09.08.2023 13:11:56
Von Prof. Dr. Wolfgang Merkel
EM – Sperrt sich der gegenwärtige Islam gegenüber der Demokratie, der einzigen selbstbestimmten Herrschaftsform die wir kennen? Ist ein demokratisch islamischer Staat eine „contradictio in adjecto“, wie Samuel P. Huntington unmißverständlich postuliert? Und damit verbunden: Kann der Islam die Universalität der Menschenrechte als unverzichtbaren Kern der rechtsstaatlichen Demokratie akzeptieren, oder muß er sie als partikulare „westliche Erfindung“ denunzieren?
Von der Beantwortung dieser Fragen wird abhängen, ob es wirklich unversöhnliche zivilisatorische Differenzen zwischen dem „universalistischen Westen“ und der „islamischen Welt“ gibt, und welches Konfliktpotential sie bergen. Beide Fragen sollen in drei Schritten geprüft werden: zunächst auf der empirischen, dann auf der normativen und schließlich auf der handlungsorientierten Ebene. [...]
Die Befunde auf der empirischen Ebene sind eindeutig und sprechen gegen die islamische Welt: Der Fall der Rechtsdiktaturen in Griechenland, Portugal und Spanien Mitte der siebziger Jahre leitete die größte Demokratisierungswelle in der menschlichen Geschichte ein. Bis zum Jahr 2000 etablierten 87 frühere Autokratien mit dem allgemeinen, gleichen und freien Wahlrecht die Minimalia demokratischer Ordnung. Von 192 Staaten wurden 121 Länder im Jahr 2000 von Freedom House als „electoral democracies“ eingestuft. Darunter waren nur elf Länder mit einer islamischen Bevölkerungsmehrheit . Von 47 mehrheitlich islamischen Gesellschaften hatten im Jahr 2000 nur elf, also 23 Prozent eine minimaldemokratische Regierungsform („electoral democracy“) installiert. 77 Prozent der Staaten hatten diktatorische Regime. Von den restlichen 145 nicht islamischen Ländern, wurden 110 als „electoral democracies“ eingestuft. Dies sind 76 Prozent, während nur 24 Prozent der nicht islamischen Staaten autokratische Regime hatten.
Das Verhältnis demokratischer zu autokratischen Regimen ist also genau spiegelverkehrt: Während in der nicht islamischen Welt drei Viertel der Staaten demokratisch genannt werden können, sind in der islamischen Welt drei Viertel der Länder Diktaturen. Diese Bilanz verschlechtert sich noch, wenn sich zeigt, welche diese elf islamischen Länder sind, die Freedom House als demokratisch einstuft: Albanien, Bangladesch, Dschibuti, Gambia, Indonesien, Mali, Niger, Nigeria, Senegal, Sierra Leone und die Türkei. Bei näherer Betrachtung dieser Staaten dürfte keines dieser Länder das Siegel der rechtsstaatlichen Demokratie erhalten.
Alle elf islamischen „electoral democracies“, sind trotz leidlich demokratischer Wahlen, durch Rechtsstaats- und Menschenrechtsverletzungen, Unterdrückung von Minderheiten und endemische Korruption geprägt. Unter den 16 arabischen Kernländern der islamischen Welt des Mittleren Ostens und Nordafrikas gibt es kein einziges Land, das auch nur unter das minimaldemokratische Rubrum der „electoral democracy“ gefasst werden könnte. [...]
Die Schwäche der demokratischen Kultur in der gegenwärtigen islamischen Zivilisation und der „interne“ clash of civilizations lässt sich auch an der Gewaltbereitschaft islamistischer, also fundamentalisierter islamischer Bewegungen in multireligiösen Gesellschaften zeigen (Freedom House 2001: 5). Im Libanon, in Syrien oder in den palästinensischen Autonomiegebieten finden sich große Teile der Bevölkerung – zumeist junge Männer – unter dem Banner radikaler, antidemokratischer, intoleranter islamistischer Bewegungen, die an ihren radikalen Flügeln Gotteskrieger und Selbstmordattentäter zu Hunderten ausbrüten. In Nigeria kam und kommt es zu Menschenrechtsverletzungen und Unterdrückung von religiösen Minderheiten und Frauen. In jenen Regionen des Landes, in denen die radikalen oder traditionellen Islamisten an die Macht kamen, haben sie das islamische Recht eingeführt. Die dort angewandte Scharia bestraft nicht „Koran-gemäße“ sexuelle Selbstbestimmung nicht selten mit dem Tode – vor allem, wenn es sich um Frauen handelt. Im Süden der Philippinen führen radikale islamistische Kräfte gegen die seit 1986 immerhin demokratisch gewählte Zentralregierung trotz erheblicher Autonomierechte einen Guerillakrieg. Der fundamentalistisch-islamische Norden des Sudans hat gegen die christliche oder animistische Bevölkerung des Südens einen Krieg mit Genozid-Charakter begonnen. In Indonesien bedrohen Massaker fundamentalistischer Moslemgruppen an christlich-chinesischen Minderheiten den fragilen Demokratisierungsprozess. In Algerien antwortete das Militär mit einem Putsch auf den Wahlsieg der fundamentalistischen Islamistischen Heilsfront (FIS). Diese wiederum beginnt einen blutigen Terrorkrieg gegen Liberale, Militärs oder völlig Unbeteiligte. Bisher sind diesem unerklärten Krieg 100 000 Menschen zum Opfer gefallen.
Lassen sich, jenseits dieser vernichtenden empirischen Bilanz, zu Beginn des 21. Jahrhunderts auf der Ebene der empirischen Beobachtung auch Demokratisierungstrends in islamischen Ländern erkennen? Solche Tendenzen gibt es, aber sie sind schwach und entwickeln sich außerhalb der arabisch-islamischen Kernländer, nämlich entweder an der europäischen Peripherie in Albanien, Bosnien und dem Kosovo oder an der islamischen Peripherie Südostasiens, in Bangladesch und Indonesien.
Wie steht es aber mit den Demokratisierungstrends im Iran? Liberalisiert sich dort die einstige islamische Theokratie gegenwärtig nicht? Diese mitunter von westlichen Islam- oder Regionalwissenschaftlern engagiert vorgetragene Sichtweise ist bei einem disziplinierten Gebrauch der Begriffe nicht zu halten. Die Reformen im Iran als liberal zu beschreiben heißt, jeden objektiven Maßstab für das zu verlieren, was als liberal gelten könnte. Auch wenn dort nicht mehr, wie unmittelbar nach der islamischen Revolution 1979, Häretiker, Atheisten und Ehebrecherinnen mit der Todesstrafe oder Steinigung bestraft werden – Ehebruch oder Homosexualität werden nach wie vor mit drakonischen Strafen belegt. Die Erlaubnis für die Gründung einer atheistischen, dezidiert laizistischen oder nicht islamistischen Partei liegt in weiter Ferne. Von einer Gleichberechtigung der Frauen kann keine Rede sein. Rechtssetzung, Rechtsausführung und Rechtsauslegung unterliegen nach wie vor der Supervision ungewählter Gremien wie dem Wächterrat, dem Billigungsrat oder der selbsternannten Kaste religiöser Führer. So ist nicht etwa der Staatspräsident oder das Parlament, sondern der religiöse Führer Ali Chameini die höchste Instanz der Islamischen Republik.
Die Sperrigkeit islamischer Gesellschaften gegenüber der Demokratie als politische Ordnungsform ist auf der Ebene der empirischen Analyse völlig eindeutig. Allerdings ließe sich mindestens zweierlei einwenden: Was wir im letzten Vierteljahrhundert gesehen haben, ist nicht „der“ Islam, sondern die machtpolitische Instrumentalisierung des Islams durch so unterschiedliche Potentaten und Diktatoren wie die Sauds in Saudi Arabien, Khomeini und seine Nachfolger im Iran, Mubarak in Ägypten, Numeiri im Sudan, Ghaddafi in Libyen oder die Assads in Syrien. Außerdem sperre sich der Islam als Religion, als eine Sammlung von Werten, Dogmen und Vorschriften keineswegs grundsätzlich gegen Rechtsstaat, Demokratie und die Gleichberechtigung der Geschlechter.
Antworten auf diese legitimen Einwände sind auf der zweiten, der normativen Ebene zu suchen. Inwiefern – so ist zu fragen – ist der Islam tatsächlich inkompatibel mit der Demokratie?
Der Islam ist eine der drei großen monotheistischen Religionen dieser Welt. Er ist „seinem Ursprung nach eine prophetische Schau des Verhältnisses von Gott und Mensch. Im Koran wird Gott als die einzige Ursache der Welt beschrieben. Sein Antlitz ganz Gott zuwenden [...] – das ist die Handlung des Menschen, durch die er sein Heil sicherstellt. [...] Es ist die Pflicht des zu Gott hin geschaffenen Menschen, sich seine ständige Gebundenheit an den Schöpfer zu vergegenwärtigen“ (Kienzler 2001: 74). Damit verbunden hat sich aus dem Koran und der Sunna (die überlieferte und kanonisierte Lebensweise des Propheten Mohammed bis zum 10. Jahrhundert christlicher Zeitrechnung) ein Normensystem für Kult, Moral und Lebenswelt entwickelt, das drei Prinzipien folgt: Gott ist der einzige Ursprung des Seienden, der Muslim ist sich dieser Tatsache stets bewusst, und das „auf dem göttlichen Gesetz beruhende Gemeinwesen ist die vollkommenste Ordnung schlechthin und als solche vom Propheten Mohammed (schon) vollkommen kundgegeben [...]“ (ibid. 76).
Der Islamismus, islamische Fundamentalismus, Integrismus oder auch politische Islam ist die Beschreibung einer in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts radikalisierten Ausprägung islamischer Traditionen, die den Anspruch erhebt, mit ihrem religiösen „Rechtekanon“, der Scharia, die verbindliche Normierungsinstanz für das private und Öffentliche, das Individuum und die Gesellschaft sowie die politische Herrschaftsverfassung zu sein. Der islamische Fundamentalismus tendiert zu einer orthodoxen, also wörtlichen und nicht historisierenden Interpretation heiliger Texte. Antipluralismus, Antimodernismus, Intoleranz und ein rigider Moralismus vor allem in Fragen der Sexualmoral und der Geschlechterbeziehung kennzeichnen ihn. Diese Charakteristika hat der Islamismus im Übrigen mit anderen fundamentalistischen Religionsbewegungen im Christentum und Judentum gemeinsam.
Der politische, islamistische (Neo-)Fundamentalismus ist nach dem Scheitern der panarabischen Idee und der Niederlage der arabischen Staaten im Sechstagekrieg gegen Israel 1967 entstanden (Tibi 2001). Die islamische Revolution der Ayatollahs im Iran (1979), die ungelöste Palästinafrage und der als westlicher Kreuzzug interpretierte erste Golfkrieg (1990) waren weitere Impulse für diese Bewegung. Bassam Tibi unterscheidet von diesem Fundamentalismus etwa den islamischen Traditionalismus des saudiarabischen Wahabismus, der freilich in seinem totalitären Anspruch nicht weniger fundamentalistisch ist.
Vor dem Hintergrund des erläuterten Demokratiebegriffs lassen sich die wichtigsten Spannungen zwischen Islam und Demokratie erörtern. Dabei bleibt hier die interne Differenzierung des Islam unberücksichtigt. Aber auch sie würde die Substanz meiner Argumente nicht verändern. Es geht mir an dieser Stelle nicht um eine theologisch-hermeneutische Interpretation von Korantexten, um das Verhältnis von Islam und Demokratie zu bestimmen. Ein solcher Versuch würde sich schnell im Dickicht unterschiedlicher, konkurrierender und sich widersprechender Interpretationen verheddern. Dies wäre aus politikwissenschaftlicher Sicht zwar nicht völlig illegitim, aber wohl ähnlich unergiebig wie die Exegese der „Deutschen Ideologie“ oder des „Kapitals“ von Karl Marx im Hinblick auf die Herrschaftsstrukturen von Ceausescus Rumänien, Pol Pots Kambodscha oder der DDR Erich Honeckers.
Das zentrale Problem der Vereinbarkeit von Demokratie und Islam ist, daß bisheute die islamistische Welt keine wirkliche Aufklärung erfahren hat.Ansätze dafür hat es wiederholt gegeben, im andalusischen Hochislamdes Mittelalters ebenso wie im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts. Sie scheitertenjedoch an der kardinalen Frage der (weitgehenden) Trennung von Staat und Religion.Koran und Sunna gelten im Islam nicht für einen Teilbereich, sondern fürdie gesamte islamische Gesellschaft, für die private Sphäre ebensowie die öffentliche. Religion und Politik haben sich in den meisten islamischenGesellschaften nicht als eigene Teilsysteme ausdifferenziert. Es gab wedereine Renaissance, in der schon Machiavelli das Konzept der göttlichenOrdnung zugunsten der menschlichen Selbstregierung wirkungsmächtig revidierthatte, noch die vertragstheoretische Tradition der europäischen Neuzeitmit Hobbes, Locke und Rousseau, die Herrschaft an Zustimmung knüpfte;auch gab es keine Aufklärung im Sinne Kants, die der Religion die Vernunftgegenübergestellt hätte. Die religiöse Weltdeutung wurde imIslam nie vergleichbar wie in der europäischen Aufklärung „entstaatlicht“ oder „entzaubert“.Das theozentrische Weltbild wurde im Hinblick auf die Legitimität politischerHerrschaftsformen nie oder nicht hinreichend durch ein anthropozentrischesersetzt. Letzteres ist aber eine notwendige, wenngleich längst nicht hinreichendeVoraussetzung für Volkssouveränität und Demokratie.
Besonders problematisch im Islam ist die frühe Verschmelzung von Religion und Gesetz. Es ist eine folgenschwere Hypothek, die in der Scharia zusammengefaßten Religionsgesetze zur autoritativen Grundlage des positiven Rechts in Staat und Gesellschaft zu erheben. Religiöse Normen, ausgestattet mit dem universellen Wahrheitsanspruch einer monotheistischen Offenbarungsreligion begrenzen das Prinzip der Volkssouveränität aber in einer Weise, die mit der Idee der demokratischen Selbstregierung unvereinbar ist. Religiöse und staatliche Ordnung verschmelzen. Die Supervision übernehmen dann die religiösen Schriftdeuter. Sie begreifen sich auch konsequent weniger als Theologen denn als Rechtsgelehrte und Rechtsinterpreten. Dabei gehen die Normen der Scharia weit über Kult- und Moralfragen hinaus. Sie regeln das Familien- und Erbrecht, geben Kleider- und Essensvorschriften, sehen bestimmte Strafen oder gar Prozeßregeln vor.
Rechtsnormen werden letztinstanzlich religiös legitimiert, und nicht durch demokratische Verfahren und Institutionen. Die aus der Scharia abgeleiteten Rechtsnormen degradieren Frauen zu Bürgern zweiter Klasse. Dies gilt im Hinblick auf die politischen Teilhaberechte, das Zivil- wie das Straf- oder Strafprozeßrecht. Eine der wenigen Ausnahmen in der islamischen Welt ist mit Indonesien an der südostasiatischen Peripherie der islamischen Welt zu finden. Dies zeigt, daß islamische Gesellschaften sich durchaus demokratisieren können. Aber das kann nur geschehen, wenn die Rechtsnormen nicht aus Koran und Sunna abgeleitet werden, sondern aus den diskursiven Verfahren der demokratisch legitimierten Gesetzgebung hervorgehen und der Religion eine Sphäre und nicht die Suprematie in der Gesellschaft zugewiesen wird. Die Säkularisierung des Rechts ist notwendige Voraussetzung für die Säkularisierung der Herrschaft und die Säkularisierung der Herrschaft die conditio sine qua non für die rechtsstaatliche Demokratie.
Wie die nicht vollzogene Trennung von Staat und Kirche oder die Benachteiligung der Frauen ist auch die fehlende Tradition individueller Menschenrechte ein Problem für die Demokratiefähigkeit islamischer Gesellschaften. „Im Islam gibt es kein kulturelles Verständnis für Individuation und demzufolge auch kein Konzept individueller Menschenrechte“ (Tibi 2001: 188). Erst wenn islamische Theologen und Politiker die Universalität der Menschenrechte nicht als „westlichen Kulturimperialismus“ ablehnen, sondern die Unverfügbarkeit dieser Rechte als individuell, angeboren, transzendental, vorstaatlich, unveräußerlich und universell anerkennen, werden islamische Gesellschaften nachhaltig demokratisierbar. Individuelle Menschenrechte müssen der Interpretationsmacht und Verfügungsgewalt religiöser (wie im Übrigen auch weltlicher) Instanzen, Führer und Cliquen entzogen werden. „Menschenrechte sind vorstaatliche Rechte, die sich die Menschen als Rechtsgenossen gegenseitig gewähren müssen. Selbst eine Demokratie trägt hier nur die legitimatorisch sekundäre Verantwortung, dass sie überpositiven Rechten zur positiven Wirklichkeit verhilft“ (Höffe 1999: 63); sie kann sie nicht gewähren, sondern nur gewährleisten. Das wechselseitige Anerkennen der Integrität von Leib und Leben sowie der Freiheit ist die fundamentale „conditio humana socialis“, die erst friedliches Zusammenleben ermöglicht. Menschenrechte sind deshalb universell und nicht durch islamische oder konfuzianische Kontextualisierung zu relativieren. Ihrer Respektierung entzieht man sich übrigens auch nicht, indem man „ungesetzliche Kombattanten“ gewissermaßen exterritorialisiert und auf Guantanamo zwischenlagert.
Nun weisen Vertreter eines „liberalen“ Islam darauf hin, daß sich Menschenrechte auch aus dem Koran interpretieren lassen. Damit befinden sie sich in wohltuender Distanz zum iranischen Revolutionsführer Ajatollah Khomeini, der Menschenrechte als „eine Sammlung verderbter Bestimmungen, die von Zionisten zur Zerstörung aller wahrer Religionen ausgearbeitet wurden“ bezeichnet. Reformorientierte Koraninterpreten trennen Welten von der Ansicht des gegenwärtigen iranischen Religionsführers Ali Chamenei, der die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte schlicht als einen „Haufen Hokuspokus von Satansjüngern“ bezeichnete. Aber auch der Liberalisierungsversuch der Reformer geht nicht weit genug: Ein Anerkennen der Menschenrechte aus der kontingenten Interpretation des Korans kann weder als Grundlage der Menschenrechte taugen, noch eine Rechtsordnung begründen. Gegenwärtig sind aber selbst solche unzureichenden Reformversuche in der arabisch-islamischen Welt riskant und in der Minderheit. Kennzeichnend für den Islam der letzten Jahrzehnte ist nicht seine aufklärerische Entzauberung, sondern seine radikalisierende Fundamentalisierung.
In der islamischen Welt vollzog sich im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts ein Prozeß historischer Erneuerung der religiösen Tradition im Spannungsfeld von Tradition und Moderne: der islamische Fundamentalismus. Ideologisch gedeutet ist er ein Reflexionsprozeß, der die Tradition reinterpretiert und radikalisiert (Riesebrodt 2001: 18). Bezugspunkt ist ein aus dem Koran und der Sunna idealisiertes, versunkenes und imaginiertes „goldenes Zeitalter“, das es heute wieder herzustellen gelte. Die idealisierte Frühzeit des Islam wird so zum verpflichtenden Ideal der Gegenwart. Insofern ist dieser Islam – und noch viel stärker der Islamismus – eine radikal rückwärts gewandte Utopie. Nicht der Islam soll modernisiert, sondern die Moderne islamisiert werden (Tibi 2001: 101). Aber erst wenn sich diese Dialektik umkehrt, wird Demokratie möglich.
Der islamische Fundamentalismus und Traditionalismus bedient sich zwar durchaus der Moderne. Technologische Errungenschaften der Kommunikation, Produktion oder Kriegstechnik sind längst Teil der islamischen Gesellschaften und politischen Ordnungen. Allerdings erfolgt diese Anverwandlung der Moderne höchst selektiv. Technische Entwicklungen werden akzeptiert, die kulturelle Moderne wird abgelehnt. Insbesondere das zentrale Signum der Moderne wird im fundamentalistischen wie traditionellen Islam negiert: das Subjektivitätsprinzip, welches das Individuum mit eigenem freiem Willen akzeptiert. Der (islamische) Fundamentalismus übergibt jedoch das freie, sich selbst bestimmende Individuum „wieder dem Kollektiv“ und damit häufig auch der Kaste der religiösen Sinndeuter (Tibi 2001: 89). Aber gerade das Subjektivitätsprinzip und die damit verbundene Fähigkeit und Erlaubnis, auch religiöse Traditionen der kritischen Vernunft und gegebenenfalls der Revision zu unterziehen, den Schritt aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit zu tun, ist eine wichtige Voraussetzung jeder rechtsstaatlichen Demokratie. Sie ist unverzichtbar für Selbstregierung, universelle Menschenrechte, Pluralismus und Toleranz gegenüber Andersdenkenden. Der Islamismus steht wie jeder religiöse Fundamentalismus quer zum cartesianischen Prinzip der Skepsis, des Zweifels und des Diskurses. Demokratie verlangt jedoch das freie Individuum, fordert institutionalisierte Kritik sowie die permanente Überprüfung und Kontrolle von Normen, Institutionen und Entscheidungen. Jenseits der Menschenrechte müssen diese offen für Wandel und Anpassung sein. Der Souverän ist das Volk – nicht Gott. Die Richtschnur ist die Verfassung – nicht die kanonisierten Texte und Überlieferungen der Propheten. Religion ist in ihrer fundamentalistischen Form mit Demokratie unvereinbar.
Aus theoretischen Überlegungen wie empirischen Erkenntnissen lässt sich deshalb folgender generalisierter Zusammenhang formulieren: Je fundamentalistischer, je weniger säkularisiert sich eine Religion in die Kulturmuster einer Gesellschaft einschreibt, desto schwieriger wird es sein, eine säkulare, das Individuum und seine Grund- wie Freiheitsrechte schützende Demokratie zu etablieren (Merkel/Puhle 1999: 42). Demokratie ist nur dann möglich, wenn sich eine von der religiösen Sphäre getrennte öffentliche Arena und ein säkularer Staat ausdifferenziert haben. Demokratie setzt voraus, daß sich traditionale Weltbilder zu „reasonable comprehensive doctrines“ (Rawls 1993) transformiert haben. Erst wenn sich widerstreitende Glaubensüberzeugungen im friedfertigen Diskurs gegenübertreten, Staat und Recht sich dabei neutral verhalten, ist Koexistenz, rechtliche und politische Gleichberechtigung für alle Gesellschaftsmitglieder, gleichviel welchen religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen sie anhängen, möglich.
Gewiß: Fundamentalismus gibt es nicht nur im Islam. Ihn gibt es in anderen Religionen ebenso, namentlich in monotheistischen Offenbarungsreligionen – auch und gerade in der christlichen Religion. Das gilt nicht nur für die vergangenen Zeiten der Kreuzzüge, der Ketzer- und Hexenverbrennungen oder der Religionskriege des 17. Jahrhunderts. Fundamentalistische Bewegungen sind im jüdischen Glauben der Gegenwart ebenso zu finden wie in den evangelikalen Kirchen Nordamerikas. Der Kampf gegen Feminismus und die Gleichberechtigung der Frau, die Verfolgung von Homosexualität, Mord an Abtreibungsärzten sowie Bombenanschläge gegen Abtreibungskliniken sind in diesen Gesellschaften (etwa den USA) aber singulär und gewissermaßen „privat“. Sie werden nicht wie in manchen islamischen Staaten von Staatsseite betrieben.
Zweifellos haben diese Bewegungen ebenfalls antidemokratischen Charakter. Die Trennung von Staat und Kirche hat sie aber in die Privatsphäre gebannt. Die Werte der Aufklärung haben sie zwar nicht gezähmt, aber eingezäunt. Treten ihre fundamentalistisch-religiös motivierten Handlungen mit dem Strafrecht in Konflikt, werden sie durch demokratisch legitimierte, weltliche, rechtsstaatliche Normen sanktioniert. Dies ist der große Unterschied des fundamentalistischen Protestantismus zu den meisten islamischen Gesellschaften der Gegenwart.
Religionsgemeinschaften sind erst dann mit den konstitutiven Prinzipien der rechtsstaatlichen Demokratie zu versöhnen, wenn sie aus eigener Einsicht auf die diktatoriale oder gewaltsame Durchsetzung ihrer Glaubensweisheiten verzichten. Sie müssen deshalb, wie Jürgen Habermas (2001: 17) formuliert, eine dreifache Reflexion berücksichtigen: „Das religiöse Bewußtsein muß erstens die Begegnung mit anderen Konfessionen und Religionen kognitiv verarbeiten. Es muß sich zweitens auf die Autorität von Wissenschaften einstellen, die das gesellschaftliche Monopol an Weltwissen innehaben. Schließlich muß es sich auf Prämissen eines (demokratischen) Verfassungsstaats einlassen, der sich aus einer profanen Moral begründet.“ Ohne diesen Reflexionsschub entfalten fundamentalistische Religionen in modernisierten Gesellschaften ein destruktives Potential und sind nicht mit der Demokratie zu vereinbaren. In den meisten islamischen Gesellschaften der Gegenwart hat zumindest der dritte Reflexionsprozeß noch kaum begonnen.
Doch zurück zu Huntington. Seine These des Zusammenpralls der gegenwärtigen westlichen mit der islamischen Zivilisation ist auf der normativen Ebene völlig evident. Sie lässt sich auch mit dem Hinweis auf die methodischen und begrifflichen Schwächen seiner Gesamtargumentation nicht desavouieren. Noch weniger läßt sie sich mit der logisch unsinnigen, politisch naiven, dafür aber „politisch korrekten“ Redeweise vom Tisch wischen, es gebe gar keinen Zusammenprall der Zivilisationen (Seins-Aussage), sondern wir müssten vielmehr einen „Dialog zwischen den Kulturen“ (Sollens-Aussage) führen. Dies ist sicherlich unabweisbar. Aber einen Dialog können wir nur führen, wenn wir uns unserer eigenen normativen Referenzen versichern. Wir müssen uns darüber klar werden, welches die prinzipiell unverhandelbaren Prinzipien und Werte unserer Zivilisation sind. Ließen wir diese Prinzipien unter dem Druck des wohlfeilen Vorwurfs des Ethnozentrismus fallen und riefen wir zur multikulturellen Indifferenz auf, dann würden unsere normativen Überzeugungen in einer trüben Gemengelage verschwinden. Handeln, politisches Handeln zumal, verlöre dann seine normative Orientierung, würde beliebig und opportunistisch.
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