sanktionen bekommen, werden wir in ähnlichen Verhältnissen versinken wie die Ukraine. Sehr, sehr schnell. Das heißt, die Regionen werden sich gegen Moskau erheben, früher oder später.  Das ist die allgemeine Stimmung im Lande.

EM: Heißt das, wenn man Sanktionen gegen Russland verhängt, kann das nur gut sein? Es wird Russland helfen, seine eigene Industrie zu entwickeln?

Kagarlitzki: Klar, das wird die Kapitalflucht stoppen.

„Wir haben in Russland eine Regierung von lauter Idioten, ähnlich wie in der Ukraine“

EM: In der westlichen Presse liest man, dass Obama auf einen russischen Maidan hofft. Das Kalkül ist, dass die Sanktionen Russland in die Krise treiben könnten und dann Putin, sagen wir, aus der Regierung herausoperiert werden könnte. Ist das realistisch?

Kagarlitzki: Ja, sicher, wenn Sanktionen verhängt werden, kann es zu Auseinandersetzungen kommen, wer in der Regierung bleibt und welche Politik da fortgesetzt werden soll. Aber es wird eher nicht darum gehen Putin zu ersetzen, sondern seine unfähige Umgebung. Wir haben  ja eine Regierung von lauter Idioten, ähnlich übrigens wie in der Ukraine. Putin wird bleiben. Er hat mehr eine Rolle ähnlich der der britischen Queen. Er ist schon die nationale Führungsfigur, aber nicht mehr der Leiter der Politik. Mehr so eine Art Symbol des politischen Zusammenhaltes.

EM: Herr Kagarlitzki, haben Sie herzlichen Dank für dieses Gespräch.

Das Interview führte Kai Ehlers

Zur Person der Gesprächspartner
Boris Kagarlitzki ist Direktor des „Instituts für Erforschung der Globalisierung und sozialen Bewegungen“ in Moskau. Kai Ehlers ist deutscher Russlandforscher und Publizist.  Die beiden stehen seit Beginn der Perestroika Mitte der achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts im Gespräch. Demnächst erscheint ein zweibändiger Sammelband über diese Gespräche unter dem Titel „25 Jahre Gespräche mit Boris Kagarlitzki“. - Das vorliegende Gespräch wurde per Skype zu einem Zeitpunkt geführt, als die Kiewer ukrainische Übergangsregierung versuchte, Truppen gegen die „Unruhen“ im Süden und Osten des Landes einzusetzen.

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