09.08.2023 13:11:56
NAHER OSTEN
Von Hans Wagner
Prof. Dr. Steinbach |
Eurasisches Magazin: Während des Mittelalters haben muslimische Gelehrte aus dem maurischen Spanien und aus Arabien das Geistesleben und die Wissenschaften in Europa in einem heute kaum mehr vorstellbaren Ausmaß befruchtet. Warum sind inzwischen viele islamische Staaten fast auf den Stand von Entwicklungsländern abgerutscht?
Udo Steinbach: Europa ist ab dem 18. Jahrhundert, dem Beginn der Neuzeit, aufgestiegen und hat eine universal präsente Macht entfaltet, politisch, wirtschaftlich, militärisch und kulturell. Dieser Aufstieg ist vergleichbar mit dem der muslimischen Länder nach der Befruchtung durch die griechische Geisteswelt im 8. und 9. Jahrhundert, die sich schließlich bis nach Europa ausgewirkt hat. Mit dem Aufstieg Europas begann aber gleichzeitig der Niedergang der islamischen Welt, die damals vor allem durch das Osmanische Reich verkörpert wurde. Von diesem Abstieg haben sich die islamischen Länder seither nicht wieder erholt. Die unaufhaltsame Dominanz Europas war ein gewaltiger Schock für die Muslime im gesamten Nahen und Mittleren Osten.
EM: Wie konnte die Entwicklung Europas die einmal so überlegenen Staaten Arabiens und Kleinasiens derart zurückwerfen – welche Rolle hat dabei der Islam gespielt?
Steinbach: Nach dem Selbstverständnis der Muslime ist der Islam die überlegene Religion. Er ist die letzte Religion, die vollkommene Religion. Nach dem Koran bedeutet dies, daß auch die islamische Gesellschaft, und nur sie, eine vollkommene Gesellschaft ist. Das steht wörtlich so in Sure drei Vers 110: „Ihr seid die beste Gemeinde.“ Das ist nicht nur spirituell gemeint, sondern im Sinne einer zivilisatorischen und politisch/wirtschaftlichen Überlegenheit. In dieses Bild paßten das aufsteigende christliche Europa und seine wachsende Überlegenheit nicht hinein. Die islamische Welt schottete sich mehr und mehr ab, blendete Europa quasi aus. Es durfte prinzipiell nicht sein, daß Europa nun auf einmal moderner war und den Ländern unter dem Halbmond sozusagen die Vorgaben für die künftige Entwicklung machte. Es entstand eine regelrechte Abstoßung dagegen, die vom Westen ausgehende Modernisierung anzunehmen. Das ist bis heute weithin so geblieben. Diese Abstoßung ist sogar noch gewachsen, nachdem die USA mit ihrer Überlegenheit dazugekommen sind. Seither ist der von radikalen Muslimen getragene Abwehrkampf gegen alles Westliche noch dramatischer geworden.
EM: Die Muslime sind also sehenden Auges und in geradezu selbstmörderischer Weise in eine Art Mittelalter zurückgewichen?
Steinbach: Natürlich muß zwischen einzelnen islamischen Gesellschaften differenziert werden – die islamische Welt gibt es nicht. Gleichwohl unterscheiden sich weite Teile in ihr von anderen Kulturkreisen, die Anregungen und Entwicklungen aus dem Westen aufnehmen, zu ihrem eigenen Vorteil. Denken sie an das konfuzianische China, das buddhistisch geprägte Japan, das hinduistisch geprägte Indien – hier gibt es diese Abschottung nicht. Muslime leisten sich seit drei Jahrhunderten einen anhaltenden Abwehrkampf gegen die Moderne. Die Religion des Islams wurde dabei immer wieder so traditionalistisch, so erzkonservativ ausgelegt, daß sie gegen die Moderne resistent war. Man hat außerdem nur schwer vermocht, die Politik von der Religion zu trennen.
EM: Aber es hat dann im 20 Jahrhundert doch Ansätze gegeben.
Steinbach: Natürlich, das trifft vor allem auf die Türkei und den Iran zu. Mustafa Kemal Atatürk hat die Trennung von Religion und Politik in seinem Land radikal vollzogen. Dieser Laizismus hält in der Türkei bis heute an. Und das Land ist gut damit gefahren. Es hat auch Nachahmer gegeben, wie Nasser in Ägypten und den Schah von Persien. Allerdings ist diese Entwicklung im Iran unter Khomeini wieder zurückgedreht worden.
EM: Warum ging nach diesen positiven Beispielen nicht irgendwann ein Ruck durch die gesamte muslimische Welt, verbunden mit dem Ehrgeiz aufzuholen, effektiver zu werden, vielleicht sogar wieder überlegen, wie einst? Schließlich haben einige der Länder ja reiche Ressourcen, wachsende junge Bevölkerungen und nicht nur eine glanzvolle Vergangenheit?
Steinbach: Einige Länder zeigen durchaus Fortschritte. In Tunesien gibt es zum Beispiel auf wirtschaftlichem Gebiet einen kraftvollen Entwicklungsschub. Ähnlich sieht es in Indonesien aus. Aber es ist richtig, daß die arabische Welt Anfang der siebziger Jahre die Chance verpaßt hat, auf der Basis explodierender Öleinnahmen einen umfassenden ökonomischen und gesellschaftlichen Entwicklungsprozeß einzuleiten. Das liegt vor allem daran, daß auf der arabischen Halbinsel ein extrem konservativer Islam herrscht. Da ist das Geld verplempert worden für die Wohlfahrt von Prinzen. Leider wurde es nicht für die fast gleichzeitig mit den Öleinnahmen explosionsartig wachsende Bevölkerung eingesetzt. Man hat die reichlich fließenden Petrodollars verpulvert für Waffen und für Prestigeobjekte der Herrscher. Und es wurde ausgegeben für den Export eines erzkonservativen, ja fundamentalistischen Islams, dessen Früchte dann am 11. September teilweise sichtbar wurden.
EM: Gibt es für diese schwer zu begreifende Entwicklung eventuell auch noch andere Gründe?
Steinbach: Es fragt sich, ob der Westen, dessen Gelder ja in diese Gesellschaften hineingeflossen sind, überhaupt eine Veränderung zulassen wollte. Man muß sich einfach mal fragen, welchen Anteil externe westliche Mächte an diesem Zurückbleiben haben. Das Hauptinteresse des Westens ist es doch wohl, daß die Petrodollars recycelt werden und irgendwann wieder in der eigenen Kasse landen. Dafür liefert man Waffen und baut Infrastrukturen auf, von denen keineswegs immer klar ist, wie sinnvoll sie sind. Eine Mitschuld für die Entwicklung trägt der Westen allemal. Ganz freisprechen wird man ihn nicht können.
EM: Prof. Ahmed Zewall aus Ägypten ist der einzige Araber, der je einen naturwissenschaftlichen Nobelpreis erhielt. Er lehrt in den USA und vertritt die Auffassung, daß letztlich der westliche Kolonialismus das Wohlergehen der arabischen Welt auf dem Gewissen hat. Der Kolonialismus hätte die Länder, von denen Europa einst unendlich viel gelernt habe, im 19. Jahrhundert ins Mittelalter zurückgeworfen. Trifft dies zu?
Steinbach: Das ist eine Ansicht, die im arabischen Raum weit verbreitet ist. Im Grunde wird für alles, was die islamische Welt versäumt hat, was ihren Rückstand ausmacht, der Westen verantwortlich gemacht. Es sind die genannten innerislamischen Gründe maßgebend aber der Westen hat ganz klar eine Mitschuld. Die Kolonialmächte England und Frankreich ebenso wie die USA. 1953 zum Beispiel wurde die demokratische Entwicklung im Iran durch einen Coup des CIA gestoppt, der dann Schah Reza Pawlewi wieder zur Macht verhalf. 1991 wurden die Iraker daran gehindert, den Diktator Saddam Hussein selbst zu stürzen. Westliche Interessen wirtschaftlicher und strategischer Art, vor allem Ölinteressen, tragen eine erhebliche Mitschuld daran, daß Reformprozesse im umfassenden Sinne in der arabischen Welt verhindert wurden.
EM: Der malaysische Premierminister Mahatir Bin Mohammed hat sein Land zu einem weitgehend modernen islamischen Staat entwickelt. Für ihn ist es nicht der Islam an sich, der für die Rückständigkeit vieler muslimischer Länder verantwortlich ist. Er sieht die Schuld bei den politisierten Religionsgelehrten in Arabien, den sogenannten Ulamas. Sie würden jeglichen wissenschaftlichen Fortschritt verhindern. Liegt hier das Problem?
Steinbach: Mahatir ist in der islamischen Welt eine eindrucksvolle Stimme. Er ist ja selbst ein religiöser Mann, aber für ihn ist der Islam vor allem ein Ethos. Dieses Ethos beinhaltet Toleranz, Fleiß, Hingabe an die Entwicklung von Reformen. So möchte er Muslime ins 20. Jahrhundert führen, ohne den Glauben zu verlassen. Leider gibt es inzwischen starke Gegenkräfte, die den eindrucksvollen Entwicklungsschub bremsen könnten. Bei den letzten Wahlen in Malaysia haben die Fundamentalisten kräftig zugelegt. Sie wollen unter allen Umständen wieder zu einem religionsgesetzlichen islamistischen Konstrukt zurückkehren, in dem der Islam das alleinige Gesetz ist.
EM: Welche Behandlung erfahren Nichtmuslime heute in der arabischen Welt?
Steinbach: In der gesamten islamischen Welt haben es nichtmuslimische Minderheiten schwer. Das gilt besonders für Christen in den arabischen Ländern. Die Situation ist in den letzten Jahrzehnten deutlich schlechter geworden.
EM: Im muslimischen Orient sind zuvörderst die USA und die alte Kolonialmacht Großbritannien aktiv - politisch und derzeit vor allem militärisch. Müßte nicht die EU anfangen viel stärker mit den arabischen Nachbarn Europas zusammenzuarbeiten?
Steinbach: Bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs war die Beziehung Europas zur arabischen Welt belastet. In den letzten Jahrzehnten sind dann die USA auch hier sehr dominant geworden. Das hat zu dieser Abstinenz Europas geführt. Sie kommt aber auch daher, daß es keine europäische Nahostpolitik gibt. Von arabischer Seite wird die Zusammenarbeit mit Europa nachdrücklich gewünscht. Man möchte Europa als Alternative zu Amerika sehen. Auch in Europa hat der Wunsch nach Zusammenarbeit in den letzten Jahren zugenommen. Es wird eine nachbarschaftliche Entwicklung ökonomischer und politischer Art angestrebt. Daß wir noch nicht sehr weit gekommen sind, liegt neben der Tatsache, daß es keine europäische Außenpolitik gibt, an einem Problem, an dessen Lösung Europa nur marginal beteiligt ist: am arabisch-israelischen Konflikt.
In der arabischen Welt sieht es nicht besser aus: mit wem sollten wir Europäer denn kooperieren und dialogisieren? Mit den Regimen, von denen immer deutlicher wird, daß ihnen die Legitimierung durch die Bevölkerung fehlt? Oder mit den Gesellschaften, die aber unterdrückt werden und sich gar nicht artikulieren können? Also Fehlanzeige bislang. Es wären dringend ein Modernisierungsschub und ein Demokratisierungsprozeß erforderlich, der mit einer weiteren Annäherung zwischen Europa und der islamischen Welt einhergehen müßte.
EM: Prof. Ahmed Zewall fordert einen „Bildungs-Dschihad“ für die islamische Welt, eine Kampagne in der ursprünglichen Bedeutung für Dschihad: „Sich durch Eifer hervortun“. Ist das nur eine wohlfeile Formel, oder wäre so etwas denkbar – und wer könnte Initiator eines solchen neuartigen Dschihads sein?
Steinbach: Jede islamische Gesellschaft für sich müßte einen solchen Bildungs-Dschihad anstreben. Aber die Forderungen danach sind kaum vernehmbar. Mahatir in Malaysia verlangt ihn am deutlichsten. In anderen Ländern will man davon kaum etwas wissen. Der Grund ist, daß Bildung einhergeht mit Kritik. Und die politischen Systeme haben kein Interesse an einer umfassenden Bildung, die ja zugleich umfassende Partizipation, sprich demokratische Beteiligung der ganzen Gesellschaft, also Gewaltenteilung bedeuten müßte. Eine Ausweitung der Bildung ohne gleichzeitige Demokratisierung kann es nicht geben.
EM: Ist es vorstellbar, daß die Iraker oder andere arabische Völker von außen oktroyierte „demokratische“ Systeme adaptieren und sie schließlich als ihre eigenen Regierungsformen akzeptieren?
Steinbach: Demokratisierungsprozesse in islamischen Ländern waren bislang in der Türkei, im Iran, in Indonesien zu beobachten. Im arabischen Raum sind sie in Ansätzen stecken geblieben. Hier ist eher eine anhaltende Verhärtung gegen jegliche Form von Demokratisierung festzustellen. Die Entwicklung geht eher hin zur Autokratisierung. Das haben zuletzt die Tunesier erfahren müssen. Der ökonomische Entwicklungsschub ist nicht begleitet worden von einem Demokratisierungsschub, obwohl die Menschen im Maghreb europäischen Wertvorstellungen auf politischem Gebiet noch am nächsten stehen. Ich bin sehr skeptisch, ob es in absehbarer Zeit gelingen kann, die Systeme in den arabischen Ländern zu demokratisieren. Und ich bin noch skeptischer gegenüber dem Versuch, Demokratie in die islamische Welt zu exportieren oder gar zu oktroyieren, wie es jetzt im Irak geschehen soll. Die religiösen Unterschiede, die im Irak zwischen Schiiten und Sunniten herrschen und die ethnischen Gegensätze, die es zwischen Arabern und Kurden gibt, sind mit einem westlichen Demokratiemodell nur schwer aus der Welt zu schaffen.
EM: Böte sich da nicht eine föderale Verfassung an, um überhaupt ein Zusammenleben zu ermöglichen?
Steinbach: Über einen irakischen Föderalismus wird in einer schmalen Elite durchaus diskutiert. Vor allem die Kurden verfolgen diesen Gedanken. Nur wenn es gelingt, eine föderale Basis herzustellen, wird der Irak als Staat überleben können. Dazu bedarf es eines dezentralen Denkens. Das ist nicht gerade eine Tradition im Nahen Osten. Man denkt seit jeher zentralistisch. Es ist deshalb zweifelhaft, ob es gelingen kann, den Staat Irak zu erhalten Denn dies würde ja auf jeden Fall eine weitgehende Autonomie des Kurdengebietes erfordern.
EM: Welche Rolle spielen Israel und die nach Unabhängigkeit strebenden Palästinenser für die Zukunft des Nahen Ostens?
Steinbach: Das ist ganz sicher die zentrale Frage. Nur wenn die Palästinenser ihren eigenen Staat bekommen, auf dem Territorium von Gaza und der ehemaligen Westbank, kann es eine friedlichere Zukunft im Nahen Osten geben. Solange dieses Problem nicht gelöst ist, werden die arabischen Regime immer wieder unter dem Vorwand des erforderlichen Kampfes gegen Israel jegliche Demokratisierung verhindern. Sie werden sich immer von neuem rechtfertigen mit dem Hinweis, die Stabilität ihrer Länder sei in diesem Konfliktfall oberstes Gebot, Demokratisierung führe zur Instabilität.
EM: Die Arabische Liga hat enorme Schwierigkeiten sich in der internationalen Politik Gehör zu verschaffen. Weshalb schaffen es arabischen Länder nicht zumindest in Krisenzeiten mit einer Stimme zu sprechen?
Steinbach: Weil sie alle ganz unterschiedliche Interessen verfolgen. Es gibt eben diese „arabische Welt“ nicht, sie ist noch eine Fiktion. Sie ist ein Sammelsurium von arabischen Nationalstaaten, die nach dem Zweiten Weltkrieg unabhängig geworden sind. Es herrschen unterschiedliche Regime, die nur eines gemeinsam haben: sie sind nicht durch echte Wahlen legitimiert. Sondern es besteht eine tiefe Kluft zwischen den Regierenden und den Regierten. Die jüngsten Unruhen im Zusammenhang mit dem Irak-Krieg haben dies wieder deutlich gezeigt. In ihrer Schwächen kommen alle diese Regime letztlich nicht darum herum, sich mit Washington gut zu stellen, ob sie wollen oder nicht. Das gilt für Ägypten, für Jordanien, für die Regierungen auf der arabischen Halbinsel. Sie sind abhängig aus Schwäche. Ohne Stützung durch die USA sind sie zum Fall verurteilt. Sie stehen in der Gefolgschaft Washingtons. Washington hat sie alle in der Hand und bestimmt ihre Geschicke. Deshalb gelingt es ihnen auch nicht, wenigstens ein Minimum an Geschlossenheit hinzubekommen. Es gibt außerdem keine charismatische Persönlichkeit in den arabischen Ländern. Es gibt auch keine übergreifende Ideologie. Eine Situation, wie es sie ansatzweise in den fünfziger Jahren gab, als Nasser 1952 nach der Revolution in Ägypten darangehen konnte, weite Teile der arabischen Öffentlichkeit zu mobilisieren, besteht heute nicht mehr. Sie ist im übrigen ja auch damals ohne den Erfolg einer Einigung geblieben.
EM: Im Juli berichtete der Iran-Report der Heinrich-Böll-Stiftung, Teheran befürworte eine einheitliche Währung für die Mitgliedsstaaten der OPEC. Als Vorbild solle der Euro dienen. Halten Sie ein solches Vorhaben für durchsetzbar?
Steinbach: Das halte ich für ein reines Hirngespinst und für nicht durchsetzbar. Die OPEC ist in sich tief zerstritten. Ihre wirtschaftlichen Strukturen sind höchst unterschiedlich, sie reichen von marktwirtschaftlichen Ansätzen bis hin zu einer vollständigen Staatswirtschaft. Nicht eines der arabischen Regime, schon gar nicht das iranische, wäre bereit, etwas von seiner nationalen Souveränität aufzugeben. Und das wäre ja die Voraussetzung für eine einheitliche Währung.
EM: Vielen Dank für dieses Gespräch.
Das Interview führte Hans Wagner.
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