„Gesellschaft braucht der Tor, und Einsamkeit der Weise.“GLOBETROTTER- REISEN

„Gesellschaft braucht der Tor, und Einsamkeit der Weise.“

„Gesellschaft braucht der Tor, und Einsamkeit der Weise.“

Im Interview mit dem Eurasischen Magazin spricht der erste Vorsitzende der Deutschen Zentrale für Globetrotter, Norbert Lüdtke, über die Faszination des individuellen Reisens. Er erläutert den Unterschied zwischen Globetrotter-Reisen und Urlaub, warum Südamerikafahrer nicht durch Asien reisen, weshalb das Heimkommen für manche ein Schockerlebnis ist und wie es kommt, daß Globetrotter bevorzugt über Unterkünfte und Toiletten reden.

Von Hans Wagner

Norbert Lüdtke  
Norbert LüdtkeNorbert Lüdtke wurde 1956 geboren und lernte schon als Fünfjähriger das Strand- und Zeltleben an den Küsten Europas kennen.

1977 fuhr er per Interrail bis Marokko, im Rucksack Hemingway und James A. Micheners „Die Kinder von Torremolinos“.

Während seines Chemiestudiums und danach hat Lüdtke Rucksackreisen durch Jordanien, Syrien, Ägypten, Israel, Kenia, Sudan, Botswana, Zimbabwe, Südafrika sowie durch die Sowjetunion, China, Tibet, Nepal und Indien unternommen.

Seit 1981 ist er Mitglied der Deutschen Zentrale für Globetrotter (dzg). In den 80er Jahren durchfuhr er mit dem LKW in sieben Monaten die Libysche Wüste, Ägypten, Sudan, Zentralafrika, Zaire, Ruanda, Burundi, Uganda, Kenia.

In den 90er Jahren entdeckte Lüdtke „die Langsamkeit und Europa“. Schwerpunkte waren Bergwandern und Bergsteigen, Kletter- und hochalpine Touren in den Alpen, den Pyrenäen, im Durmitor-Gebirge (Montenegro), auf Teneriffa, in der Tschechei und vielen Regionen Deutschlands.

Er hat das „Archiv zur Geschichte des Individuellen Reisens“ (AGIR) aufgebaut, das ca. 7000 Bücher, 800 Zeitschriftenjahrgänge und 15.000 Artikel und Broschüren enthält.

Norbert Lüdtke schreibt auch selbst über das Reisen und arbeitet freiberuflich für Verlage. Seit 2004 ist er 1. Vorsitzender der dzg.
 

Eurasisches Magazin: Wie wird man eigentlich Globetrotter?

Norbert Lüdtke: Dafür gibt es kein Rezept. Das ist vielmehr eine Entwicklung, die vor allem solche Menschen durchlaufen, die sich ihre Phantasie, ihre Neugier und ihren Mut bewahren. Es war, glaube ich, der Schriftsteller Joseph Conrad, der von Pfaden sprach, die man im blauen Nebel großer Fernen, im Traume sieht. Die Welt selbst zu erleben, Risiken einzugehen und das Leben zu erfahren – das ist eine Frage des Lebensstils, der nicht nur das Unterwegssein prägt, sondern auch die Zeit nach der Heimkehr.

EM: Wie meinen Sie das?

Lüdtke: Die „große Reise“ ist meist auch eine folgenreiche Zäsur in der eigenen Biographie. Dem Globetrotter ist in einem bedeutenden und längeren Abschnitt seines Lebens das Reisen wichtiger als alles andere. Diese Erfahrung prägt fortan sein Leben. Auch wenn er nicht reist, ist er immer unterwegs.

EM: Was unterscheidet ihn von der Spezies des Pauschalreisenden?

Lüdtke: Wenn man den Pauschalreisenden mit einen reichlich konsumierenden und schlemmenden Gourmand vergleicht, dann unterscheidet sich der Globetrotter von dieser Gattung des Reisenden wie ein genießerischer Gourmet. Die Reise zu planen und zu organisieren ist ihm bereits Lust, nicht Last.

EM: Was waren die Beweggründe, für diese Lust eine Zentrale zu gründen?

„Der Club sollte ein Hafen sein für ein Leben, das dem Motto gehorcht: „Immer unterwegs.“

Lüdtke: Wer die zuvor beschriebene Einstellung versucht zu leben, fällt in der Gesellschaft meist auf. Er ist anders, fühlt sich fremd oder unverstanden. Die Menschen seiner Umgebung gieren nach Erzählungen über seine Abenteuer, doch er spürt, daß er nicht wirklich verstanden wird. Der Club sollte ein Hafen sein für ein Leben, das dem Motto gehorcht: „Immer unterwegs.“ Soweit ist es also ein psychologischer Aspekt. Daneben gibt es den technischen Aspekt. Er ist in der Satzung ausgedrückt, die sich auf nüchterne Ziele beschränkt: Informationen sammeln und weitergeben, Reisepartner suchen, sich bei der Vorbereitung von Fernreisen unterstützen. Nach großen Reisen die Wiedereingliederung in die Gesellschaft erleichtern, dem völkerverbindenden Gedanken dienen.

EM: Braucht der Globetrotter so etwas wie einen Heimathafen Gleichgesinnter?

Lüdtke: Ich weiß, manchen erscheint es widersprüchlich, daß die nach Unabhängigkeit, Freiheit und Abenteuer strebenden Globetrotter einen Club bilden. Doch jeder Globetrotter kehrt einmal heim – dann ist die Deutsche Zentrale für Globetrotter (dzg) der Ort, sich auch zu Hause noch unterwegs zu fühlen. Vielen Mitgliedern hat der Club nach langen Reisen geholfen, sich wieder zurechtzufinden, den Schock zu dämpfen, den die plötzliche Seßhaftigkeit bei nicht wenigen auslöst, die viele Monate, ein Jahr oder mehr unterwegs waren. Wir sind die Leute, bei denen sich die Rückkehrenden nach langen Reisen verstanden fühlen und wo sie sich Rat holen können.

EM: Worüber reden Globetrotter nach ihrer Rückkehr – über Abenteuer, die sie erlebt haben oder über Gefahren, die sie bestehen mußten?

Lüdtke: Darüber sicher auch. Doch das steht nicht im Vordergrund. Am meisten wird unter Globetrottern sowohl unterwegs, wenn man sich trifft, als auch bei der Heimkehr, über Erlebnisse mit dem Essen berichtet, über Unterkünfte und über Toiletten. Solche Banalitäten des Alltags werden am meisten ausgetauscht. Mit ihren gravierenderen Erlebnisse gehen die meisten eher bedächtig um.

EM: Wie hat das mit dem Globetrotter-Club angefangen?

Lüdtke: Am Beginn stand wie gesagt die Notwendigkeit des Informationsaustauschs. Vor allem über Länder, zu denen kaum aktuelle Publikationen vorlagen. Erfahrungen mit individuellen Reisen unter erschwerten Bedingungen waren gefragt. So entstand 1974 der Club und mit ihm der „Trotter“, das Mitteilungsblatt für eine kleine Gemeinschaft, in der nie jeder jeden kannte, in der es jedoch eine überschaubare Anzahl von Zirkeln gibt: Jeder kennt einen, der einen kennt. Diese Zirkel wurden Knotenpunkte eines Netzes, das sich über das ganze Bundesgebiet erstreckt: Berlin, Hamburg, Ruhrgebiet, Stuttgart, München usw. Viele Mitglieder waren aber sehr oft unterwegs und dann nicht erreichbar. Der Trotter als clubinternes Mitteilungsblatt war bestens geeignet, den Kontakt untereinander zu halten, Informationen zu verbreiten. Sein Stil glich dem einer Anschlagtafel, wie man sie aus Traveller-Unterkünften kennt: kurz und knapp, locker im Umgangston, etwas subversiv und immer per Du.

EM: Wo gibt es heute Niederlassungen der dzg?

Lüdtke: Es gibt keine Niederlassungen des Clubs. Die Arbeit wird von ehrenamtlich tätigen dzg-Mitgliedern organisiert. Sie sitzen überall verteilt in Deutschland und arbeiten in ihren Privaträumen. Die Zentrale befindet sich derzeit im Forsthaus Fischbach bei Saarbrücken, ist aber ebenfalls eine private Anlaufstelle. Wir haben drei Vorsitzende, so ist einigermaßen sichergestellt ist, daß wenigstens einer auch immer greifbar ist.

EM: Wie kommt man als Nichtmitglied in Kontakt mit Ihrer Organisation?

Lüdtke: Nichtmitglieder erreichen uns über das Internet, und können als Gäste unsere Globetrottertreffen besuchen. Am letzten Juni-Wochenende fand das große jährliche Treffen im Westerwald statt, am ersten Oktoberwochenende gibt es das Herbsttreffen in der Südeifel, sowie mehr als ein Dutzend Regionaltreffen. Dabei besteht etwa die Hälfte der Teilnehmer aus Nichtmitgliedern. Unser wichtigstes Medium für Nichtmitglieder sind die beiden Selbstreise-Handbücher (Siehe Info-Kasten).

EM: Wie finanziert sich der Club?

Lüdtke: Weitgehend über die Mitgliedsbeiträge von 35 Euro jährlich, in geringem Maße auch durch Einnahmen aus dem Verkauf von Infopaketen, dem Selbstreisehandbuch und dem Erlös unseres jährlichen Globetrottertreffens.

EM: Welche Aufgaben hat die Globetrotter-Zentrale?

„Der Club lebt vom Engagement kompetenter Mitglieder.“

Deutsche Zentrale für Globetrotter  
Postanschrift:
Norbert Lüdtke (1. Vorsitzender)
c/o Forsthaus Fischbach
Rußhütter Str. 26
66287 Quierschied

Tel.: 0700-456 23 876
E-Post: vorstand@globetrotter.org
Netz: http://www.dzg.com/

Die wichtigsten Medien für Nichtmitglieder sind die beiden Selbstreise-Handbücher der Deutschen Zentrale für Globetrotter. Band 1 dient zur Reisevorbereitung (z.Zt. vergriffen, erscheint in Kürze neu), Band 2 ist für unterwegs.

dzg-Mitglieder bekommen außerdem die Mitgliederzeitschrift „Trotter“.
 

Lüdtke: Unser hauptsächliches Bestreben ist der Informationsaustausch und die Begegnung zwischen den Mitgliedern. Das erfordert eine gut strukturierte und flexible Logistik, die auch den mehrmonatigen Ausfall von Aktiven verkraften kann – denn diese möchten ja auch immer wieder mal reisen. Unser zweites wichtiges Ziel ist es, in der Öffentlichkeit präsent zu sein, damit neue Globetrotter den Weg zu uns finden. Dazu müssen sie wissen, daß es uns gibt.

EM: Wie wird diese Informationsarbeit bewältigt?

Lüdtke: Dafür gibt es ein hohes Maß an Engagement kompetenter Mitglieder, die nicht nur eine hervorragende Zeitschrift machen, sondern auch unseren Internetauftritt fortentwickeln und die Verwaltungsarbeiten übernehmen. Die angesprochenen Treffen bedürfen einer teilweise mehrmonatigen Vorbereitung. Etwa 30 Mitglieder beteiligen sich ständig mehr oder weniger aktiv an dieser Arbeit und schreiben außerdem für das Selbstreise-Handbuch.

EM: Wieviele Mitglieder haben Sie?

Lüdtke: 850 insgesamt, davon knapp 50 außerhalb Deutschlands. Die meisten sind zwischen 35 und 65 Jahre alt.

EM: Wie kann die Zentrale ihren Mitgliedern behilflich sein?

Lüdtke: Die genannten Strukturen erlauben es unseren Mitgliedern jederzeit auf die Erfahrungen anderer Mitglieder zurückzugreifen. Es gibt wohl kaum ein Reiseziel, für das sich kein Mitglied fände.

EM: Wer ist Ihr prominentestes Mitglied?

Lüdtke: Keine Ahnung. Wenn Sie wissen möchten, ob Rüdiger Nehberg, Reinhold Messner, Bruno Baumann usw. bei uns Mitglied sind, so muß ich Sie enttäuschen. Alle Reisenden, die ihre Reisen medial verkaufen und die Schwelle zum Ruhm überschritten haben, verdienen Geld damit, daß sich die Aufmerksamkeit auf ihre Person fokussiert. Das geht schlecht neben 850 anderen Globetrottern. Der Spiegel kürte in den siebziger Jahren Heinz Rox-Schulz zum König der Globetrotter. Er war bis zu seinem Tod im vergangenen Jahr dzg-Mitglied und leitete das nun leider geschlossene Abenteuermuseum in Saarbrücken (siehe www.abenteuermuseum.de). Rox gehörte allerdings noch einer anderen Generation an. Er reiste schon ab etwa 1950 durch die Welt.

EM: Andersherum gefragt – gibt es Mitglieder, die durch die dzg bekannt und erfolgreich geworden sind?

Lüdtke: Das schon. Die dzg war „Durchlauferhitzer“ für viele Globetrotter, die aus der Szene kamen und dann im Reisesektor unternehmerisch tätig wurden. Nicht nur viele Reisebuchautoren kommen oder kamen aus der dzg, auch viele der heutigen kleinen und mittleren Verlage wurden in den siebziger Jahren von unseren Mitgliedern gegründet. Viele der heutigen Ausrüsterläden, auch die beiden größten auf dem Markt, etliche Anbieter von Flugreisen, eine ganze Reihe Reisejournalisten und Herausgeber von Reisemagazinen waren zumindest zeitweise dzg-Mitglied.

„Die Globetrotter waren immer schon eine Minderheit und sie werden es bleiben.“

EM: Wie reist der Globetrotter heute - sind Individualreisen mit Rucksack überhaupt noch gefragt?

Lüdtke: Bei Fernreisen spielt das Auto ja nicht gerade die vorherrschende Rolle. Der Rucksack mag deshalb ein Symbol sein, aber ich glaube nicht, daß er bei uns besonders sentimental belastet ist. Für manche Reiseformen bleibt er das bestmögliche Gepäckstück, für andere Reiseformen gibt es Besseres. Zum Thema Individualreisen: Hier zeigen Marktanalysen seit Jahren einen wachsenden Trend. Man muß sich allerdings fragen, was darunter verstanden wird. Eine Individualisierung der Katalogangebote bei TUI bedeutet ja nun nicht, daß die TUI-Touristen zum Individualreisenden würden. Die Globetrotter waren immer schon eine Minderheit und sie werden es bleiben. Die dzg will kein ADAC für Rucksacktouristen sein. Sie ist ein Zirkel, der eine Idee lebendig hält, eine Gemeinschaft, die bestimmte Charaktere mehr anzieht als andere, wo man Reisepartner findet oder Freunde. Die dzg sammelt qualitativ hochwertige Informationen über Ziele, Bedingungen und Besonderheiten von Reisen weltweit, wie es sie anderswo nirgends gibt.

EM: Was bedeutet der Begriff Individualreise für einen Globetrotter?

Lüdtke: Individualreisen heißt für uns, sich um alles selbst zu kümmern von Anfang bis Ende. Wir lassen uns als Einzelreisender nicht in die Polster irgendeines Veranstalters fallen. Wir fragen uns von Anfang an: Wie kann ich persönlich mit der Situation zurechtkommen? Wir wissen schließlich, wenn ich es nicht selbst tue, tut es keiner. Globetrotter handeln selbstständig und vorausschauend, denn sie haben selbst das größte lnteresse daran, ihre Ziele zu erreichen. Während der Pauschalreisende, auch der vermeintlich individualisierte, zuerst fragt: Wer organisiert denn das für mich? – Das unterstelle ich, sonst bräuchte er ja keinen Veranstalter. Vielen gefällt der Begriff Abenteuer, sie setzen sich ihm aber nicht wirklich aus. Sie lassen Abenteuer für sich veranstalten und wenn das Essen nicht schmeckt, wollen sie Geld zurück.

EM: Gibt es Empfehlungen, nach denen sich Globetrotter richten sollten?

Lüdtke: Die gibt es. Interessant sind sie vor allem für Neulinge. Sie lauten: Bleib neugierig und reise vorsichtig. Finde Deine eigenen Wege. Reise langsam. Und vor allem: Bleibe bescheiden. Das heißt, genieße, was kommt. Unzufriedenheit zeigt vielleicht an, daß Du am falschen Platz bist.

„Für Globetrotter ist das Reisen ein zentraler Teil ihres Lebens.“

EM: Reisen Globetrotter tatsächlich nach diesen goldenen Regeln?

Lüdtke: Selbstverständlich. Unter uns Globetrottern gibt es welche, denen es wichtig ist, drei Jahre des Lebens für eine Weltumradelung aufzuwenden. Andere zieht es immer wieder in den Dschungel von Neu-Guinea, obwohl sie sich dort den Blutegeln aussetzen, dem Hunger und der Malaria. Das versteht keiner, der es noch nie gemacht hat. Globetrotter verstehen es. Sie wissen, was Reisende aus Leidenschaft alles auf sich nehmen. Sie können mitfühlen und empfinden, warum allein das damit verbundene Erleben wichtig ist. Für Globetrotter ist das Reisen ein zentraler Teil ihres Lebens. Und in der dzg finden sie verwandte Seelen. Deshalb fühlen sie sich wohl im Globetrotterclub. Da finden sich Handwerker und Akademiker, Kauffrauen und Journalisten, Freiberufler und Angestellte, Singles ebenso wie Mütter und Väter.

EM: Das müssen ungewöhnliche, ja eigenartige Lebensstile sein, die aus dieser Leidenschaft entstehen ?

Lüdtke: Ja, das ist richtig. Da gibt es den Globetrotter, der arbeitet, um zu reisen. Andere versuchen, Reisen und Beruf zu verbinden. Langzeit- und Fernreisende sind im Prinzip Nichtseßhafte, also eine Art Nomaden, denen das Reisen unvergleichlich mehr ist als Urlaub oder Hobby und die oft für sich ein Gleichgewicht geschaffen haben, zwischen Seßhaftigkeit und Reisen. Die ganz Jungen sind immer eine Ausnahme gewesen. Das eigentliche Globetrotter-Dasein beginnt bei 25 Jahren aufwärts. Auch die Vereinsgründer waren damals schon knapp 30 Jahre alt. Die Reiseleidenschaft muß eben wachsen. Unser ältestes Mitglied starb kürzlich mit über 90 Jahren in Mexiko.

EM: Haben Sie eine Antwort auf die Frage nach dem Warum – also weshalb diese Reiseleidenschaft manche Menschen so voll und ganz in ihren Bann zieht.

Lüdtke: Eine ungefähre: solche freiwilligen Individualreisen haben zunächst immer den Zweck, andere Länder und Völker kennenzulernen. Dazu kommt der Drang, sich dabei selbst kennenzulernen. Und schließlich geht es vielen auch darum, zu erfahren, wo sie wirklich Zuhause sind. Jeder hat seinen persönlichen Mix aus diesen drei Komponenten. Nicht wenige geben ihre Wohnung auf, melden Telefon und Krankenversicherung ab, verkaufen ihr Auto, manche auch ihre Möbel und fahren los.

„Globetrotter-Reisen sind nicht erholsam.“

EM: Wohin führen solche Reisen vor allem – gibt es so etwas wie Idealziele oder solche, an denen ein Globetrotter unbedingt gewesen sein muß?

Lüdtke: Nein, ganz sicher nicht. Aber es gibt natürlich Gemeinsamkeiten. Sie lauten kurz gesagt - heraus aus dem Gewohnten, hinein ins Unbekannte. Im beruflichen Alltag sind uns das Tempo und der Rhythmus auferlegt, auch wenn das vielen oft gar nicht bewußt ist. Entfernen wir uns aus dem Alltag, dann verlangsamt sich das Tempo. Im Urlaub gönnen wir uns das. Doch Reisen sind nicht erholsam. Daher kann es sinnvoll sein, eine Reise mit einem Urlaub zu beginnen.

EM: Weshalb das?

Lüdtke: Ganz einfach: Wer im Alltagstempo startet, ruiniert seine Reise. Natürlich werden die meisten ein mehr oder weniger effektives Reiseprogramm absolvieren. Aber nicht selten wird das verwechselt mit Abhaktourismus, Kilometerfresserei und Jagd nach Rekorden. Dabei wird das wichtigste Ziel einer Reise verfehlt: die Freiheit einen anderen als den gewohnten Lebensstil zu praktizieren. Globetrotter gehen ganz bewußt diesen Weg. Manche planen sogar, gar nichts zu planen und liefern sich vollständig dem Zufall aus. Das führt zu interessanten, häufig einzigartigen Reiseerlebnissen. Eine „Globetrotter-Reise“ soll ja gerade diese triebhafte Neugier in uns befriedigen. Das setzt voraus, daß wir ins Unbekannte reisen. Wer sich über alles informiert, kann nur bestätigt oder enttäuscht werden – Überraschungen werden unmöglich.

EM: Gibt es eigentlich sogenannte Geheimtips für Globetrotter?

Lüdtke: Nein, die gibt es nicht. Jeder hat seine eigenen. Es gibt zwar, was die Zielauswahl anlangt, vorübergehende Moden. Aber je nach Kontinent, entwickeln sich eigene Reisecharaktere. Es gibt den Afrikareisenden, den Südamerikareisenden, den Asienreisenden.

EM: Wie hat sich die Auswahl Ihrer persönlichen Reiseziele in den letzten Jahren entwickelt?

Lüdtke: Ich persönlich war in den 70er und 80er Jahren meistens in Afrika und in arabischen Ländern. In den 80er und 90er Jahren hatten es mir die Berge Europas angetan. Nach 1999 vor allem Asien. Nach Amerika hat mich nie etwas hingezogen und ich war auch nicht da. Ich glaube das hat etwas mit den schon genannten Reisecharakteren zu tun. Der typische Südamerikareisende fährt nicht nach Asien, und der Tibetliebhaber nicht nach New York oder Texas. Wer die Herausforderung liebt, fährt nach Afrika. Wer kämpfen will, gegen was auch immer, gegen Hunger, Durst und Krankheiten, der ist dort bestens aufgehoben. Wer das Bad in der Menge braucht, Menschen mit ihren Leidenschaften sucht, der fährt nach Südamerika. Und Asien ist häufig etwas für Menschen mit geistigen Ansprüchen, mit kulturellen Sehnsüchten. In Asien kann man sich fallen lassen.

„Gefährlich wird es in Gegenden, in denen sich viele Touristen aufhalten.“

EM: Welche Gegenden sind nach Ihren Erfahrungen für Globetrotter-Reisen besonders empfehlenswert?

Lüdtke: Alle.

EM: Welche sind besonders gefährlich?

Lüdtke: Gegenden, in denen sich viele Touristen aufhalten. Die medienwirksamsten Gefahren durch Terroristen, Überfälle und Entführungen richten sich meist gezielt auf Touristenansammlungen. Globetrotter sind in solchen Zentren im allgemeinen nicht vertreten. Schwerwiegende tropische Erkrankungen wie Parasiten treten meist erst nach der Rückkehr auf. Risiken im Straßenverkehr übertreffen alle anderen bei weitem, das gilt auch bei Reisen.

EM: Werden Globetrotter-Reisen meistens allein oder in der Gruppe durchgeführt?

Lüdtke: Globetrotter sind Individualisten, reisen also oft allein, manchmal zu zweit, wenn zu mehreren dann meistens nur eine Zeitlang. Friedrich Rückert hat einmal gereimt: „Der Adler fliegt allein, der Rabe scharenweise, Gesellschaft braucht der Tor, und Einsamkeit der Weise.“

EM: Das ist schön formuliert aus Dichtermund. Aber wie verreisen richtige Globetrotter - mit der Bahn oder dem Fahrrad, mit dem Auto oder doch eher mit dem Flugzeug?

Lüdtke: Es ist mir trotz langjähriger Auseinandersetzung mit Globetrottern und dem Globetrotten bislang nicht gelungen, richtige Globetrotter zu erkennen. In unserem Club finden sich Individualisten unterschiedlichster Prägung zusammen, die in ihrer heimatlichen oder familiären Umgebung das Gefühl haben, fremd zu sein und die statt dessen inmitten der anderen Individualisten ein Gefühl der Vertrautheit empfinden. Das versuchen wir zu kultivieren. Wer sich bei uns wohl fühlt, ist meist auch ein Globetrotter. Unsere Mitglieder sind Wanderer und Motorradreisende, sie reisen mit dem Fahrrad und klettern auf Berge, sind Taucher und Segler. Es gibt Fans von Bus und Bahn und daneben Unimog- und 2CV-Enthusiasten. Und sie finden sie auf allen Kontinenten und in allen Regionen dieser Erde.

EM: Apropos Kontinent - wie finden Sie als Weitgereister den Begriff Eurasien, also den Verzicht auf die willkürliche Trennung des Kontinents zwischen Europa und Asien?

Lüdtke: Als theoretisches Konstrukt mit mangelndem Bezug zur Erfahrungswirklichkeit. Allenfalls wenige Weitgereiste ohne Flugzeugbenutzung können Eurasien erfahren haben. Ich selbst bin mal mit meiner Frau in einem alten Ford bis nach China gefahren. Wir haben auf der gesamten Reise kaum 50 Touristen getroffen. Für die meisten Menschen ist der Begriff Eurasien nicht sinnlich zu begreifen. Er eignet sich als Folie zur Projektion von Visionen, Wünschen und Zielen, weniger für den Alltag. Es gibt ja auch keine eurasische Kultur.

EM: Es gibt auch keine amerikanische und dennoch werden Nord- und Südamerika als ein Kontinent gesehen. Dies sogar, obwohl die einzige Landverbindung eine Brücke über den Panamakanal ist. Europa hingegen ist untrennbarer Teil Eurasiens. Hugo Portisch, ein österreichischer Journalist und Diplomat, der vielleicht in Ihrem Club Aufnahme gefunden hätte, schreibt in seiner Reise-Reportage „So sah ich Sibirien“: „Die Grenze zwischen Europa und Asien überquert man irgendwo am Ural, ohne das Ereignis zur Kenntnis zu nehmen. Es ist eine künstlich festgelegte Grenze“. Ihnen sagt der Begriff Eurasien also nichts?

Lüdtke: Nein, sagt mir nichts. Ich halte Eurasien allenfalls für eine geologisch definierte Größe. Für die Alltags- und Reiseerfahrung ist mir der Begriff zu abgehoben.

EM: Herr Lüdtke, haben Sie Dank für dieses Gespräch.

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