09.08.2023 13:11:56
IRAN
Von Hans Wagner
Eurasisches Magazin: Der Iran gilt als ein Gottesstaat. Was muß man sich als Nicht-Muslim darunter vorstellen?
Asghar Schirazi: Die Islamische Republik Iran ist eigentlich kein Gottesstaat, eher der Staat der machthungrigen Geistlichkeit. Deren Verbündete finden sich hauptsächlich unter der Kaufmannschaft und den höheren Rängen der Revolutionsgarden. Den Nichtmuslimen im Iran ist jegliches demokratische Recht beraubt. So geht es aber auch den Muslimen, wenn sie aktive Oppositionsarbeit gegen die herrschende staatliche Ordnung betreiben.
EM: Ist Ihrer Ansicht nach eine demokratische Staatsform westlich-säkularen Typus im Iran mehrheitsfähig?
Schirazi: Wenn Sie Demokratie als einen Prozeß verstehen, dann würde ich diese Frage im Großen und Ganzen bejahen. Auch ist die iranische Bevölkerung der westlichen Demokratie gegenüber sehr aufgeschlossen. Aktuell aber basiert der Staat der herrschenden Geistlichkeit auf einer Ideologie, die kein gutes Verhältnis zur Demokratie hat.
EM: Muß Demokratie säkular sein oder glauben Sie, man könnte im Iran den Prototyp einer islamisch geprägten Demokratie entwickeln?
Schirazi: Ich kann mir keine Demokratie vorstellen, die religiös gebunden ist. Religionen können sich nur dann demokratiekonform verhalten, wenn sie Demokratie für gottgewollt erklären. Und es gibt im Iran von heute durchaus eine zunehmende Zahl von islamischen Reformern, die sich diese Ansicht zu eigen gemacht haben. Sie fordern die Trennung zwischen Islam und Staat.
EM: Ist es richtig, den Iran zu einer „Achse des Bösen“ zu zählen?
Schirazi: Den Iran nicht, aber vom Staat der Islamischen Republik geht viel Böses aus.
EM: Hat der Iran das Recht, Massenvernichtungswaffen zu entwickeln?
Schirazi: Dieses Recht hat eigentlich kein Staat. Um so weniger ein Staat, der aufgrund seines autoritären Charakters, eher dazu geneigt sein könnte, von solchen Waffen tatsächlich Gebrauch zu machen.
EM: Wie beurteilen die Iraner die Okkupation des Irak durch die USA?
Schirazi: Unterschiedlich. Es gibt viele Menschen, die gegen sie nichts einzuwenden hatten und haben. Andere lehnen die Okkupation ab. Aber unter den Herrschenden besteht Einigkeit in der Verurteilung des Irak-Kriegs.
EM: Würden die Iraner und würden Sie persönlich ein militärisches Eingreifen der USA im Iran billigen, wenn es zur Demokratisierung des Landes führen würde?
Schirazi: Nicht wenige Iraner würden das militärische Eingreifen der USA in ihr Land auch dann hinnehmen, wenn es bloß zum Sturz des herrschenden Regimes führen würde. Ich meine aber, daß Demokratie nur dann entstehen und von Bestand sein kann, wenn sie sich auf selbstgemachte Erfahrungen der Bevölkerung und deren bewußten eigenen Willen stützt. Die USA haben schon einmal durch ihr militärisches Eingreifen in den Iran zum Wiederaufleben demokratischer Verhältnisse in diesem Lande beigetragen: 1941 führte der Einmarsch der Alliierten in den Iran zum Sturz der Diktatur des Reza Schah. Aber 1953 beteiligte sich die CIA führend an einem Putsch, der die Beendigung derselben Verhältnisse zur Folge hatte. Also auf eine von außen installierte Demokratie ist kein Verlaß.
EM: In welchem Ruf steht die Europäische Union in der iranischen Bevölkerung?
Schirazi: In gutem, was einzelne europäischen Staaten betrifft. Aber es gibt im Iran verhältnismäßig wenige Menschen, die sich unter dem Begriff „Europäische Union“ etwas Wirklichkeitsnahes vorstellen können.
EM: Im jüngsten Iran-Report der Heinrich-Böll-Stiftung wird berichtet, den Iran verließen jährlich 150.000 bis 180.000 Akademiker. In keinem der sogenannten Entwicklungsländer wären die Verhältnisse schlimmer. Ist die Lage an iranischen Universitäten tatsächlich so aussichtslos?
Schirazi: Die genaue Zahl kennt eigentlich kein Mensch. Aber es ist wahr, daß der Iran im negativen Ruf steht, Nummer eins unter den Staaten zu sein, die unter „Brain-Drain“ leiden. Der Grund dafür liegt nicht nur in der schlechten Lage der Universitäten. Auch die Unzufriedenheit mit den herrschenden politischen, ökonomischen und kulturellen Verhältnissen tragen dazu bei.
EM: Hatten Sie schon einmal die Möglichkeit, im Iran etwas zu veröffentlichen?
Schirazi: In den ersten Monaten nach der Revolution von 1979 ja. Auch in den letzten vier Jahren sind einige wenige Artikel von mir in einem sozialwissenschaftlichen Magazin im Iran erschienen. Es handelt sich dabei um Texte, deren Inhalt die Zensurbehörde nicht auf den Plan ruft. Mit ihrer Billigung erscheinen im Iran heute auch relativ viele Bücher aus dem Westen. Meine gehören jedoch nicht dazu.
EM: Vielen Dank für dieses Gespräch.
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Eurasisches Magazin: Der Iran gilt als ein Gottesstaat. Was sind die geistigen Wurzeln dieses Staatssystems?
Ebrahim Towfigh: Einem in säkularen Verhältnissen aufgewachsenen Europäer mag die Berufung auf Gott als Grundlage staatlicher Herrschaft „mittelalterlich“ erscheinen. Man vergißt allerdings sehr leicht die tiefen christlich-religiösen Wurzeln der Moderne, die sich immer wieder in unterschiedlichen, auch fundamentalistischen, Formen in Erinnerung rufen. Vor nicht langer Zeit hat uns Jürgen Habermas angesichts der unfaßbaren, islamistisch motivierten Terroranschläge des 11. Septembers an das Spannungsverhältnis zwischen Wissenschaft und Glauben erinnert, das sich bestenfalls mit dem Instrumentarium des säkularen Staates regeln läßt. Vorausgesetzt, die Gläubigen akzeptierten die Autorität eben dieser religionsneutralen Instanz.
Spätestens seit Max Weber wissen wir von der christlich-fundamentalistischen Grundlage des westlichen Rationalismus, auf dem die Moderne schlechthin beruht. Erst die Verbindung vom „Jenseitsschicksal“ mit „Diesseitsinteresse“ in der „protestantischen Ethik“ machte den Weg für die Verbreitung des „Geistes des Kapitalismus“ frei. Die Ablösung des „Jenseitsschicksals“ durch das „Diesseitsinteresse“ im Prozeß der bürokratisch-wissenschaftlichen Beherrschung der Welt, die angebliche Ersetzung von Moral durch Konsum und Profit, hat schon immer zu konservativer, ja letztlich „fundamentalistischer“ Kritik an der westlichen „Dekadenz“ angespornt.
Auch die Ursprünge des islamischen Fundamentalismus sind in diesem Zusammenhang, also in der Paradoxie der Moderne, zu suchen, und nicht etwa in der angeblich fehlenden Tradition einer Trennung zwischen weltlichem und religiösem Bereich in der islamischen Geschichte. Das wird ja wider aller akkuraten islamwissenschaftlichen Forschung und auf der Grundlage tiefsitzender „orientalistischer“ Vorurteile immer wieder behauptet. Tatsächlich hat Theokratie keine Vorgeschichte im Islam, sieht man von der islamischen Ursprungsgemeinde ab – und selbst bei der Beurteilung dieser Phase gehen die Meinungen auseinander, ob es sich bei der Herrschaft des Propheten und seiner vier Nachfolger um eine Theokratie gehandelt habe.
Die diversen sunnitischen Kalifatstheorien ebenso wie die schiitische Imamatstheorie sind nichts anderes als theologisch-rechtliche Legitimierungen der Separation der religiösen von der weltlichen Herrschaft, wie sie sich im Zuge der Auflösung der Ursprungsgemeinde in der gesamten islamischen Welt ereignete. Die fundamentalistische Wiederaneignung der islamischen Tradition, inklusive der theokratischen Reinterpretation der schiitischen Imamatstheorie durch Ayatollah Khomeini, sind Resultate eines globalen interkulturellen Austausches, der erst in der Moderne zustande gekommen ist und die islamische Welt vor theologische und gesellschaftspolitische Fragen gestellt hat, die ihrer Geschichte nicht entspringen.
Daß diese islamistischen Antworten auf die Herausforderungen der Moderne in den späten 1960er Jahren hegemonial wurden, hängt mit der postkolonialen Modernisierung islamischer Gesellschaften zusammen, die zur Marginalisierung großer Bevölkerungsgruppen und deren Abdrängen ins islamisch-traditionalistische Milieu geführt hatte und sie so für islamistische Lösungen anfällig machte. Aus dieser Perspektive lassen sich die Islamische Revolution und die Gründung einer theokratischen Herrschaftsform als immanente Produkte, und nicht etwa als „Aufstand gegen die Moderne“ betrachten.
EM: Ist Ihrer Ansicht nach eine demokratische Staatsform westlich-säkularen Typus im Iran mehrheitsfähig?
Towfigh: Iran hat eine relativ lange Geschichte bürgerlich-säkularer Reformbemühungen, die bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts zurückreicht. Wichtige Stationen dieser Bemühungen waren die „Konstitutionelle Revolution“ 1906 und die Regierungsphase Mossadeqs (1951-53). Bekanntlich sind diese beiden Bemühungen, die den Weg für eine demokratische Entwicklung Irans hätten ebnen können, an Einmischungen von außen (Rußland und Großbritannien, sowie der USA) aber auch an der elitären Haltung ihrer Führer und ihrer schwachen sozialen Basis gescheitert. Erst die Erfahrung der Islamischen Revolution und der daraus resultierenden Theokratie führte paradoxerweise zum Entstehen der notwendigen gesellschaftlichen und diskursiven Basis im Volk für einen säkular-republikanischen Staat.
EM: Können Sie das noch eingehender erläutern?
Towfigh: Die Islamische Republik als ein republikanisch organisierter Gottesstaat ist das Ergebnis einer antimonarchistischen Revolution. Die Paradoxie zwischen Theokratie und Republik bestimmte die zweigeteilte Organisationsform des neuen Staates. Auf der einen Seite bildete sich eine theokratische, hauptsächlich klerikal besetzte Hierarchie unter dem religiösen Revolutionsführer Khomeini heraus, die diesem eine quasi absolutistische Kontrolle von Staat und Gesellschaft ermöglichte. Zu dieser Hierarchie gehören nicht nur die religiösen und „karitativen“ Einrichtungen, wie die Organisation des Freitagsgebets, die berühmt-berüchtigten karitativen Stiftungen u.ä., die dem „Haus des Führers“ direkt unterstellt sind. Es gehören auch eine ausgedehnte Organisation der „Kommissare“ des Revolutionsführers dazu, die in allen staatlichen und halbstaatlichen Institutionen für eine effektive Kontrolle des politischen Systems sorgen. Ferner werden hohe Justizangestellte, der Chef der staatlichen Rundfunkanstalt, der Präsident des mächtigen „Rats für die Bestimmung des Staatsinteresses“, sowie die militärischen Befehlshaber vom Revolutionsführer ernannt. Eine besonders wichtige Funktion in der Hierarchie kommt überdies dem sogenannten Wächterrat zu. Er wird zur Hälfte vom Revolutionsführer ernannt und soll das Parlament kontrollieren.
Womit wir beim zweiten Teil des iranischen Staatsaufbaus wären – den repräsentativen Staatsorganen. Sie verkörpern die Volkssouveränität, die neben der Theokratie das zweite in der Verfassung garantierte Prinzip der Islamischen Republik bildet. Die Volkssouveränität ist allerdings dem Prinzip der Theokratie, also der absoluten Herrschaft des „führenden Rechtsgelehrten“, eindeutig untergeordnet. Sie kann sich also nur so weit entfalten, wie sie den Grundsatz der konkretisierten Gottesherrschaft nicht zuwiderläuft. In der durch den Iran-Irak-Krieg bestimmten Konsolidierungsphase des islamischen Regimes wurden die Staatsorgane mit Unterstützung Khomeinis den links-islamistischen Kräften überantwortet. Nicht zuletzt vor dem Hintergrund der notwendigen Kriegsmobilmachung betrieben sie eine an staatssozialistischen Modellen orientierte, für die moderne iranische Geschichte beispiellose nationale Integration der unterprivilegierten und bisher marginalisierten Bevölkerungsteile. So schuf man erst die Massenbasis für die republikanische, wenn auch vordemokratische und vorbürgerliche Staatsform des heutigen Irans.
Während es in der Entstehungs- und Konsolidierungsphase der Islamischen Republik dem charismatischen Revolutionsführer Khomeini gelang, zwischen den theokratischen und republikanischen Staatsorganen ein fragiles Gleichgewicht herzustellen, ging die theokratische Hierarchie nach dem Tod Khomeinis dazu über, republikanische Politiker auszugrenzen und die strategischen, ökonomischen und politischen Ressourcen des Landes allein den geistlichen Herrschern zu unterstellen. Die überwältigende Zustimmung für Khatami bei der Wahl zum Staatspräsidenten im Mai 1997 war wesentlich dem Widerstand des islamischen Republikanimus zu verdanken. Das Unvermögen der staatlichen Reformer, die theokratische Hierarchie nach dem Modell einer „islamischen Demokratie“ khomeinistischen Zuschnitts zu disziplinieren, führte dann aber zu einem Umdenken, in dessen Folge selbst die islamisch-republikanischen Kräfte begannen, sich der Illusion einer „islamischen Demokratie“ zu entledigen und für eine säkulare Republik einzutreten. Meines Erachtens sind die jüngsten Proteste Ausdruck dieser säkularen Wendung im Reformlager.
EM: Muß Demokratie säkular sein oder glauben Sie man könnte im Iran den Prototyp einer islamisch geprägten Demokratie entwickeln?
Towfigh: Für meine Begriffe ist „islamische Demokratie“ ein Mißverständnis, dem nicht nur viele mittlerweile geläuterte Islamisten aufsitzen, sondern auch eine Reihe von namhaften Islam- und Religionsexperten. Dieses Mißverständnis erwächst aus einem kulturalistischen Begriff des liberal-demokratischen Staates und führt zur Verkennung der zivilisatorischen Leistung dieses Staatsmodells, die sich zwar kulturgebunden begründen, nicht aber an Kulturgrenzen relativieren läßt. Wiederum war es Max Weber gewesen, der mit seiner tiefen Einsicht in die Paradoxie der Moderne und in die Problemlagen, die daraus erwachsen, die Kulturleistung des säkularen Staates gerade darin sah, dieser Paradoxie einen Rahmen zur zivilisatorischen Handhabung anzubieten. Die konstitutive Neutralität des säkularen Staates gegenüber dem Glauben ermöglicht es den Staatsbürgern, ihr Bedürfnis nach Letztbegründung und Moral aus dem Repertoire bestehender oder konstruierter Glaubenssysteme zu befriedigen, ohne die Gesellschaft in Glaubenskämpfen untergehen zu lassen.
Vor diesem Hintergrund sehe ich in dem Begriff „islamische Demokratie“ ein Projekt, das nicht aufgehen kann. Und zwar nicht etwa deswegen, weil ich der Meinung bin, Islam und Demokratie ließen sich nicht vereinbaren. Sondern es ist ein himmelweiter Unterschied, ob säkulare Demokratie von islamischen Intellektuellen in einem durch den Islam geprägten kulturellen Milieu begründet wird, oder ob man die, wie auch immer verstandene, Religion zur Legitimationsgrundlage und zum Strukturprinzip des Staates erhebt. Letzteres ist im besten Fall eine „demokratisch“ organisierte Republik der Gläubigen, die alle Anders- und Nichtgläubigen, wenn überhaupt, zu Bürgern zweiter Klasse degradiert. Dies ist nichts anderes als ein religiöses Apartheid-System, aber keine Demokratie.
EM: Ist es richtig, den Iran zu einer „Achse des Bösen“ zu zählen?
Towfigh: Gewiß gehört die Islamische Republik nicht zur „Achse des Guten“, obwohl sie nicht zu vergleichen ist mit Nord-Korea und dem Irak unter Saddam Hussein. Zumal Iran über die grundlegenden Formen „demokratischer“ Repräsentation ja durchaus verfügt.
Die geradezu religiös-fundamentalistisch anmutende Metapher der „Achse des Bösen“ dient offensichtlich der Legitimierung einer imperialen Politik, die sich über die Grenzen des Völkerrechts hinwegsetzt, um die Welt nach eigenem Ermessen neu zu ordnen. Wir sollen dabei der Imperialmacht USA das Vertrauen entgegen bringen, sie schaffe eine bessere, demokratischere Welt, ohne jedoch die Möglichkeit zu haben, diesen neuen „Leviathan“ kontrollieren zu können. Wie barbarisch diese neue Welt aussehen kann, erleben wir gerade im besetzten Irak. Ich will nicht verleugnen, daß mit dem Sturz des Saddam-Regimes auch Chancen verbunden sind. Auch will ich nicht außer Acht lassen, daß es Regime gibt, die die eigene Bevölkerung schlimmster Repression aussetzen, so daß sie über keine Mittel verfügt, sich selbst zu verteidigen. In solchen Fällen ist eine Intervention von Außen notwendig. Das Problem aber ist, daß sich heute ein übermächtiger Staat anmaßt, jenseits der mühselig entwickelten völkerrechtlichen Regularien zu bestimmen, wer wohin gehört und wie mit ihm zu verfahren ist.
EM: Hat der Iran das Recht Massenvernichtungswaffen zu entwickeln?
Towfigh: So unüberbrückbar auch die Ansichten der in den gesellschaftspolitischen Auseinandersetzungen involvierten Kräfte in Iran sind, was die atomare Ausrüstung Irans angeht, scheint es doch einen Konsens zu geben. Zumindest vernehme ich keine relevante Opposition diesbezüglich. Dieser merkwürdige Konsens entwächst einem Sicherheitsbedürfnis, das ich sehr gut nachvollziehen kann. Man fühlt sich nicht zu unrecht von lauter mehr oder minder feindlich gesinnten Nachbarstaaten umgeben. Zu den tiefsitzenden historischen Erinnerungen an kriegerische Auseinandersetzungen mit dem Osmanischen Reich im 17. Jahrhundert und die Annektierung der nördlichen Provinzen (der heutigen kaukasischen und mittelasiatischen Republiken) durch das zaristische Rußland im 19. Jahrhundert gesellt sich die Erfahrung der irakischen Aggression kurz nach der Islamischen Revolution, die von fast allen arabischen Staaten sowie von den USA unterstützt wurde. Verständlicherweise reagiert man sehr sensibel auf die Infragestellung der territorialen Integrität Irans etwa durch die Vereinigten Arabischen Emirate und durch die Republik Aserbaidschan, sowie auf die türkische Unterstützung der iranischen pantürkistischen Kräfte.
In der Opposition kritisiert man zwar, daß die außenpolitische Isolation Irans seit der Islamischen Revolution hauptsächlich der ideologischen Außenpolitik des islamischen Regimes geschuldet wird. Also einer Außenpolitik, die sich durch den Export der Revolution, die Unterstützung islamistisch-terroristischer Kräfte und die Ablehnung des Nahostfriedensprozesses auszeichnet. Aber selbst bei diesen oppositionellen Kräften herrscht die Meinung vor, daß eine friedliche Außenpolitik mit den Nachbarstaaten nur dann zur nationalen Sicherheit beiträgt, wenn man in der Frage der eigenen militärischen Verteidigungsfähigkeit keinen Zweifel aufkommen läßt.
Die Frage ist, ob militärische Verteidigungsfähigkeit automatisch die Entwicklung von Massenvernichtungswaffen impliziert, und ob das Beharren darauf nicht eher das Gegenteil bewirkt, nämlich die Beeinträchtigung der legitimen nationalen Sicherheitsinteressen. Mir scheint, ein demokratisch organisierter Staat und die Einsetzung der knappen nationalen Ressourcen für die ökonomische Entwicklung tragen viel eher zur nationalen Sicherheit bei als abenteuerliche Investitionen in militärischer und besonders atomarer Aufrüstung.
EM: Wie beurteilen die Iraner die Okkupation des Irak durch die USA?
Towfigh: Die Besetzung des Iraks hat in Iran ambivalente Reaktionen ausgelöst. Das Land leidet noch massiv unter den Folgen des irakisch-iranischen Krieges (1980-88). Die Beseitigung Saddam Husseins sah man daher mit Genugtuung. Durch die unmittelbare amerikanische Präsenz in der Region erwartet man auch zunehmenden Druck auf die uneinsichtigen und machtbesessenen „Mullahs“, die trotz aller Reformbemühungen der letzten sechs Jahre nicht zum Nachgeben gedrängt werden konnten. Zugleich breitet sich unter den Iranern die Befürchtung aus, die USA würden zu gleichen Mitteln greifen wie gegen das Taliban- und das Saddam-Regime.
EM: Würden die Iraner und würden Sie persönlich ein militärisches Eingreifen der USA im Iran billigen, wenn es zur Demokratisierung des Landes führen würde?
Towfigh: Wie eben angedeutet, sind die Iraner, soweit ich sehe, gegen eine militärische Intervention der USA. Man darf die tiefen nationalistischen Gefühle der Iraner nicht unterschätzen, ebenso wenig darf man unterschätzen, wie reserviert sie den USA gegenüber eingestellt sind, obwohl sie mehrheitlich für eine Normalisierung der bilateralen Beziehungen sind. Weder der CIA-unterstützte Staatsstreich gegen die nationalistische Regierung Mossadeq im August 1953 ist vergessen, noch die amerikanische Unterstützung der irakischen Aggression in den 1980er Jahren. Dies kann sich allerdings ändern, wenn die theokratischen Machthaber weiterhin nicht bereit sind, sich dem Reformwillen der Bevölkerung zu beugen und sich das Gefühl im Volk verbreitet, Reformen nicht aus eigener Kraft durchsetzen zu können.
Ich für meinen Teil lehne jegliche militärische Intervention ab. Wenn es den Amerikanern mit der Demokratisierung ernst ist, was angesichts der historischen und aktuellen Erfahrungen stark bezweifelt werden darf, dann sollte dies den Machthabern unzweideutig zum Erkennen gegeben werden. Meine Einschätzung der Lage ist, daß ein massiver und glaubhafter Druck von Außen im Sinne der Einhaltung der Menschenrechte die reformwillige Bevölkerung in die Lage versetzen würde, das Regime zum Rückzug zu zwingen.
EM: In welchem Ruf steht die Europäische Union in der iranischen Bevölkerung?
Towfigh: Plump gesagt, schert sich die Bevölkerung wenig um die EU. Unter der zugespitzten Situation ist jedem bewußt, daß es in erster Linie um die Normalisierung der Beziehungen zu den USA geht. Abgesehen davon wird die EU in der öffentlichen Meinung nicht als relevante Größe für die künftige politische Entwicklung des Iran wahrgenommen. Man hat bestimmte Vorstellungen von einzelnen europäischen Staaten, und diese sind nicht unbedingt positiv. Deutschland, Frankreich und Italien werden als mächtige Industriestaaten betrachtet, die vorrangig auf ihre ökonomischen Interessen bedacht sind. Von Großbritannien herrscht ein sehr negatives Bild vor, das Bild einer hinterlistigen alten Kolonialmacht, die sich mit den „Mullahs“ einläßt und für alle Übel in der modernen Geschichte Irans verantwortlich gemacht wird. Das ist sicher ein übertriebenes und teilweise paranoides Bild. Es spiegelt jedoch die gemachten historischen Erfahrungen wider. Ich finde, zu einem positiveren Bild der EU könnte eine einheitliche, konsequent menschenrechtliche Iran-Politik beitragen, die zugleich den provokativen Plänen und Handlungen der neokonservativen Teile der Bush-Regierung gegenüber Iran entgegenwirkt.
EM: Im jüngsten Iran-Report der Heinrich-Böll-Stiftung wird berichtet, den Iran verließen jährlich 150.000 bis 180.000 Akademiker. In keinem der sogenannten Entwicklungsländer wären die Verhältnisse schlimmer. Ist die Lage an iranischen Universitäten tatsächlich so aussichtslos?
Towfigh: Die Situation der Universitäten, besonders was die Möglichkeit zur Forschung angeht, kann zweifelsohne als katastrophal eingestuft werden. Mit Sicherheit trägt dies wesentlich zu einer anhaltenden Abwanderung der Akademiker aus Iran bei. Dazu tragen auch die Verachtung bei, die die herrschenden Kleriker den „dekadenten“ Akademikern und Kulturschaffenden schon seit dem Entstehen des heutigen Regimes entgegenbringen. Auch der erschöpfte Arbeitsmarkt für Akademiker, sowie die kulturelle Öde, die das Regime über das Land gezogen hat, spielen hier natürlich eine Rolle. Alle diese Faktoren verblassen allerdings, wenn man sie mit dem sich ausbreitenden Gefühl der „politischen Aussichtslosigkeit“ vergleicht. In den ersten Jahren nach der Wahl Khatamis zum Staatspräsidenten hat man einen starken Rückgang der Abwanderung von Akademikern verzeichnen können. Der stockende Reformprozeß ließ die Abwanderungsstatistik dann aber wieder in die Höhe schnellen.
EM: Hatten Sie schon einmal die Möglichkeit, im Iran etwas zu veröffentlichen?
Towfigh: Die Möglichkeit besteht und ich habe sie auch wahrgenommen. Bei der Veröffentlichung von Texten existieren für die Iraner im Ausland keine zusätzlichen Schranken als die allgemeinen, alle Intellektuellen im Lande betreffenden. Tatsächlich findet ein reger intellektueller Austausch statt zwischen In- und Ausland. Dies hat besonders mit der Verbreitung der neuen elektronischen Medien dramatisch zugenommen. Seit kurzem versucht man Internetseiten zu blockieren, die der Zensur nicht standhalten. Bisher allerdings mit nur mäßigem Erfolg.
EM: Vielen Dank für dieses Gespräch.
Die Interviews führte Hartmut Wagner.
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