„Der Zahir“ von Paulo CoelhoGELESEN

„Der Zahir“ von Paulo Coelho

Um einen weiblichen Zahir - nach Paulo Coelho etwas, das man nicht mehr vergisst, wenn man einmal in Natura damit in Kontakt gekommen ist – und die Weiten Kasachstans dreht sich „Der Zahir“. Das Buch ist eine in Südkasachstan endende Fabel, wie sie wohl nur Coelho schreiben konnte, der brasilianische Bestsellerautor für die Seele.

Von Gunter Deuber

„Der Zahir“ von Paulo Coelho  
„Der Zahir“ von Paulo Coelho  

P aulo Coelho schreibe in einem fort über dasselbe, wenn er zur Feder greift, so die Tadler eines der heute meistgelesenen Autoren weltweit. An ansehnlichen Literaten wie dem Brasilianer Coelho, dessen Werke wie „Der Alchimist“ in über 60 Sprachen vorliegen, scheiden sich die Geister der Literaturkritik. Das Einfältigkeitsargument sticht sicherlich nicht so leicht, denn für den 2005 weltweit erschienen Roman mit dem aus dem Koran entlehnten Titel „Der Zahir“ guckte sich Coelho eine exotische Kulisse aus: Um Kasachstan kreisen viele der 300 Seiten des Zahirs – weswegen eine der über 40 Erscheinungssprachen des Werkes auch das Kasachische ist.

Der namhafte kasachische Literat Schumagali Ismagulow übertrug das Buch eigenen Angaben zufolge in nur knapp zwei Monaten in seine Muttersprache und das an einem Stück. Fasziniert habe ihn der in Paris beginnende Plot, der den Leser nach Alma-Ata oder besser Almaty entführt und dann im sagenumwobenen Südkasachstan, der Tengri-Kultur und ihrer bewahrten Traditionen endet. Und doch beginnt alles in nahezu typischer, autobiographischer Coelho-Manier. Ein vermeintlich von allen Lebenszwängen losgelöster Kulturschaffender mit Renommee pendelt zwischen Madrid, Mailand und Paris, verkehrt in illustren Kreisen, gibt Signierstunden und schreibt Gefälligkeitsarbeiten, die für ihn ohne Belang sind. Das klingt nach Sorglosigkeit. Aber der Erzähler kommt mit sich nicht zu Rande. Er ist auf der Suche nach sich selber. Abstecher in die Pyrenäen oder der Pilgrimspfad Jakobsweg führen nicht zum Ziel. Denn der Schlüssel zum Ich des Erzählers führt über den Zahir und der ist Kasachstan – aber das kann er hier noch nicht wissen. Später muss Coelhos Hauptfigur erst einen Atlas zu Rate ziehen, um zu wissen wo sein Zahir zu finden ist. Der Zahir ist Esther und die ist seine Frau. Sie ist um die Dreißig und muss wundervoll sein. Keine andere Liebschaft und Lebensabschnittsgefährtin nach ihr kommt ihr gleich. Aber Esther war ohne ein Wort zu sagen plötzlich auf und davon.

Mikahil, die mongolische Spur

Nach Entführungsverdacht und Wechselbädern der Gefühle kreuzt nach einer Signierstunde des Literaten ohne Wissen über Kasachstan Mikahil mit mongolischen Gesichtszügen auf. Der Mittzwanziger Mikahil ist eigentlich Oleg, aber heute trägt er den Namen eines der vier Erzengel. Man erfährt, dass es früher für Oleg nicht einfach war in der Kasachischen SSR. Mikahil schildert sein einstiges Dasein als Epileptiker der an spirituelles glaubt, der Wunder erlebte und göttliche Stimmen hörte in einem Land, in dem Religiöse oder Esoteriker „Volksfeinde“ waren. Heute strahlt der von Mystik und Geheimnissen umwitterte Kasache Mikahil Kraft, Ruhe, Glauben und ein besonderes Glück aus. Esther soll nun genauso glücklich sein wie er, weil sie nun in seiner Heimat ist. Alles begann als Esther ihn als Dolmetscher und als Mensch mit dem Glauben an höhere Dinge aus Kasachstan nach Paris holte. Dies und vieles mehr erfährt der Erzähler persönlich von Mikahil. Es scheint klar: Mikahil ist der neue Freund und Geliebte Esthers. Aber ihre Flucht war keine für einen Liebhaber. Auch sie sucht Seelenruhe, verspricht sich dies in der kasachischen Steppe und Mikahil muss dem Erzähler darauf aufmerksam machen, dass er nichts verstehe. Langsam wird ihm klar, dass seine Esther nicht einfach so zurückkommen wird. Er will und muss sie suchen. Mikahil bremst den Erzähler anfangs in seinem Drang nach Kasachstan zu reisen. Ohne ihn wäre die Fahrt zu Esther nach Kasachstan sowieso eine Suche nach der Stecknadel in der Steppe. Mikahil strahlt Langsamkeit und Ruhe aus. Er spricht lieber über seine Weltsicht. Eine von Stolz, magischen Kräften, göttlicher Energie und der Spiritualität einer generationenalten nomadischen Kultur - der Tengri-Kultur - geprägte Sicht der Dinge. Coelhos Protagonist sucht zunächst nichts von alldem, sondern nur seine Frau. Und deswegen landet er eher später als früher, in Almaty. Einer Stadt mit Leuchtreklamen, wie „jede andere“.

Esthers neue Heimat

En passant nimmt der Leser einiges von Zentralasien und Kasachstan mit. Amerikanische Militärbasen und Konflikte brachten die umtriebige Kriegsreporterin Esther einst in Kontakt mit Zentralasien. Schon vor ihrem endgültigen Rückzug nach Südkasachstan war sie fasziniert von den noch umherziehenden Nomaden, der Tengri-Kultur und ihren Schamanen. Mikahil erzählt viel über sein Kasachstan und seine Landsleute. Deren Stolz auf Steppe und Pferde, die unerwartete Unabhängigkeit, Traditionen wie das Reiter-Verführungsspiel Kyz Kumai oder die Renaissance der Religionen, der Esoterik und vieler Sekten. Er spricht auch über die leidvolle Geschichte seines Landes, dass mit Mikhails Worten „mit Blut getränkt ist, dessen Seele voller Leid ist“. Er erzählt von Arbeitslosigkeit, der geschlossenen Textilfabrik in seinem Heimatdorf, von der Aral-See-Katastrophe, von Atomexplosionen, Hungersnöten und der Kollektivierung der 1930er.

Über die Mystik der Weite und seine Tengri-Kultur spricht der Erzengel des Romans aber nicht nur. Er bringt sie auf der Reise in ein entlegenes Nest Südkasachstans und zu Esther nicht nur der suchenden Romanfigur nahe. Der geneigte Leser mag sich fragen, wie Coelho zu all dem Stoff kam. Dem Coelho-Kenner liegt die Antwort auf der Zunge. Er hat wieder autobiografisch und über seine ausgedehnten Reisen geschrieben. So ist es. Coelho reiste vor Erscheinen des Buches selber von Europa nach Eurasien, von Madrid über Almaty bis in die Steppe Südkasachstans. Deren Weite und dortige Lebensweisen haben ihn sichtlich beeindruckt. Zuvor bezeichnete Coelho immer sein Heimatland Brasilien als das eindeutig spirituellste Flecken Erde. Im Epilog spricht er allen Menschen Dank aus, die ihm tiefe Einblicke in ihr Kasachstan gaben und dankt guter letzt mit Achtung Herr Nursultan Nasarbajew. Coelho dankt für den Empfang beim Präsidenten und dass dieser den Atomtests und der militärischen Nutzung der Atomkraft in Kasachstan ein Ende setzte.

Einblicke in Kasachstan hat Paulo bekommen und seinen Kritikern folgend mag er mit der Odyssee zum Zahir nach Südkasachstan wieder über das Gleiche geschrieben haben - über Liebe, Sehnsucht, Obsession und Spiritualität. Doch über dasselbe wie immer hat er mitnichten geschrieben, denn kaum ein Autor von Weltrang hat bis dato über Kasachstan geschrieben und war vor Ort. Mit Esthers Worten gesprochen, die schlussendlich am vermeintlichen Ende der Welt Französisch lehrt und Teppiche webt, endet Coelhos Geschichte mitnichten am Ende der Welt. Im Ganzen bleibt noch zu fragen: Taugt die Steppe für ein Happyend? Hat der Zahir Esther nur auf unsere Hauptfigur gewartet? Nicht zu vergessen, dass die aufschlussreiche Reise des nimmermüden Erzählers zu dem Ich und seinem Zahir bis nach Zentralasien zwei Jahre, neun Monate, elf Tage und elf Stunden gedauert hat.

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Rezension zu: „Der Zahir“ von Paulo Coelho, Diogenes Verlag Zürich, 2005, 341 S., 21.90 Euro, ISBN 3-257-06464-0.

GUS Rezension Zentralasien

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