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NORDSYRIEN
Von Kenan Engin | 16.11.2015
Am prekärsten war und ist die Lage im Nordsyrien, wo die Kurden seit Jahrzehnten keine Anerkennung genießen und als Staatenlose gelten. Im Zuge des Arabischen Frühlings bot der Zerfall Syriens den Kurden die günstigste Möglichkeit, die sie je hatten, sich politisch und militärisch zu organisieren.
Schon zu Beginn der Auseinandersetzungen im Jahr 2012 begannen die Kurden kontinuierlich -teils mit Duldung von Damaskus- die nördlichen Teile Syriens, wo etwa 2,5 Millionen Kurden leben, unter ihre Kontrolle zu bringen. Dieses Territorium nannten sie 2004 „Rojava (Westkurdistan)“, das als autonome Selbstverwaltung agiert und nach schweizerischem Modell in drei Kantone (Cizire, Kobane und Efrin) geteilt ist. Die politischen und strukturellen Grundlagen der Kantone beruhen auf der Gesellschaftsideologie von PKK-Chef Öcalan. Diese enthält in vielen Bereichen wie z.B. im Bereich Staat-Religion-Beziehung, Frauenrechte, Minderheitenrechte oder Beteiligung von Randgruppen an politischen Prozessen progressive Denkansätze. Jedoch wird das System von Menschenrechtsorganisationen aufgrund der zahlreichen Menschenrechtsverletzungen und der Nichtduldung von oppositionellen Kräften als repressiv eingestuft.
Allerdings erlangen die Kurden weltweite Bedeutung nicht primär wegen ihres aufgebauten Verwaltungssystems in Nordsyrien, sondern vor alledem aufgrund ihres Kampfes gegen den IS und Al-Nusra. Am Anfang des syrischen Konfliktes schlug die kurdische Partei der Demokratischen Union (PYD) einen dritten Weg ein und vermied Streitigkeiten sowohl mit der Regierung als auch der Opposition. Auf diese Weise konnte sie erstens unbemerkt aus existierenden militärischen und politischen Kräften in Nordsyrien eine Allianz bilden, während andere Mächte einen erbitterten Kampf unter sich führten. Zweitens konnte sie in den von Regierungstruppen verlassenen Gebieten einen quasi-Staat aufbauen und ihre Macht weitgehend stabilisieren.
Anfänglich nahmen die IS-Truppen die kurdischen Gebiete nicht ins Visier und schlugen sogar nach dem Motto „Wenn Ihr uns nicht angreift, greifen auch wir nicht an“ ein Nichtangriffsabkommen vor. Gegen Ende 2014 gaben sie diese Devise auf und griffen die Kurden an. Die Bedrohung seitens des IS und der al-Nusra stärkte jedoch die Machstellung der PYD auch deshalb, weil die Bevölkerung (Kurden, Araber, Sunniten, Christen, Jesiden) sie als Beschützer sahen. Daraus entstand eine Macht, die auf einer Verflechtung von militärischen und gesellschaftlichen Strukturen beruht, was der PYD ermöglichte, rasch und effektiv gegen IS zu handeln. Der Rückhalt in der Gesellschaft erlaubte es der PYD auch, polizeiliche und militärische Einheiten aufzubauen. Die Mitgliederzahl der Asayis (Polizei) und der YPG (Yekineyen Parastina Gel/ Volksverteidigungseinheiten) betrug in Kürze mehr als 65.000 Personen (Stand Juni 2015). Ein erheblicher Anteil besteht aus Fraueneinheiten (YPJ, Yekineyen Parastina Jinan). Seit 2014 sind sie im Kampf gegen den IS verbündet mit den assyrisch-aramäischen Milizen (Sutoro-Einheiten) und mit Einheiten der Freien Syrischen Armee sowie kleinen oppositionellen Gruppierungen wie „Vulkan des Euphrat“, obwohl sie ganz unterschiedliche Vorstellungen vom zukünftigen Syrien haben. Insgesamt betrachtet sind die YPG derzeit die einzig wohlorganisierte militärische Kraft, die in Nordsyrien den IS erfolgreich bekämpft.
Die PYD wurde zwar bisher nicht als terroristische Organisation eingestuft, aber wegen ihrer ideologischen Nähe zur PKK wurde sie oftmals kritisiert. Allerdings bescherte ihr der erfolgreiche Kampf gegen den IS in Kooperation mit den USA, insbesondere um die Stadt Kobane 2015, internationale Anerkennung. Daraufhin intensivierte sich die Zusammenarbeit mit den USA. In der Folge konnten die gesamten Dörfer um Kobane und die strategische Stadt Tel Abayd mit Hilfe der Luftangriffe der USA eingenommen werden. Mit der Einnahme von Tal Abyad wurde die wichtigste Lebensader des IS in die Türkei abgeschnitten. Damit kontrollieren die YPG einen durchgängigen Streifen von hunderten Kilometern entlang der türkischen Grenze. Darüber hinaus konnten die kurdischen Einheiten gemeinsam mit den USA die Eroberung des Sindschar-Gebirges durch den IS verhindern. Damit wurde ein Massaker an Jesiden vereitelt. Es darf dabei nicht unerwähnt bleiben, dass die Zusammenarbeit zwischen den USA und der PYD bzw. den YPG zum Teil der politischen Haltung der Türkei gegenüber dem IS zu verdanken ist. Die fehlende Bereitschaft der Türkei gegen den IS zu kämpfen zwang die USA zu einer Zusammenarbeit mit der YPG.
Außerdem lehnte die Türkei lange Zeit die Errichtung eines Korridors für humanitäre und militärische Hilfe zwischen dem kurdischen Autonomiegebiet und Kobane während des IS-Angriffes auf Kobane ab. Im Gegenteil, die Türkei gewährte den IS-Kämpfern Unterschlupf und versorgte sie mit Waffen und anderen logistischen Möglichkeiten, um vor allem die mögliche Errichtung einer zweiten Kurdenautonomie zu verhindern. Dies führte zu einer Allianzenverschiebung, sodass die YPG, die früher wegen ihrer Affinität zur PKK als terroristische Organisation betrachtet wurde, eine der wenigen verlässlichen Partner des Westens auf dem syrischen Boden gegen IS wurde. Diese Gelegenheit nutzte die PKK aus. Durch starke mediale Arbeit und offizielle Gespräche auf nationaler und EU-Ebene konnte sie eine große Anerkennung und Sympathie im Westen für sich erlangen.
Die gewisse Sympathie in den Westen hat dazu geführt, dass die PYD nicht nur mit den USA, sondern auch mit EU-Staaten wie z.B. Frankreich und Italien diplomatische Beziehungen aufnehmen konnte. Trotz der Tatsache, dass die PYD fast als alleinige Macht in Syrien gegen den IS Widerstand leistet und die Interessen des Westens vertritt, fand sie bei der Mehrheit der EU-Staaten keinen offiziellen Zuspruch. Hier ist eine ambivalente EU-Politik zu beobachten. Während sie bei jeder Gelegenheit den Kampf der PYD gegen den IS bejubeln, distanzieren sie sich aber in ihrer Mehrheit (u.a. Deutschland ) von der PYD und vermeiden mit der PYD sogar auf der untersten Ebene diplomatische Beziehungen aufzunehmen.
Sie möchten einerseits ihre Beziehungen mit der Türkei nicht aufs Spiel setzen aber andererseits sich auch nicht bei den Arabern in Syrien und in den Nachbarstaaten verhasst machen. Da die PYD nicht die erhoffte Unterstützung in Europa findet, ist zu erwarten, dass sie zukünftig stärker mit den USA zusammenarbeiten wird. Auch die USA sind auf Kooperation mit der PYD angewiesen, da sie sie als einzige verlässliche Bodentruppe gegen den IS sehen.
Ebenfalls könnte eine mögliche kurdisch-russische Kooperation dazu führen, dass der Einfluss der EU-Macht in der Region erheblich reduziert wird. Vor diesem Hintergrund, dass die PYD die in der Region eine echte Stabilisator-Rolle hat, wäre dafür zu plädieren, dass die EU-Staaten stärkere bilaterale Beziehungen mit der PYD aufnehmen, um sowohl die Macht des IS einzudämmen, als auch durch die Errichtung einer sicheren Zone in Syrien die Zahl der Flüchtlinge aus dem Land zu verringern.
In Anbetracht der bisherigen Misserfolge des eigenen Trainings- und Ausrüstungsprogramms teilen die USA die türkische Sorge um die Sicherheit der Grenze. Die Bereitschaft der Türkei, die eigenen Militärbasen zu öffnen, hat seitens der Amerikaner zu einer größeren Bereitschaft geführt, sich dessen bewusst zu werden, dass ein weiteres Ignorieren der sunnitischen Opposition im Norden Syriens die Instabilität verstärken wird. Außerdem hat die Türkei im Zuge der Vereinbarung über die Teilnahme an der Anti-IS-Koalition ihre eigenen roten Linien abgesichert. Dies wird die PYD auf Grund von pragmatischen Überlegungen davon Abstand nehmen lassen, mit Blick auf die Sicherheitszone provokatorische Aktionen zu unternehmen, die ihre eigenen regionalen Zugewinne in Gefahr bringen könnten – auch wenn man insgeheim lieber heute als morgen die Region zwischen Afrin und Kobane einnehmen würde.
Foto: Peschmerga-Kämpfer während eines Trainings, Ali Hargis / US Army Photo
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