Demokratischer ReifeprozeßZENTRALASIEN

Demokratischer Reifeprozeß

In der mittelasiatischen Republik Kasachstan wurde ein neues Parlament gewählt. Ein Kommentar von Patrick Dombrowsky.

Von Patrick Dombrowsky

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Patrick Dombrovsky  

EM – Die am 19. September 2004 in Kasachstan abgehaltenen Parlamentswahlen markieren eine wichtige Etappe in dem seit 1991 in Mittelasien laufenden Prozeß der Staatenbildung. Es handelt sich um den ersten einer Serie von Urnengängen in der Region, die alle seit 2002 in einem tiefgreifend veränderten institutionellen Kontext stattfinden. Seit jenem Jahr haben nämlich alle fünf zentralasiatischen Staaten (Kasachstan, Kirgisien, Tadschikistan, Turkmenistan, Usbekistan) bedeutende Verfassungsänderungen vorgenommen, um ihre Funktionsweise effizienter zu gestalten. Freilich eingedenk der Gefahr, daß die Macht der Eliten, die seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion regieren, dadurch weiter gestärkt wird.

Zweifellos wird der kasachische Wahlgang Beispielwert und einen nicht zu unterschätzenden Imitationseffekt sowohl auf die Anrainerstaaten als auch gegenüber einer internationalen Gemeinschaft haben, die stets nachdrücklich auf die Einhaltung der vom Westen inspirierten demokratischen Normen wacht (übrigens nachdrücklicher als zu Sowjetzeiten). Dennoch hatten vereinfachende und systematisch kritische Analysen in der Presse wieder einmal Hochkonjunktur, während des Wahlkampfes und in den Tagen nach der Wahl. Analysen, die mittels gebetsmühlenartig wiederholter Vorurteile die von den zentralasiatischen Behörden seit dem Beginn der 90er Jahre allmählich betriebene Staatenbildung herabwürdigen. Die nachfolgenden Ausführungen sollten die Kritiker der postsowjetischen Staaten zu mehr Zurückhaltung veranlassen.

Eine junge Republik ohne staatliche Traditionen

Es ist zu berücksichtigen, daß die zentralasiatischen Staaten erst seit 13 Jahren, vom totalitären System der Sowjetunion ausgehend, in einem Dekolonisierungsprozeß begriffen sind. Das sowjetische System war sicherlich unter Michael Gorbatschow weit weniger repressiv als unter Stalin oder Breschnew. Nichtsdestoweniger erstickte das System auch nach 1985 jegliche Entfaltung individueller und nationaler Freiheiten im Keim, vor allem im zentralasiatischen Raum, der aufgrund seiner islamischen Religion und seiner traditionellen Clan-Erbfolge seit jeher von Moskau mit einem gewissen Mißtrauen beäugt worden war.

13 Jahre sind eine extrem kurze Zeit, um ein System politischer Freiheit zu schaffen, das kein westliches politisches Gemeinwesen in weniger als einem Jahrhundert hat errichten können. Dies gilt um so mehr, als daß kein zentralasiatischer Staat 1991 über Erfahrungen im Bereich staatlicher Organisation, Grenzsicherung und der aktuellen ethnischen Situation verfügte. Noch weniger als bei allen anderen neu entstandenen Staaten Zentralasiens war dies bei Kasachstan der Fall, wo die nomadische Kultur am längsten Bestand hatte (die letzten Zwangsansiedlungen fanden in den 30er Jahren statt). Zudem setzte sich die Bevölkerung zum Zeitpunkt der Unabhängigkeit lediglich aus 40 Prozent Kasachen zusammen, gefolgt von 37 Prozent Russen. Dies alles auf einem riesigen, wüstenhaften Territorium (fünfmal größer als Frankreich) mit vergleichsweise geringer Bevölkerung (nur 27 Prozent der Einwohner Frankreichs). Schließlich war der Grenzverlauf des jungen Staates besonders zu Rußland und China anfangs international nicht anerkannt.

Unter diesen Bedingungen konnte die Macht nur von den Eliten monopolisiert werden, die aus dem Erziehungssystem der sowjetischen Kommunistischen Partei hervorgegangen waren. Dennoch hat dies nicht zur Wiederbelebung des vergangenen Totalitarismus geführt. Man mag es akzeptieren oder nicht, aber das politische System Kasachstans ist trotz seiner Unvollkommenheiten weit davon entfernt, zu den großen Despotien der gegenwärtig fast 200 Staaten auf der Welt zu zählen. Es ist durchaus bedeutsam, daß es die Regierung selbst war, die die zahlreichen Gruppen unabhängiger Wahlbeobachter zu den Parlamentswahlen ins Land gerufen hat. Wahlen, bei denen 623 Kandidaten aus zehn Parteien und Parteiengruppierungen um 77 Abgeordnetenmandate konkurrierten.

Mit Genugtuung ist festzustellen, daß keine dieser Parteien auf eine einzige Ethnie ausgerichtet ist oder einer fundamentalistisch-religiösen Bewegung angehört. Dies ist um so beruhigender in einer Region, in der ethnische und religiöse Aspekte oft, wie in Afghanistan, als ausschließliches politisches Programm dienen. In Kasachstan zeichnet sich immer stärker eine parteipolitische Auseinandersetzung über Ideen und Programme ab, sei sie auch weniger intensiv als in den westlichen Staaten. Mehr und mehr entfaltet die Opposition realitätsnahe, programmatische Aktivitäten. So scheute die Partei „Assar“ nicht davor zurück, erhebliche Meinungsunterschiede gegenüber dem Präsidenten zu artikulieren, obwohl sie von der Tochter des Staatspräsidenten Nasarbajew geführt wird. Ähnlich konfrontativ gab sich die Partei der Demokraten „Ak Schol“, gegründet von ehemaligen Ministern und hohen Funktionären, die lange dem Machtzirkel der Regierung angehörten.

Die Regierung in Astana braucht Planungssicherheit

Die zentrale Bedeutung der Parlamentswahl besteht darin, die fraglos vorhandene politische Stabilität in Kasachstan weiter zu konsolidieren. Die islamistische Bedrohung oder das Risiko von ethnischem Separatismus sind glücklicherweise nicht akut. Kasachstan steht jedoch vor beträchtlichen sozioökonomischen Schwierigkeiten, die aus dem postsowjetischen Transformationsprozeß resultieren. Das Land mußte diese, wie auch die anderen vier zentralasiatischen Staaten, weitgehend alleine angehen. Für Mittelasien hat es kein Pendant zu den teuren bi- oder multilateralen Hilfsprogrammen gegeben (die sowieso kaum einen Staat der 'Dritten Welt' aus der Misere sozialer Ungerechtigkeit befreit haben). Dennoch macht der kasachische Entwicklungsprozeß von Monat zu Monat weitere Fortschritte, vor allem dank des Segens fossiler Brennstoffvorkommen. Alle zentralasiatischen Regierungen, besonders in Kasachstan, haben nunmehr die Notwendigkeit erkannt, soziale Ungerechtigkeiten auszugleichen, die weit verbreitete, noch aus der Sowjetära stammende Korruption zu bekämpfen und eine branchenspezifische, nachhaltige Entwicklungspolitik einzuleiten – vor allem im Umweltbereich. Ehrgeizige politische Projekte wie diese setzen voraus, daß die jeweilige Landesregierung langfristig planen kann. Dies stellte der jüngste Wahlausgang in Kasachstan sicher.

Natürlich sind auch bei dieser Wahl hie und da Verstöße gegen politische Normen bemängelt worden, die in der westlichen Staatenwelt zumindest vordergründig Geltung haben. Wenn es zu Wahlfälschungen gekommen ist, sind diese jedoch gemäßigt ausgefallen, denn die Präsidentenpartei „Otan“ wird in der kommenden Legislaturperiode wohl nicht mehr als 60 Prozent der Parlamentssitze belegen – damit verfügt sie über ebenso viel Gewicht wie die UMP in der gegenwärtigen französischen Nationalversammlung.

Selbst wenn man davon ausgeht, daß die westliche Version der Demokratie als universelles Ideal dienen kann, was längst nicht bewiesen ist, sollte den zentralasiatischen Staaten nicht das Recht abgesprochen werden, in ihrem eigenen Rhythmus auf dem Weg institutioneller Konsolidierung voranzuschreiten – einem Weg den sie erst seit 13 Jahren verfolgen. Es entspricht sicherlich unserem Moralverständnis, uns für den Fortschritt der Ideen einzusetzen, an die wir mit Bestimmtheit glauben. Es liegt aber in unserem Interesse, daß Mittelasien seinen geopolitischen Reifeprozeß in stabilen Verhältnissen vollendet. Daher ist es unsere Pflicht, keine überzogenen und keine übereilten Forderungen an die Regierungen zu stellen, die diesen Reifeprozeß durchlaufen.

*

Dr. Patrick Dombrowsky ist Direktor des Zentrums für diplomatische und strategische Studien in Paris, Forscher am „Choiseul-Institut für Internationale Politik und Geoökonomie“ und Mitglied der Denkfabrik „Asie 21“ . Er hat in Paris das Mittelasien-Forschungszentrum „CERAM“ gegründet und ist Redaktionsleiter der CERAM-Infos, des einzigen französischsprachigen Infobriefes zu Mittelasien (Netz: www.oaric.com/ceram.htm, E-Post: ceram-oaric@netcourrier.com). Für die Übersetzung des Textes aus dem Französischen danken wir Christian Jansen.

GUS Zentralasien

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