09.08.2023 13:11:56
EM-INTERVIEW
Von Christoph Dreyer
urasisches Magazin: Im September 2010 – noch vor Beginn der Revolution in Tunesien – schrieben Sie in einem Kommentar, es sei an der Zeit für die Ägypter, gegen das Regime mobilzumachen. Hatten Sie eine Vorahnung vom Ausmaß dessen, was wenige Monate später in Ihrem Land passieren sollte?
Ahdaf Soueif: Wir wussten schon lange, dass etwas passieren musste. Aber wie es aussehen, wie lange es dauern und ob es erfolgreich sein würde – dahinter standen sehr große Fragezeichen. Es überwog die Skepsis, ob die Macht des Volkes große politische Veränderungen auslösen könnte. Noch am 24. Januar 2011 sprach ich in einem Fernseh-Interview darüber, wie wir alle spürten, dass sich etwas ändern würde, ohne zu wissen, wie es aussehen könnte. Einen Tag später kam die Revolution ins Rollen.
EM: In Ihren Werken haben Sie stets versucht, den verzerrten Blick des Westens auf die arabische Welt gerade zu rücken. Hat der arabische Frühling in dieser Hinsicht etwas verändert?
Soueif: Wahrscheinlich schon, obwohl die westlichen Medien - besonders die traditionellen, etablierten Medien - sehr oft nur über den Aufstieg der Islamisten oder die Lage der Frauen in der arabischen Welt sprechen wollen. Es sind die immer gleichen ermüdenden Geschichten, denen man offenbar nicht entrinnen kann. Aber durch die Ereignisse sind sie unbedeutend geworden. Die Revolutionen in der arabischen Welt sind von den Arabern für die Araber erstritten worden, und der Rest der Welt muss daran erst noch den Anschluss finden. Die Menschen, um die es wirklich geht, sind diejenigen, die in Berührung mit der Revolution stehen und darin aktiv sind. Rund um die Welt gibt es inzwischen ein Netzwerk meist junger Menschen, die sich austauschen und sich gegenseitig helfen und von ihren jeweiligen Erfahrungen profitieren. Die haben nicht diese alten Komplexe, wer Weißer und wer Muslim ist. Das finde ich außerordentlich ermutigend.
EM: Wann haben Sie gemerkt, dass sie durch ihre Kommentare und Interviews für das westliche Publikum zu einer Art Chronistin der Revolution geworden waren?
Soueif: Das ist Teil dessen, was ich seit langem tue. Der Zufall meiner geografischen und sprachlichen Position hat mich in diese Übersetzer-Rolle gebracht. Früher war das sehr stark der Fall, als ich im „Guardian“ in neuer und ungewohnter Weise über Palästina schrieb. Als die Revolution in Ägypten ausbrach, war es wohl unvermeidlich, dass all diese Anrufe westlicher Medien begannen.
EM: Sind Sie froh über diese Bestätigung ihrer langjährigen Arbeit?
Soueif: Ich habe kein Problem mit dieser Rolle. Sie bereitet mir nur zunehmende praktische Probleme – mit meiner Zeit. Die Revolution ist die Summe all der kleinen Dinge, die jeder von uns tut. Folglich ist alles wichtig, was man beitragen kann, egal wie wenig es sein mag. Deshalb möchte ich die ganze Zeit etwas tun - und nicht schreiben, interpretieren oder erklären. Ich bemühe mich, eine Balance zu finden.
EM: Sie sind auch auf einer sehr persönlichen Ebene in die Ereignisse verstrickt: Neben Ihnen selbst sind viele Ihrer Familienangehörigen Teil der Bewegung, der Bekannteste ist Ihr Neffe Alaa Abd El Fattah, der als Blogger zu einem der Helden der ägyptischen Revolution geworden ist. Verschafft Ihnen das einen direkteren Zugang zu den Gefühlen der jungen Menschen auf dem Tahrir-Platz?
Soueif: Dadurch, dass alle jungen Leute aus meiner Familie - besonders Alaa - sich an der Revolution beteiligen, sitze ich sozusagen in der ersten Reihe. Ich weiß, was die jungen Leute denken, ich weiß, was sie vorhaben. Ein Stück weit setzen sie mich auch ein. Mitunter benötigen sie jemanden, der älter und etablierter ist – was nicht heißt, dass „etabliert sein“ etwas Gutes wäre, aber manchmal ist eben es nützlich. Zum Beispiel bitten sie mich, vielleicht zwischen Politikern verschiedener Couleur zu vermitteln, und so etwas tue ich sehr gerne für sie.
EM: Gibt es Unterschiede in Ihren eigenen politischen Ansichten und denen der Jugend?
Soueif: Eigentlich nicht, denn wir sind uns einig auf der Ebene der Ideen, der großen Ziele der Revolution: Menschenrechte, soziale Gerechtigkeit, Freiheit. Was die Umsetzung angeht, folge ich ihren Plänen und Vorhaben gerne. Wenn ich einen Vorschlag habe, bringe ich ihn ein. Aber es ist die Jugend, die uns dahin gebracht hat, wo wir heute stehen. Sie hatte die Vision und den Mut. Und die Welt, die wir alle zu gestalten versuchen, ist in erster Linie ihre Welt. Deshalb sehe ich die Rolle von Menschen wie mir darin zu sagen: Wenn ihr mich braucht, bin ich da.
EM: Wann würden Sie die ägyptische Revolution als vollendet betrachten?
Soueif: Die Revolution ist ein Prozess, der lebendig ist und weitergeht. Aber sie wird dann auf gutem Weg sein und aus eigener Kraft atmen und funktionieren, wenn ein Minister sich wie jeder andere anstellen muss, um sein Kind an einer staatlichen Schule anzumelden, weil diese Schule so gut ist.
EM: Was ist mit dem Militär?
Soueif: Natürlich muss das Militär weg. Das ist eine Voraussetzung, damit wir mit der Arbeit an den Zielen der Revolution überhaupt beginnen können.
EM: Haben Sie Angst davor, dass die Islamisten die Macht an sich reißen könnten? Schließlich sind die Ansichten dieser Menschen so ziemlich das Gegenteil des Weltbürgertums, in dessen Geist Sie in den 1960er Jahren aufgewachsen sind und für das Sie seit jeher streiten.
Soueif: Aber der Islam selbst steht nicht im Gegensatz zu diesem Geist. Es geht nicht darum, ob ich Angst habe oder nicht. Die Islamisten sind da, und wir müssen mit ihnen arbeiten. Ich denke, dass es sie in gewisser Weise verändern wird, wenn sie Macht haben, sichtbar sind und Verantwortung tragen. Wir arbeiten zusammen. Wenn sie etwas tun, das uns missfällt, bekämpfen wir sie. Das ist ein Prozess, und ich habe kein Problem damit. Wir werden damit zurechtkommen, aber erst einmal muss - wie gesagt - das Militär weg.
EM: Wie wird Ägypten in fünf Jahren politisch aussehen?
Soueif: Ich hoffe, in fünf Jahren haben wir zum zweiten Mal gewählt, haben ein ausgewogenes Parlament und sind schon ein gutes Stück in Richtung Freiheit und sozialer Gerechtigkeit vorangekommen. Ich hoffe, dass wir dann einen völlig umgebauten Sicherheitsapparat haben mit einer kleinen, anständigen Polizei. Ich hoffe, dass wir eine starke Armee haben, die ihre Aufgabe darin sieht, die Grenzen und die Souveränität unseres Landes zu verteidigen. Ich hoffe, dass die Verwaltung stark dezentralisiert ist und lokale Aufgaben deutlich besser wahrgenommen werden als heute. Ich hoffe, dass wir ein gutes Stück damit vorangekommen sind, unsere Freundschaft mit den Staaten in der Region zu erneuern - in Afrika, in Teilen Asiens - und dass wir ein gesünderes und respektvolleres, ausgeglicheneres und gleichberechtigteres Verhältnis mit unseren Freunden in Europa und Amerika haben.
EM: Glauben Sie, dass Sie irgendwann in der Lage sein werden, den Arabischen Frühling literarisch zu verarbeiten – und wie lange könnte das dauern?
Soueif: Ich habe in den vergangenen vier oder fünf Jahren ganz langsam und mit vielen Unterbrechungen an einem Roman gearbeitet. Ich habe recherchiert, es gab ein Konzept und lebendige Figuren, und als die Revolution losging, war mein dritter Gedanke: Ist dieser Roman jetzt überholt? Aber ich glaube nicht. Ich hoffe, dass ich jetzt jeden Tag etwas Zeit finde, um wieder an diesem Roman zu arbeiten und zu sehen, wie er aus heutiger Sicht aussieht und wie relevant er noch ist. Ich will herausfinden, ob er meine Fantasie immer noch genug fesselt, um etwas aus ihm zu machen und ihn zu veröffentlichen. Es wird interessant sein zu sehen, ob mir das gelingt.
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© Qantara.de 2012 - http://bit.ly/y8X4nq
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Lesen Sie dazu auch: „Die ägyptische Revolution ist eine dreiköpfige Schlange“ in EM 12-2011.
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