„Allmählich begreifen selbst die Russen, dass sich zivilgesellschaftliches Engagement lohnt.“EM-INTERVIEW

„Allmählich begreifen selbst die Russen, dass sich zivilgesellschaftliches Engagement lohnt.“

„Allmählich begreifen selbst die Russen, dass sich zivilgesellschaftliches Engagement lohnt.“

Wie funktioniert das System Putin? Wollen die Russen ein anderes? Wie könnte es aussehen? Moskau-Korrespondent Ulrich Heyden meint: Selbsternannte Oppositionsführer wie Ex-Schachweltmeister Kasparow bringen den Russen nichts und haben auch keine Chance. Die Bevölkerung selbst muss sich engagieren, wenn sie wirklich etwas ändern will.

Von Hans Wagner

Ulrich Heyden  
Ulrich Heyden  
  Zur Person: Ulrich Heyden
  Ulrich Heyden, geb. 1954, arbeitet seit 1992 als freier Korrespondent in Moskau.

Er berichtet unter anderem für Spiegel Online, Eurasisches Magazin, Sächsische Zeitung, Jüdische Allgemeine, Die Presse, Salzburger Nachrichten und Rheinischer Merkur.

E urasisches Magazin: Was ist das System Putin?

Ulrich Heyden: Es ist ein autoritäres Herrschaftssystem. Große Teile der Bevölkerung sind aber bereit, diesem autoritären System ihre Stimme zu geben, wenn zwei Grundbedingungen erfüllt sind: eine stabile soziale Lage und Schutz vor einer terroristischen Bedrohung. Beide Bedingungen hat Putin zum Teil erfüllt.

EM: Was will die Opposition?

Heyden: Die Opposition ist weit gefächert. Das Spektrum reicht von Antifaschisten, Anarchisten und Umweltschützern, Neuen Linken und Kommunisten bis hin zu Menschenrechtlern und Liberalen, die unter Jelzin in führenden Positionen eine marktradikale Politik gemacht haben. Was alle Oppositionsgruppen eint, ist die Kritik an der fehlenden Meinungsfreiheit. Die Opposition findet nur mit Mühe Räume für ihre Veranstaltungen. Im Fernsehen kommt sie so gut wie nicht zu Wort. Von den Wahlen ist sie durch eine Sieben-Prozent-Hürde und kaum verhüllte Wahlfälschungen, wie zuletzt bei der Wahl zum Moskauer Stadtparlament, ausgeschlossen.

Manche Oppositionsgruppen arbeiten mit dem Kreml zusammen

EM: Fühlt sich die Opposition als einheitliche Kraft?

Heyden: Nein. Die Vernetzung beginnt gerade erst. Aber es gab 2009 viele Proteste, an denen ganz verschiedene Oppositiongsgruppen – von liberal bis links - gemeinsam teilnahmen. Ich meine die Proteste gegen den Bau von Elite-Hochhäusern in gewachsenen Wohngebieten, die Kundgebungen gegen den Bau des 400 Meter hohen Gasprom-Turms in St. Petersburg und die Demonstration nach dem Doppelmord an dem Rechtsanwalt Stanislaw Markelow und der Journalistin Anastasija Baburowa in Moskau.

EM: Gehen eigentlich alle Oppositionsgruppen in direkte Konfrontation zum Kreml?

Heyden: Unter den Oppositionsgruppen gibt es harte Oppositionelle wie das liberale Oppositionsbündnis „Solidarnost“ und Kasparows „Das andere Russland“. Es gibt aber auch Oppositionelle, die im Kontakt mit dem Kreml stehen oder mit diesem gerne ins Gespräch kommen würden. Dazu gehören die Kreise um die linkspatriotische Partei „Gerechtes Russland“ und die Kommunistische Partei (KPRF). Die Bewegungen, welche sich zu ganz konkreten Fragen bildeten, nehmen dem Kreml gegenüber meist eine ziemliche kritische Position ein, lehnen Kontakte mit der Macht aber nicht ab. Der Schwulen-Aktivist Nikolai Aleksejew erklärt in unserem Buch beispielsweise, die Schwulen und Lesben-Bewegung sei durch das Verbot des Gay Pride vom Kreml „in die Opposition gedrängt worden“.

„Medwedew will die russische Demokratie wie in einem Terrarium züchten.“

EM: Sinkt die Popularitätskurve von Putin?

Heyden: Die Zustimmung zu Putin liegt seit 1999 relativ stabil um die 60 Prozent. Einen starken Einbruch gab es allerdings 2005, als die sozialen Vergünstigungen für Rentner und Schwerbehinderte gestrichen wurden. Der Plan, das Versorgungssystem dieser Bevölkerungsgruppen mit einem Schlag auf ein marktorientiertes Konzept umzustellen, konnte wegen der massenhaften Proteste von Rentnern, Menschenrechtlern und Linken nur mit Abstrichen umgesetzt werden.

EM: Gibt es auch ein System Medwedjew?

Heyden: Medwedew tritt zwar als jemand auf, der den Bürgern mehr Freiheit und Eigenverantwortung geben will. Aber bisher deutet nichts darauf hin, dass der Kreml sich vom System Putin verabschieden und den Bürgern und der Zivilgesellschaft Verantwortung übertragen will. Man hat den Eindruck, Medwedew will die russische Demokratie wie in einem Terrarium züchten, bevor er sie an die frische Luft lässt. Die Bevölkerung sieht Medwedew als jemanden, der die Politik von Putin im Wesentlichen fortführt. Putin und Medwedew werden von der Bevölkerung als Tandem wahrgenommen, wobei Putin vorne sitzt und steuert.

„Die Opposition befindet sich unter einer Käseglocke“

EM: Kann man sich erklären, weshalb es derart viele Oppositionsformen und Organisationen in Russland gibt?

Heyden: Die Opposition befindet sich unter einer Käseglocke. Sie hat Schwierigkeiten sich zu entwickeln und zu vereinheitlichen. Der Opposition fehlt der Zugang zum Fernsehen und zum Parlament. Die sehr zahmen Kommunisten und die linksnationale Partei „Gerechtes Russland“, die im Parlament sitzen, werden von der Bevölkerung nicht als Opposition wahrgenommen.

Die Opposition hat objektive Schwierigkeiten, aber auch hausgemachte Probleme. Zunächst zu den objektiven Schwierigkeiten: Die außerparlamentarische Opposition, d.h. Anwohnerinitiativen, Umweltgruppen und Bürgerrechtsgruppen haben kein Geld, um größere Projekte, wie Kongresse und Reisen oder eine Zeitung zu bezahlen. In Russland gibt es fast keine Sponsoren, die es riskieren, die außerparlamentarische Opposition zu unterstützen. Diese Gruppen sind also auf die Zuwendungen von westlichen Stiftungen angewiesen.

„Der russischen Opposition fehlt es an Erfahrungsaustausch mit Bürger-Bewegungen“

EM: Und was sind die hausgemachten Schwierigkeiten?

Heyden: Die einzige landesweit vertriebene Oppositionszeitung, die liberale Novaya Gazeta, spiegelt nur einen Teil des Oppositionsspektrums wider. Linke und junge Oppositionelle kommen dort kaum zu Wort. Der russischen Opposition fehlt es außerdem am Erfahrungsaustausch mit Bürger-Bewegungen und zivilgesellschaftlichen Strukturen im Westen.

Man wundert sich angesichts der immer noch recht kleinen Opposition auch über die große Zahl von Führungspersönlichkeiten, die es vorziehen, nur mit dem eigenen politischen Spektrum zu kommunizieren. Teilweise hat das immer noch etwas Sektenhaftes, was allerdings durch die Politik des Kremls gefördert wird.

EM: Was meinen Sie damit?

Heyden: Der Kreml streckt immer wieder die Fühler zu einzelnen Vertretern der Opposition aus. Man versucht sie in bestimmte neue Strukturen einzubinden, wie etwa die Gesellschaftskammer oder neue Medienprojekte. Das führt in der Opposition zu Gerüchten und oft auch Misstrauen. Was fehlt ist Transparenz, nicht nur bei der Macht, auch bei der Opposition. Was fehlt ist der öffentliche Meinungsstreit zwischen Oppositionellen und zwischen Oppositionellen und der Macht. In den 1990er Jahren gab es so etwas teilweise im Fernsehkanal NTW. Doch der öffentliche politische Dialog zwischen verschiedenen politischen Richtungen wurde von Putin einseitig beendet.

EM: Haben diese Strömungen und Gruppierungen typisch russische Wurzeln oder handelt es sich um westlich inspirierte Demokratiebewegungen?

Heyden: In der Opposition spiegeln sich sowohl westliche Einflüsse wie ureigene russische Traditionen und Erfahrungen wider. In der Opposition – egal ob bei den aufgeklärten Kommunisten oder den Liberaleren – ist unbestritten, dass es in Europa deutlich mehr Meinungsfreiheit und Demokratie gibt als in Russland.

„Es wird übersehen, dass Putin und Medwedew teilweise sehr intelligent agieren“

EM: In einem früheren Interview mit dem Eurasischen Magazin (EM 04-2007) haben Sie erklärt, dass es noch lange braucht, bis es in Russland wirklich freie Wahlen gibt. Hat sich an dieser Sicht etwas geändert?

Heyden: Ich sagte das damals in Bezug auf den ehemaligen Schachweltmeister Garri Kasparow. Der versuchte den Eindruck zu erwecken, man könne „das Regime“ mit 50.000 entschlossenen Demonstranten sozusagen im Handstreich stürzen. Der Niedergang von „Das andere Russland“ zeigt aber, dass jede Opposition in Russland einen sehr langen Atem braucht. Warum? Im Westen nimmt man nur die Morde an Oppositionellen wahr. Es wird übersehen, dass Putin und Medwedew teilweise sehr intelligent agieren und durchaus versuchen, Oppositionelle in ihr System zu integrieren. Man macht Versprechungen und klitzekleine Zugeständnisse.

EM: Aus ihrem neuen Buch, dass Sie zusammen mit Ute Weinmann verfasst haben, lässt sich eine gewisse Distanziertheit zu den oppositionellen Polit-Stars wie dem ehemaligen Schachweltmeister Garri Kasparow und dem ehemaligen Ministerpräsidenten Michail Kasjanow herauslesen. Was bewirken diese bekannten Größen in der russischen Opposition?

Heyden: Die Rolle von Kasparow und Kasjanow für Russland wurde im Westen immer überbewertet. In Russland nimmt die Bedeutung dieser beiden Oppositionspolitiker immer mehr ab. Der Grund ist, dass sie sich nicht von der marktradikalen Politik der 1990er Jahre unter Jelzin abgrenzen und dass sie außer ihrer Forderung nach Demonstrations- und Meinungsfreiheit keine neuen, weiterführenden Ideen haben.

Es entstehen immer neue Oppositionsgruppen

EM: Die Opposition wird also schwächer?

Heyden: Sie wird nicht schwächer, sie befindet sich nur in einem ständigen Wandel. Es entstehen immer neue Oppositionsgruppen, wie etwa die Bewegung „Weißes Band“, die gegen die Korruption in der Polizei kämpft oder die Bewegung gegen die Hochhausbauten, die Bewegung der Autofahrer und Autohändler gegen die Erhöhung der KFZ-Steuern und die Erhöhung der Importzölle für Gebrauchtwagen. In diesen sozialen Bewegungen spielen Liberale wie Kasparow und Kasjanow, aber auch die Kommunisten kaum eine Rolle. In diesen Bewegungen wachsen neue Führungspersönlichkeiten und landesweit bekannte Helden heran, wie der geschasste Polizei-Major Aleksej Dymowski, der die Korruption in der Polizei per YouTube anklagte, oder der Führer der unabhängigen Gewerkschaft bei Ford St. Petersburg, Aleksej Etmanow, der erfolgreiche Streiks organisierte.

EM: Sie schildern Anwohnerinitiativen gegen Auswüchse des Baubooms und eine neue Arbeiterbewegung, die sich in Russland entwickeln. Sind solche Bewegungen in der Lage, eines Tages das System Putin abzulösen?

Heyden: Davon kann noch keine Rede sein. Warum? Seit der Finanzkrise spielt Putin den Feuerwehrmann. Er erscheint überall dort, wo es soziale Brennpunkte oder Katastrophen gibt. Damit nährt er die traditionelle Erwartung der Menschen, dass der gute Zar sich um alles kümmert und auch versucht, die korrupten Beamten zur Rechenschaft zu ziehen.

Allmählich begreifen aber selbst die Russen, dass sich zivilgesellschaftliches Engagement lohnt. Die Kürzung der sozialen Vergütungen für Rentner und Schwerbehinderte im Januar 2005 musste wegen massenhafter Proteste teilweise zurückgenommen werden. Im Dezember 2007 setzten streikende Arbeiter bei Ford Lohnerhöhungen von 16 Prozent durch.  Im September 2009 erreichten die Anwohner des Moskauer Bezirks Jasenowo nach Protesten, dass die Stadtverwaltung den Plan für den Bau einer Müllverbrennungsanlage zurückzog. Im Oktober 2009 verhinderten Anwohnerinitiativen in St. Petersburg den Bau eines Elite-Hochhauses. Solche Erfolge nagen am System Putin, in dem Bürger-Bewegungen, die ohne Anweisung des Kremls handeln, nicht vorgesehen sind.

EM: Herr Heyden, haben Sie herzlichen Dank für dieses Gespräch.

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Siehe auch das neue Buch von Ulrich Heyden und Ute Weinmann: „Opposition gegen das System Putin. Herrschaft und Widerstand im modernen Russland“ in der Rubrik  Gelesen.

Interview

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