„Behinderung gilt in arabischen Ländern als göttliche Strafe“EM-INTERVIEW

„Behinderung gilt in arabischen Ländern als göttliche Strafe“

„Behinderung gilt in arabischen Ländern als göttliche Strafe“

Die palästinensische Ärztin Jumana Odeh wurde 2008 für ihre Bemühungen zur Verbesserung der Lebensbedingungen behinderter Kinder mit dem „World of Children Health Award“ ausgezeichnet.

Von Muhanad Hamed

Dr. Andrea Schmitz  
Joumana Odeh  

E urasisches Magazin: Weshalb wurde Ihnen dieser Preis verliehen?

Joumana Odeh: Als Antwort auf diese Frage fällt mir zunächst einmal die Begründung der Jury ein: „Eine Frau, die sich, statt nach persönlicher Gewinnmaximierung zu streben, für Kinder in Palästina und überall auf der Welt einsetzt.“ Ich bin Kinderärztin geworden, weil es in diesem Beruf in erster Linie um den Menschen mit all seinen Beschwerden und Leiden geht. Und ich bin den Kindern dankbar, denn sie haben meinem Leben einen Sinn gegeben. Sicherlich haben zu meiner Entscheidung, gerade mit behinderten Kindern zu arbeiten, die im allgemein als „anders“ gelten und daher ausgegrenzt werden, auch die außergewöhnlich schwierigen Umstände beigetragen, unter denen sie und wir gezwungenermaßen unter der Besatzung leben. Wir wollen, dass die von uns betreuten Kinder trotz der kulturellen, sozialen und politischen Widrigkeiten in ihrem Umfeld glücklich und gesund aufwachsen können.

EM: Worum geht es bei diesem besonderen Preis?

Odeh: Der Preis will herausragende Persönlichkeiten ehren, die zur Verbesserung der Lebensbedingungen von Kindern in ihrem eigenen Land oder anderswo beitragen. Gestiftet wurde der Preis von Harry Leibowitz, der selbst als Kind als Flüchtling nach Amerika kam und bereits im Alter von zwölf Jahren gezwungen war, durch Arbeit zum Lebensunterhalt der Familie beizutragen, es später jedoch in Kalifornien zu einigem Reichtum brachte. Vor elf Jahren, als er selbst gerade an Krebs erkrankt war, brachten ihn Fernsehberichte über das Leiden von Kindern weltweit auf die Idee, einen Preis für Menschen zu stiften, die das Leben von Kindern verbessern. Für diese Auszeichnung, die dann fünf Jahre später als „Kinder-Nobelpreis“ bekannt wurde, wurde ich im letzten Jahr von Leibowitz' Stiftung „World of Children“ nominiert.

„Ich hoffe dass ich noch mehr für behinderte Kinder tun kann“

EM: Sie sind die erste arabische Ärztin, die diesen Preis erhält. Was bedeutet er Ihnen und was bedeutet er für die Frauen in Palästina und in der arabischen Welt insgesamt?

Odeh: Als man mir mitteilte, dass ich den Preis erhalten werde, war mir klar: Diese Ehrung gilt nicht allein mir persönlich, sondern allen Frauen. Ich bin auch glücklich darüber, diesen Preis in mein Land, nach Palästina, geholt zu haben. Wir können so der Welt zeigen, dass Frauen in Palästina sich aktiv für den Aufbau einer humanen Gesellschaft und für das Wohl von Kindern einsetzen - und dadurch etwas bewirken können. Und ich hoffe, dass ich in Zukunft noch mehr für die von uns betreuten Kinder werde tun können, denn sie haben wirklich mehr verdient.

EM: Sie leiten das Palestinian Happy Child Center (PHCC). Wie sind Sie auf die Idee gekommen, ein solches Zentrum aufzubauen und welche Ziele verfolgen Sie bei Ihrer Arbeit?

Odeh: Ich habe das Zentrum 1994 in Jerusalem gegründet, um auf die besonderen Bedürfnisse von so genannten behinderten Kindern eingehen zu können. Wir setzen uns für deren Rechte ein, bieten ihnen angemessene ärztliche Versorgung und fördern sie in ihrer Bildung sowie ihrer gesellschaftlichen Integration und Rehabilitation. Außerdem führen wir Untersuchungen zur Früherkennung von Behinderungen durch, um besser präventiv tätig werden zu können und bieten Angehörigen behinderter Kinder psychologische und familientherapeutische Beratung an.

Alle Leistungen des Zentrums können kostenlos in Anspruch genommen werden. Es ist damit die erste Einrichtung dieser Art in Palästina überhaupt und die Tatsache, dass uns infolge der Preisverleihung nun so viel Aufmerksamkeit zuteil wird, kann uns nur zugute kommen, nachdem wir 14 Jahre lang in aller Stille gewirkt haben, ohne dass uns irgend jemand in den Medien Beachtung geschenkt hätte.

Der Beginn einer Bewusstseinsänderung ist zu spüren

EM: In arabischen Ländern stellen Behinderungen ein gesellschaftliches Tabuthema dar. Wie gehen Sie damit um?

Odeh: Wir mussten uns dieser gewaltigen Herausforderung von Anfang an stellen, weil eben Behinderungen in unseren arabischen Gesellschaften nur mit äußerstem Misstrauen wahrgenommen und als etwas vollkommen Negatives betrachtet werden. Kinder mit körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderungen werden oft mitleidig oder abwertend behandelt, auch und ganz besonders von ihren Eltern, denen die Behinderung vielfach als eine Art göttliche Strafe gilt. Sie beginnen dann, nach dem Grund für diese Bestrafung zu forschen.

Hier setzt unsere Arbeit an. Wir bieten den Familien logische Erklärungen an, die es ihnen ermöglichen, besser mit der Situation zurechtzukommen und dieses Vorurteil zu überwinden. Darin liegt sicherlich unsere größte Herausforderung. Wir können aber bereits feststellen, dass sich generell die Haltung der Gesellschaft im Laufe der Zeit gewandelt hat, auch ganz speziell im Hinblick auf diese Kinder und ihre Familien.

EM: Wie würden Sie denn angesichts dieser weit verbreiteten Vorstellung von einer göttlichen Strafe, wie Sie sie gerade beschrieben haben, die Situation behinderter Kinder in Palästina beschreiben?

Odeh: Als äußerst desolat. Diesen Kindern werden ihre Rechte weitgehend vorenthalten. Besonders schlimm ist die Haltung der Gesellschaft, aber auch das Fehlen entsprechender öffentlicher Einrichtungen, die auf die Bedürfnisse dieser Kinder eingehen und die mangelnde behindertengerechte Ausstattung des öffentlichen Raumes: Alles, von Märkten und Geschäften über Freizeit- und Spielstätten bis hin zu Gesundheitseinrichtungen, ist nur auf gesunde Kinder ausgerichtet. Nichts ist so auf behinderte Kinder zugeschnitten, dass sie sich barrierefrei und ungehindert bewegen können.

Außerdem gibt es nicht genügend Einrichtungen oder Zentren, die sich gezielt um diese Gruppe kümmern, obwohl sie doch immerhin 2,3 Prozent der palästinensischen Bevölkerung ausmachen - ein recht hoher Anteil. Und auch in der Schule geht man nicht gezielt auf sie ein. Hier konnten wir zwar im vergangenen Jahr einen Erfolg verzeichnen, denn dank unserer Unterstützung können nun 44 leicht bis mittelschwer behinderte Kinder normale Schulen besuchen. Und wir haben auch ihre Eltern, die Pädagogen und das gesamte schulische Umfeld entsprechend geschult. Doch es bleibt noch viel, ja sehr viel zu tun. Wir haben noch einen langen Weg vor uns.

Behinderte Kinder leiden zu Hause und in der Schule

EM: Unter welchen Diskriminierungen leiden denn die Kinder in der palästinensischen Gesellschaft?

Odeh: Diese Frage lässt sich nur im Zusammenhang der gesamtpolitischen Situation der palästinensischen Gesellschaft beantworten. Die Abriegelungen und die Checkpoints des israelischen Militärs als Teil unserer täglichen Realität schränken uns in unserer Bewegungsfreiheit ein und erlauben nur einen begrenzten Zugang zu Betreuungs- oder Rehabilitationseinrichtungen. Darüber hinaus werden die Kinder natürlich leider auch zu Hause, in der Schule oder ganz allgemein gesellschaftlich diskriminiert. In öffentlichen Schulen beispielsweise ist die Diskriminierung ganz besonders sichtbar. Das ärgert mich umso mehr, als dass man zwar ständig von Politikern hört, wie sie sich zur Integration von behinderten Kindern an Schulen äußern, dies aber in der Praxis so gut wie gar nicht umgesetzt wird. De facto besuchen nur sehr wenige behinderte Kinder öffentliche Schulen. Wenn überhaupt, dann gehen sie auf private Schulen, die aber sehr teuer sind, so dass die meisten Familien sie sich nicht leisten können.

Hinzu kommt noch, dass in der Schule die Lehrer diese Kinder nicht genügend berücksichtigen oder einbinden und dass auch die Lehrpläne überhaupt nicht auf sie zugeschnitten sind. Es geht mir hier aber gar nicht um Mitleid, ich würde gar nicht wollen, dass man die Kinder ständig bedauert. Nein, ich will, dass ihre Rechte, ihre Würde und ihre Gefühle gebührend geachtet werden.

EM: Führen Sie auch Initiativen oder Programme zusammen mit europäischen Organisationen durch?

Odeh: Ja, wir führen zusammen mit europäischen Einrichtungen Projekte durch und nehmen gerne jede finanzielle Hilfe an, die unsere Arbeit fördert, auch wenn wir leider manchmal das Gefühl haben, dass uns Unterstützung aus Europa in sehr herablassender Weise gewährt wird. Dabei sollten derartige Kooperationen doch auf gegenseitigem Verständnis basieren und als Erfahrungsaustausch eine Bereicherung für alle beteiligten Seiten darstellen. Als Folge der Preisverleihung sind wir Mitglied von „World of Children“ geworden und können so nun unsere in Palästina begonnene Aufklärungsarbeit auch auf Dubai, Katar und Marokko ausweiten.

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Aus dem Arabischen von Nicola Abbas

© Qantara.de 2009

Interview Kultur

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