„Anatolien war nicht Ur-Heimat der indogermanischen Stämme“EURASISCHE URSPRACHEN

„Anatolien war nicht Ur-Heimat der indogermanischen Stämme“

Die These der neuseeländischen Forscher Gray und Atkinson uber die Herkunft unserer Sprache ist unhaltbar. Das stellt Prof. Jurgen Udolph klar. Der Onomastiker (Namenforscher) der Universität Leipzig ist der einzige Professor auf diesem Fachgebiet in Deutschland. Anhand der Verbreitung uralter Orts- und Gewässernamen hat er außerdem herausgefunden, daß die Germanen nicht aus Skandinavien kamen und die Ausbreitung der Kelten weithin uberschätzt wird.

Von Hans Wagner

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Prof. Jürgen Udolph  

Eurasisches Magazin: Wie einheitlich oder zumindest wie eng verwandt sind die Sprachen auf dem eurasischen Kontinent - haben sie alle gemeinsame Wurzeln?

Jürgen Udolph: Die Historisch-Vergleichende Sprachwissenschaft kann mit Hilfe ihrer Methoden sichere Verwandtschaftsbeziehungen nur zwischen den als „indogermanisch“ oder „indoeuropäisch“ bezeichneten Sprachen nachweisen. Dazu gehören u.a. die keltischen, germanischen, romanischen, baltischen und slavischen Sprachen, wie auch die indischen und iranischen, ferner von den inzwischen ausgestorbenenen das Tocharische, Hethitische, Dakische, Thrakische, Illyrische. Alle weiteren Verwandtschaftsnachweise halten einer strengen Prüfung nicht stand; das betrifft vor allem das Finno-Ugrische, Baskische und Etruskische. Ebenso wie die nostratische Theorie sind die angeblichen „Beweise“ nicht anders denn als zufällige Übereinstimmungen zu erklären. Von Wilhelm von Humboldt stammt meines Wissens der Satz, daß man beliebige Sprachen der Welt miteinander vergleichen und man immer ca. 200 „sichere“ Übereinstimmungen finden könne. So glaubte etwa auch Erik von Däniken, Übereinstimmungen zwischen finno-ugrischen Dialekten an der Wolga und Maya-Sprachen in Mittelamerika gefunden zu haben und für seine Theorien nutzen zu können.

„Seit 4.000 Jahren hält die Expansion der indogermanischen Stämme an“

EM : Wie kann man sich aber erklären, daß das Indogermanische so viele Entsprechungen hat, die vom Ganges bis nach Dublin reichen?

Udolph: Es ist dies das Ergebnis einer seit ca. 4.000 Jahren anhaltenden Expansion indogermanischer Stämme. Wir kennen auch aus historischen Quellen entsprechende Ausbreitungen: das Keltische wurde in einem großen Teil Europas von Irland bis Kleinasien (Galater) gesprochen, erreichte die Iberische Halbinsel, Italien und den Balkan – und wurde in weiten Bereichen assimiliert. Das Lateinische war ursprünglich die Sprache eines mittelitalienischen Dorfes, heute werden Nachfolgesprachen in der halben Welt gesprochen. Das Germanische wurde durch Goten, Wandalen und andere Stämme bis nach Afrika und Spanien getragen. Das Slavische entstand aus einer relativ kleinen Keimzelle und wird heute auf dem Balkan, an der Elbe, in Sibirien bis hin nach Kamtschatka gesprochen.

In der Sprachentwicklung sind Raum und Zeit die entscheidenden Faktoren. Sie bewirken Veränderungen, die zu einer Auseinanderentwicklung der Sprachen und Dialekte führen. Eroberungen und Expansionen tun ihr übriges.

„Für die Annahme eines sogenannten Boreischen gibt es keinerlei Hinweise“

EM: Die sowjetischen Wissenschaftler Dolgopolski und Illitsch-Switytsch berichteten in den siebziger Jahren auch in deutschen Medien, eine eurasische Ursprache entdeckt zu haben, der sie die Bezeichnung „Boreisch“ verliehen. Ihren Ursprung verorteten sie in einem Raum von Indien bis Anatolien und von Kaukasien bis zum Persischen Golf. Gibt es dazu in ihrer Disziplin der Namenforschung irgendwelche Hinweise oder Belege?

Udolph: Ich habe schon darauf verwiesen, daß die Vergleiche, die zur Annahme eines „Nostratischen“ oder „Boreischen“ geführt haben, nicht über zufällige Gemeinsamkeiten hinausgehen. Die These ist abzulehnen. Die Namenforschung kann mit Hilfe vor allem der Gewässernamen zur Frage alter Siedlungen, Wanderungen usw. beitragen. Aus ihr lassen sich für die Annahme eines sogenannten Boreischen keinerlei Hinweise geben. Auch aus dieser Sicht heraus ist die These abzulehnen.

EM: Siegbert Hummel (vergl. EM 07-02 und 03-03), von 1947 bis 1955 Leiter des Völkerkundemuseums in Leipzig, war bis zu seinem Tod überzeugt von der Theorie Dolgopolskis. Er hat eine ganze Reihe von Schriften darüber veröffentlicht, fand aber keine wissenschaftliche Anerkennung mit diesem Thema. Hat er sich, ebenso wie die beiden sowjetischen Wissenschaftler, verrannt?

Udolph: Ja.

„Anatolien kann nicht Ur-Heimat der indogermanischen Stämme gewesen sein“

EM: Die Mathematiker der neuseeländischen Universität Auckland, Russell Gray und Quentin Atkinson, haben kürzlich behauptet, daß die Verbreitung der indogermanischen Sprachen im Zeitraum zwischen 5800 und 7800 vor Christus ihren Anfang in Anatolien genommen hätte (vergl. EM 12-03 „Das große Rätsel der indogermanischen Sprache“) – kann dazu die Namenforschung etwas aussagen?

Udolph: Für die Zeit von 7800 – 5800 v. Chr. kann und darf man noch nicht von indogermanischen Sprachen sprechen. Unsere Kenntnisse reichen dafür nicht aus. Anatolien kann nicht „Ur-Heimat“ der indogermanischen Stämme gewesen sein, weil die Gewässernamen dieses nicht bestätigen. Wir kennen sogenannte alteuropäische Gewässernamen aus Europa, die mit Hilfe auch von hethitischen Wörtern erklärt werden können: etwa die Flurnamensippe um Ohm, die mit albanisch amë „Flußbett“, griechisch amara „Graben, Kanal“ verbunden werden kann. Die europäischen Flußnamen entstammen einer Sprache, die älter als jede indogermanische Einzelsprache sein und daher – da sie auch hethitisches, iranisches und indisches Wortmaterial enthält – einer voreinzelsprachlichen Stufe angehören muß.

EM: Sprachwissenschaftler bedauern stets, daß in ihrer Disziplin weder Scherben noch Knochen, weder Sedimente noch Felsbilder zur Verfügung stehen, um die Sprachgeschichte zu rekonstruieren. Kann die Namenforschung hier weiterhelfen?

Udolph: Ja, ganz entscheidend. Es ist ein Manko auch der Indogermanistik, daß sie die Ergebnisse der Gewässernamenforschung von Hans Krahe und Wolfgang Paul Schmid nur zögernd oder gar nicht aufgreift. Dabei hat schon Jacob Grimm nachhaltig auf die Bedeutung der Onomastik hingewiesen: „Ohne die Eigennamen würde ganzen früheren Jahrhunderten jede Quelle der deutschen Sprache versiegt sein, ja die frühesten Zeugnisse, die wir überhaupt für diese aufzuweisen haben, beruhen gerade in ihnen ... eben deshalb verbreitet ihre Ergründung Licht für die Sprache, Sitte und Geschichte unserer Vorfahren“. Da Sprache lebendig ist und sich ständig verändert, verändert sich auch der Wortschatz. Wörter leben und sterben, aber in den Namen bleiben diese häufig erhalten. Daher kann die ursprüngliche Verbreitung eines Wortes – wenn es in Namen auftaucht – nur mit Hilfe der Namen richtig beschrieben werden.

Die ältesten Fluß- und Ortsnamen Europas stammen zum größtenTeil aus indogermanischer Zeit

EM: Was läßt sich über die Siedler sagen, die einst Bächen und Landschaften in Europa und ganz Eurasien ihre Namen gegeben haben – gibt es zwischen ihnen Beziehungen, die von Indien bis zu den Kanarischen Inseln reichen?

Udolph: Es ist die Erkenntnis von Hans Krahe, daß sich in weiten Teilen Europas unter der Schicht der einzelsprachlichen Namen (keltisch, italisch, germanisch, baltisch, slavisch usw.) Gewässernamen befinden, die nicht mit Hilfe einer indogermanischen Einzelsprache erklärt werden können. Ein Beispiel: Mien, Mienia, Minia, Mienia sind Gewässernamen in Osteuropa (dazu gehört auch Minsk), die baltische Namen wie Mainia und Minià neben sich haben, aber auch den Main, alt Moinos, und Minho/ Miña auf der Iberischen Halbinsel. Es ist klar, daß man diese Namen nicht mit Hilfe des Keltischen, Germanischen oder Slavischen erklären kann. Man muß einen Schritt weiter zurückgehen. Daß es europäische Gewässernamen gibt, die Beziehungen zum Indischen und Iranischen enthalten, hat darüberhinaus Schmid deutlich gemacht. Er hat nachgewiesen, daß in zahlreichen Gewässernamen, Europas Wortschatzelemente verborgen sind, die ausschließlich nur in den ostindogermanischen Sprachen, etwa Indisch, Tocharisch, Iranisch nachgewiesen werden können. Zum Beispiel im altindischen sindhu- „Fluß“, das sich wiederfindet in Sinn, einem Nebenfluß des Mains, Shannon (Irland), Shin (England), San, Nebenfluß der Weichsel . Das bedeutet, daß die Sprache der Sprecher, die die Namen gegeben haben, keine indogermanische Einzelsprache gewesen sein kann, sondern das Ostindogermanische noch einbezogen war, mit anderen Worten: die Sprecher sprachen voreinzelsprachliche, der indogermanischen Gemeinsprache sehr nahestehende Dialekte.

EM: Ist demnach auch die Siedlungs- und Wanderungsgeschichte der Völker nicht endgültig erforscht?

Udolph: Jede sprachliche Erforschung der Urzeiten eines Landes hat von den Gewässernamen auszugehen. Diese Forderung Hans Krahes ist bisher nur zum Teil erfüllt worden. In Ansätzen sind von den indogermanischen Einzelsprachen in diesem Sinne untersucht worden: das Slavische und Germanische, weiteres steht noch aus.

„Die Ausbreitung der Kelten wird immer noch weithin überschätzt“

EM: Welche Bedeutung haben die Kelten für die Benennung von Namen in unseren Breiten?

Kurzbiographie Jürgen Udolph.

Prof. Jürgen Udolph wurde 1943 in Berlin-Pankow geboren. Er hat slavische, finnisch- ugrische Sprachen und Geschichte studiert. Promotion zum Dr. phil. 1978. Titel der Arbeit: „Studien zu slavischen Gewässernamen und Gewässerbezeichnungen. Ein Beitrag zur Frage nach der ‚Urheimat der Slaven‘“. 1990 Habilitation in Göttingen mit der Arbeit „Die Stellung der Gewässernamen Polens innerhalb der alteuropäischen Hydronymie“. Seit 1. Oktober 2000: Professor für Namenforschung an der Universität Leipzig. Prof. Udolph ist verheiratet und hat vier Kinder.
 

Udolph: Die Ausbreitung der Kelten wird immer noch weithin überschätzt. Der Fehler liegt darin, daß man überall dort, wo man Spuren der keltischen materiellen Kultur findet, etwa handwerkliche Arbeiten, auch von Siedlungen einer keltischer Bevölkerung ausgeht. Dem ist entschieden entgegenzutreten. Im heutigen Deutschland lassen sich keltische Gewässer- und Ortsnamen im Rheingebiet und in Süddeutschland nachweisen, aber schon in Hessen gibt es kaum einen sicheren keltischen Ortsnamen. Unter den keltischen und germanischen Gewässer-, Orts- und Flurnamen, die eine deutliche Verdichtung in Südniedersachsen, dem westlichen Sachsen-Anhalt und Thüringen aufweisen, lassen sich Dutzende von alteuropäischen, d.h. indogermanischen, Gewässernamen nachweisen. Es kann keinerlei Zweifel daran bestehen, daß sich aus einem indogermanischen Dialektgebiet heraus das Keltische, Germanische, Baltische und Slavische entwickelt haben. Wo das geschah, läßt sich allein mit Hilfe der Namenforschung erkennen, denn in den Toponymen und Hydronymen lassen sich die Spuren einer früheren oder späteren Übernahme aus einem indogermanischen Dialekt zweifelsfrei erkennen. Man muß diese Mögchkeiten nur nutzen

„Die Himmelsscheibe von Nebra ist nicht keltischen Ursprungs“

EM: Sie bezweifeln, daß die inzwischen berühmte Himmelsscheibe von Nebra wirklich keltischen Ursprungs ist, wie weithin angenommen wird. Worauf gründen sich Ihre Zweifel?

Udolph: Sie gründen auf mehreren Argumenten: Erstens haben in Sachsen-Anhalt nie keltisch sprechende Siedler gelebt. Es gibt nicht einen einzigen Ortsnamen, der aus dem Keltischen erklärt werden könnte. Zweitens gehört das Gebiet um Nebra herum zu altgermanischem Siedlungsgebiet. In diesem lassen sich ohne Probleme Gewässer- und z.T. auch Ortsnamen finden, die aus indogermanischem Mund in germanischen gekommen sind, oder von germanisch werdenden Indogermanen gegeben und übernommen worden sind. Es gab aber zur Zeit der Entstehung der Himmelsscheibe auch noch kein Germanisch – jedenfalls sprachlich gesehen, d.h., die erste Lautverschiebung war noch nicht durchgeführt worden. Die Gewässernamen in diesem Gebiet entstammen einer Zeit, als es noch keine keltischen, germanischen, italischen oder baltischen Sprachen gab.

EM: Welche Völkerschaften oder Geschlechter könnten dann dieses bislang einmalige Werk hervorgebracht haben?

Udolph: Ich kann nur von der Sprache aus argumentieren. Was die technischen und handwerklichen Fähigkeiten angeht, fehlt mir die Kompetenz.

EM: Wissen Sie aus Ihrer sprachforscherischen Kenntnis heraus, wer die Schöpfer waren oder wagen Sie eine These?

Udolph: Ich denke, es waren Menschen, die einen indogermanischen Dialekt gesprochen haben. Dafür sprechen – falls die Scheibe dort entstanden ist – die Gewässernamen der Umgebung von Nebra und der Ortsname Nebra selbst, der ein vorgermanischer Gewässername sein dürfte – als Teilabschnittsname eines Flusses.

Die Germanen kamen nicht aus Skandinavien sondern aus Niedersachsen

EM: Sie kratzen auch an der im Prinzip von der gesamten Forschung anerkannten Geschichte der Germanenherkunft aus dem Norden. Was veranlaßt Sie, an dieser nordischen Abkunft zu zweifeln?

Udolph: Die These von der germanischen Herkunft aus dem Norden geht auf den Ur- und Frühgeschichtler Heinz Gustaf Kossinna zurück. Er befruchtete mit seiner Meinung die Rassentheorie der Nationalsozialisten, die einen „nordischen Typ“ in das Zentrum ihrer Ideologie stellten. Den Weg der Übernahme der Kossina-Theorien hat Rof Hachmann glänzend umrissen: „Noch ganz unter dem Einfluß Müllenhoffs, hatte Kossinna anfangs nichts von skandinavischer Herkunft der Germanen gehalten“, jedoch führten Neufunde zu einem Wechsel seiner Auffassung: „Noch ehe er das archäologische Fundgut Mitteleuropas genau kannte und ehe er sich über Methoden der Auswertung der Bodenfunde recht klar geworden war, konzipierte er ein neues Bild vom Ursprung der Germanen: Sie mußten großenteils aus Skandinavien ausgewandert sein ... Ein wachsender Kreis von im Prinzip nicht unbegabten Schülern war von Kossinna und von den Möglichkeiten, die seine neue ,Methode' zu bieten schien, fasziniert ... Die Germanistik selbst stand seinen Ansichten anfangs reserviert gegenüber. Aber schließlich überzeugte er auch hier“. „Das Ergebnis war: Der alte Skandinavien-Topos wurde von der Germanistik erst zögernd, dann willig, schließlich begierig aufgenommen und für wissenschaftliche Wahrheit gehalten“. Die Überprüfung dieser These anhand der Gewässernamen hat gezeigt, daß die Heimat germanischer Völker dort zu suchen ist, wo alte germanische Ortsnamen zu finden sind: das ist weder Schleswig-Holstein, noch Dänemark oder Schweden, sondern der Raum nördlich der deutschen Mittelgebirge. - Die Aufgabe der Wissenschaft besteht darin, Thesen zu prüfen. Das ist im Fall der nordischen Zuwanderung nach Mitteleuropa nie geschehen.

Die Namenforschung gräbt auf dem „Friedhof der Wörter“

EM: Wenn die Germanen nicht das „Nordische“ verkörpern, sondern selbst in den Norden eingewandert sind, dann fragt sich doch aber, wer lebte dort vorher und woher kamen die Germanen dann?

Udolph: Wir haben auch in Skandinavien einige alteuropäische, sprich indogermanische Gewässernamen - allerdings wesentlich weniger als auf dem europäischen Festland -, die dafür sprechen, daß auch dort indogermanische Dialekte gesprochen worden sind. Was aber deutlich anders ist als auf dem germanischen Festland: es fehlt der allmähliche Übergang von indogermanisch-alteuropäischen Gewässer- und Ortsnamen zu germanischen, d.h. es besteht keine Kontinuität in der Entwicklung. Gerade diese finden wir aber in hohem Maß in folgenden Gebieten: südliches Niedersachsen, westliches Sachsen-Anhalt, Thüringen. Darunter befinden sich so fruchtbare Gebiete wie Magdeburger und Hildesheimer Börde, die selbstverständlich Siedler früh anzogen. Eine eingehende Untersuchung der Ortsnamen des Kreises Hannover, einer der größten in Deutschland, zeigt sehr genau, daß sich die alten Ortsnamentypen im Süden des Kreises finden lassen (Lößbörde), die jüngeren mehrheitlich nördlich davon.

EM: Und solche Erkenntnisse lassen sich allesamt aus der Ableitung und Deutung von Fluß- oder Bergnamen gewinnen?

Udolph: Hans Krahe hat erkannt, daß die Gewässernamen die ältesten Zeugen der europäischen Sprachgeschichte sind und daß deshalb jede sprachliche Erforschung der Urzeiten eines Landes von den Gewässernamen auszugehen hat. Zudem hat er herausgefunden, daß die ältesten Gewässernamen aus einem ganz bestimmten Wortschatz-Areal stammen: Es sind Bezeichnungen für Wasser selbst oder für damit unmittelbar zusammenhängende Faktoren. Er formulierte diese Erkenntnis so: „Hinsichtlich der Semasiologie und Etymologie geht die ursprünglichste und zweifellos älteste Namenschicht von sogenannten Wasserwörtern aus, das heißt von Bezeichnungen für ‚fließendes Wasser‘, ‚Quelle‘, ‚Bach‘, Fluß‘, bzw. ‚fließen‘...mit zahllosen feineren und feinsten Bedeutungsschattierungen, wie sie dem früheren Menschen bei seiner genauen Naturbeobachtung in reichem Maße zu Gebote standen ...“. Nimmt man dieses ernst und prüft anhand dieser Prämisse die Verbreitung der entsprechenden Gewässernamen etwa im Slavischen (Jürgen Udolph, Studien zu slavischen Gewässernamen und Gewässerbezeichungen, Heidelberg 1979) oder Germanischen, so kann man nicht nur sichere Hinweise auf die frühesten Siedlungsgebiete, sondern auch auf die Ausgliederungs- und Abwanderungswege gewinnen. Der Grund liegt darin, daß etliche der sogenannten Wasserwörter, wie im Wortschatz allgemein, im Verlauf der Sprachgeschichte sterben und dieses Verschwinden sich in dem allmählichen Nachlassen im Namenbestand nachweisen läßt.

EM: Muß die Sprachwissenschaft künftig die Namenforschung stärker berücksichtigen, weil sie in ihr quasi ihre „Scherben, Knochen und Sedimente“ findet, auf dem „Friedhof der Wörter“, wie Sie formuliert haben?

Udolph: Unbedingt. Allerdings erfordert die Beschäftigung mit Gewässer- und Ortsnamen einen hohen Einsatz. Bevor einer dieser Namen herangezogen und etymologisiert werden kann, muß er in seiner historischen Entwicklung untersucht werden, wozu vor allem eine Zusammenstellung aller erreichbaren historischen Belege notwendig ist. Bei Gewässernamen kommt noch hinzu, daß man weite Bereiche Europas im Blick haben muß und zu beurteilen hat, ob man einen Namen einzelsprachlich oder voreinzelsprachlich erklären muß. Die Diskussion darüber ist immer kontrovers. Politisch motivierte Namenforschung – die es leider gibt – strebt oft danach, einen Namen aus einer Einzelsprache zu erklären. Die wissenschaftliche Namenforschung sollte versuchen, sich davon nicht beeinflussen zu lassen.

EM: Haben Sie vielen Dank für das Gespräch.

Literatur zum Thema:

Jürgen Udolph, Namenkundliche Studien zum Germanenproblem, Berlin - New York 1994.

Wolfgang Paul Schmid, Alteuropäisch und Indogermanisch, Wiesbaden 1968.

Zu dieser Thematik sind im EM bisher erschienen:

„Laute aus der Frühzeit: Sprach Eurasien einst mit einer Zunge?“ (EM 07-02).

„Die Sprachforschung hätte mehr Aufmerksamkeit verdient.“ (EM 03-03)

„Laute aus Eurasiens Frühzeit: die sprachlichen Fossilien der Uralier und der Indoarier führen wir noch heute im Mund.“ (EM 10-03)

„Das große Rätsel der indogermanischen Sprache – neuer Disput um Alter und Herkunft“ (EM 12-03)

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