09.08.2023 13:11:56
TIBET
Von Hans Wagner
Andreas Gruschke befragt einen Nomaden nach seinen Lebensbedingungen auf dem osttibetischen Hochland. Foto: Gruschke
Der Raupenpilz, von dem die Nomaden profitieren heißt „Yartsagunbu“, was so viel bedeutet wie „Im Sommer Gras, im Winter Wurm“. Dabei handelt es sich um einen Schlauchpilz mit dem lateinischen Namen Ophiocordyceps sinensis, der zu Deutsch „Raupenpilz“ genannt wird. Er findet sich ausschließlich im tibetischen Hochland in Höhen zwischen 3.500 und 5.000 Metern und befällt als Parasit die Larven einer Faltergattung mit dem Namen Thitarodes. Es ist wohl die Zweideutigkeit dieser scheinbaren Zwischenform zwischen Tier und Pflanze, die ihn zu etwas Außergewöhnlichem macht. Denn tatsächlich scheint der Yartsagunbu ja sowohl als Insekt als auch Pilz aufzutreten.
In der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM) gilt Yartsagunbu seit langem als Heil- und Stärkungsmittel, vor allem aber als Aphrodisiakum. Und wie so oft, wenn Natursubstanzen die Steigerung der Libido zugeschrieben wird, erfreuen sie sich besonders großen Zuspruchs.
Wer Raupenpilze zu verkaufen hat, kann reich werden. Raupenpilzhändler verdienen viel Geld. Die Ware ist schon fast so teuer wie Gold. Auf den Speisekarten der großen Städte Chinas steht der Raupenpilz immer öfter als Zutat zu raffinierten Gerichten. Die gängigste Form des Verzehrs ist jedoch nach wie vor Schnaps, in den der Pilz eingelegt wurde: „Gut für den Mann“, wird diese Einnahmeform allgemein genannt.
Der Lebenszyklus des Raupenpilzes ist eine recht ausgefallene Laune der Natur. Der Pilz befällt mit seinen unsichtbaren Sporen den Kopf der Larve des Thitarodes-Falters. Diese wird als „Wurzelbohrer“ bezeichnet, weil sie sich, wie der Name sagt, unterirdisch in Pflanzenwurzeln hineinbohrt und von ihnen lebt. Die Pilzsporen, die ebenfalls im Boden vorhanden sind, keimen im Kopf der Larve und lassen den Pilz aus ihr herauswachsen. Dabei wird sie förmlich ausgelaugt, ihr alle Energie entzogen, so dass sie abstirbt und schließlich mumifiziert zurückbleibt.
Der aus den Larven entstandene Pilz wächst im Frühling und im Sommer aus dem Boden und wird oberirdisch wie sprießendes Gras von den Hochlandnomaden eingesammelt. Daher sein Name: „Im Sommer Gras im Winter Wurm“.
Längst hat der Raupenpilz den Weg ins Internet und damit in die alternativen Szenen weltweit gefunden. Kapseln, die angeblich reinen gemahlenen Raupenpilz oder Raupenpilz-Extrakt enthalten, kosten in einer 30-Stück-Packung zwischen 70 und 100 Euro. Empfohlene Tagesdosis drei Kapseln.
Unter Phantasiebezeichnungen wie „Vegikapseln“, - garantiert vegan – oder „Vitalpilzextrakt“ gelangen sie auch schon als billiges, „fermentiertes Raupenpilzpulver“ in den Handel. 100 Kapseln zu je 500 Milligramm für unter 20 Euro, wobei es sich aber längst nicht mehr um gesammelte Wildpilze handelt, sondern um auf Myzel „kultivierte Produkte“, die irgendwo regelrecht angebaut werden wie Champignons und nun nicht mehr aus Raupen wachsen.
Hochland-Nomaden Osttibets vom Bergstamm der Khampas auf den Raupenpilzweiden. Foto: Gruschke
Für die Nomaden auf dem tibetischen Hochland hat sich die Welt verändert, seit der Yartsagunbu globale Verbreitung gefunden hat. Bis vor wenigen Jahrzehnten waren die Kenntnisse über den Raupenpilz im Wesentlichen den Einheimischen vorbehalten.
Erst in jüngerer Zeit werden die sich damit veränderten Lebens- und Existenzbedingungen der Bevölkerung in den Steppen des tibetischen Hochlandes systematisch erforscht. Einer der führenden Fachleute ist Andreas Gruschke, der heute als Gastprofessor an der Sichuan-Universität in Chengdu, China lehrt. Er hat soeben eine umfangreiche Studie vorgelegt, die zeigt, wie sehr sich das Leben der Menschen in den uralten Weidegebieten durch neue Bedingungen verändert hat.
Gruschkes Forschungen über die Wandlungen der Gesellschaft in den Steppen des tibetischen Hochlandes liegen nun in Buchform vor. Darin schildert er seine Erkenntnisse darüber, wie die Menschen in den Nomadengebieten unter schwierigen Bedingungen nach Einkommen, Schulbildung und einem bescheidenen Wohlstand streben.
Den Nomadismus in Osttibet hat er als „eine mobile Lebensweise“ beschrieben, „die ursprünglich durch Wanderweidewirtschaft gekennzeichnet ist. Dies bedeutet, dass Nomaden ‚Viehzüchter‘ im weiteren Sinne sind. Sie kennzeichnen sich durch mobile Tierhaltung, die saisonale Wanderung erfordert (‚Wanderhirtentum‘), sind in Klanstrukturen oder Zeltgruppen organisiert und wohnen in ‚bodenvagen‘, das heißt in ‚mobilen Behausungen‘ wie z.B. Zelten und Jurten. Dieses Leben mit Vieh und in Zelten hat sich als Selbstverständlichkeit eingeprägt.“ Mit anderen Worten: „Nomadisch sind Organisationsformen von Arbeit und Leben, die in Person, Arbeitsmitteln, Arbeitsplatz und Wohnungen beweglich sind, die es erlauben, geo- oder sozialklimatischen Unbilden auszuweichen.“
Da tibetische Hirten bei uns grundsätzlich als Nomaden bezeichnet werden, hat Gruschke erläutert, wie der entsprechende einheimische Begriff in Tibet selbst lautet: In der von ihm untersuchten Region in Osttibet werden sie Drokpa genannt. Dieses tibetische Wort bedeutet „Einsamkeit, Wildnis“ und meint im landwirtschaftlichen Sinne unkultiviertes Land, besonders aber Sommerweide für Vieh in den Bergen. Dropka ist ein „Mann oder Mensch der Einsamkeit oder Wildnis“. Er lebt in landwirtschaftlich nicht nutzbaren Gebieten - das bedeutet auf reinen Weideflächen der Hochland- und Gebirgssteppe.
Aber seit der Großvermarktung des Yartsagunbu ist vieles anders geworden im tibetischen Hochland. Ein bis zwei Monate lang stiehlt der Raupenpilz den Herdentieren die Schau. Viele Drokpas nutzen Yaks und Schafe nur noch zur Deckung ihres Eigenbedarfs an Tierprodukten, für andere Bedürfnisse steht die Geldwirtschaft an zentraler Stelle. Ärmeren Nomadenfamilien bietet die Ressource Raupenpilz die einzigartige Möglichkeit, Defizite der Viehwirtschaft auszugleichen. Für viele Haushalte stellt das Sammeln von Raupenpilz daher eine Überlebensnotwendigkeit dar, für andere ist es bereits die Grundlage von Wohlstand.
Die Herausbildung einer begüterten Mittelschicht in China hat die Nachfrage und damit die Preise rasant ansteigen lassen: von etwa 500 Yuan pro Pfund Anfang 1988 auf inzwischen 70.000 Yuan und mehr: Ein Pfund bester Qualität des begehrten Pilzes kostete im November 2010 bereits 120.000 Yuan (ca. 13.000 Euro) und war damit fast so teuer wie Gold.
„Das Sammeln und Verkaufen von Raupenpilzen stellt eine weltweit einzigartige ökonomische Nische dar“, schreibt Gruschke, „deren rasante Entwicklung durch die engeren Land-Stadt-Verflechtungen und die verstärkte Integration in das nationale Wirtschaftsgefüge Chinas bedingt ist. Die Bedeutung dieses Nischenproduktes für die Existenzsicherung tibetischer Nomaden stellt vielerorts die Relevanz der klassischen Viehweidewirtschaft für die gegenwärtigen Haushaltsökonomien in Frage.“
Andreas Gruschke hat dies in seiner Arbeit die osttibetische Region Yushu (Qinghai, VR China) untersucht. Der Bericht beschäftigt sich mit der Frage, wie nomadische Gesellschaften in Zeiten des Umbruchs die ihnen zur Verfügung stehenden Ressourcen zur Sicherung ihrer Lebenshaltung und Lebensweise nutzen.
Seine Untersuchung „hat zum Ziel, das vorhandene Wissen über die nomadische Lebensweise
in Tibet zusammenzufassen und zu vertiefen“, wie er schreibt. Herausgekommen sei zum Beispiel, „dass selbst in den dünn besiedelten Weidegebieten des Hochlands immer mehr Menschen es als zunehmend schwierig erleben, dort ihr Auskommen zu finden.“
Das Gold Osttibets: gesammelte Raupenpilz e für den Verkauf. Foto: Gruschke
Und das nicht nur, weil sich die lokal herrschenden Bedingungen verändern. Sondern „auch von außen lösen weltwirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Verflechtungen verschiedenste Transformationsprozesse aus. Mit der Integration in den chinesischen Staatsverband und in die Netzwerke der Globalisierung haben sich die Rahmenbedingungen für das Wirtschaften in den Weidegebieten Tibets verändert.“
Unverändert aber sei „die gewährte Gastfreundschaft, die erlebte Offenheit und die freundliche Atmosphäre“, als Gruschke die Dropka besuchte und befragte. Die Gespräche seien oft durchaus heiter verlaufen. „Ich fand freundliche Aufnahme in Zelten und Küchen zahlreicher Hirtenfamilien“ schreibt er, „die ihrer Gastfreundschaft noch tatkräftig logistischen Beistand hinzufügten.“
Andreas Gruschke hat in Freiburg im Breisgau und an der Universität für Sprache und Kultur in Peking Geographie, Ethnologie und Sinologie studiert. 2009 promovierte er an der Universität Leipzig. Von 2004 bis 2012 war Gruschke dort wissenschaftlicher Mitarbeiter am Sonderforschungsbereich „Differenz und Integration: Wechselwirkungen zwischen nomadischen und sesshaften Lebensformen in Zivilisationen der Alten Welt“. Studien-, Arbeits- und Forschungsaufenthalte führten ihn nach China, Korea, ins Hochland von Tibet, den Himalaja-Raum, sowie nach Zentralasien. Seine Forschungsschwerpunkte sind vor allem Historische Geographie, Geographische Entwicklungsforschung, Fragen der Akkulturation und Integration, Pastoralismus und Migration.
Gruschkes Untersuchung zeigt auf, dass manche globalen Umbrüche in ihren Auswirkungen die in vermeintlicher Abgeschiedenheit lebenden Menschen womöglich sogar gravierender treffen als Städter: „Hatten Nomaden mit ihren Lebens- und Wirtschaftsformen einst vornehmlich Bedrohungen der Natur und solche durch Nachbargesellschaften zu bewältigen, so sehen sie sich heutzutage nicht nur von Auswirkungen des Klimawandels, sondern mehr denn je auch von weltweiten ökonomischen Verflechtungen, gesellschaftlichen Umbrüchen, politischen Interventionen, und nicht zuletzt den Folgen des demographischen Wandels herausgefordert. Unter den Bedingungen von Umbrüchen entstanden und entstehen neue Lebensformen, andere werden preisgegeben.“
Gruschke kommt zu dem Schluss, dass die „heutige Situation“ der Nomaden in Osttibet „ausgesprochen widersprüchlich“ ist. Nach 1980 habe die mobile Weidewirtschaft offenbar zu einer Re-Nomadisierung geführt, die nun aber durch den Marktliberalismus bedroht werde. Es falle den Menschen zunehmend schwer, „ihr Auskommen zu finden“.
Der Autor ließ sich in den entlegensten Gebieten von Menschen berichten, wie sie ihren Lebensstil verändern mussten. Der Dropka Ngawang Dradul erzählt, wie er und sein Dorf sesshaft wurden. Der Hundezüchter Kunga Sonam schilderte seine speziellen Nöte und Probleme. Karma Yeshi, ein Nomadenarzt und derApotheker Pu Tashi, sowie der Dorfparteisekretär berichten, wie sie sich im Alltag behaupten und durchschlagen. Die Nomaden im Hochland von Osttibet, im untersuchten Bezirk Yushu, lieferten die Fallstudien, anhand derer Gruschke „die Lebensgrundlagen nomadischer und seminomadischer Haushalte in einer lange Zeit als besonders abgelegen geltenden, ökologisch äußerst problematischen und ökonomisch randständigen Region im Osten des tibetischen Hochlandes untersucht“ hat.
Die Urbanisierung schreite selbst in Weidegebieten voran. Immer häufiger würden Nomaden Häuser beziehen und sesshaft werden. Weidegebiete würden eingezäunt was eine Beschränkung der maximalen Herdengrößen zur Folge habe. Es gebe staatliche Umsiedlungsmaßnahmen für die Dropka. Letztlich würden all diese Maßnahmen „ausschließlich auf die Marginalisierung der nomadischen Bevölkerung“ zielen. Für Osttibet stehe damit „die Frage im Raum, ob die jüngste Renomadisierung lediglich ein kurzlebiger, vorübergehender Revitalisierungsprozess war, bevor das Ende der mobilen Weidewirtschaft eingeläutet wird.“
Kommt da der weltweit steigende Absatz des Raupenpilzes nicht wie gerufen? Gruschke: „Die übergroße Bedeutung dieser naturgebundenen Ressource in Yushu legt es nahe, von einer Raupenpilzökonomie zu sprechen, da sie sich auch auf das lokale, regionale und überregionale Handelsgeschehen auswirkt. Mit Blick auf die Hirtenbevölkerung ließe sich überspitzt formulieren, dass es sich um ‚Nebenerwerbsnomaden‘ handelt, die im Haupterwerb vom Raupenpilz leben.“
Und tatsächlich leben Stadt und Land vom Yartsagunbu. Die Bewohner der Dorfgemeinschaften ebenso, wie Städter. Dies sei „einer der verblüffendsten Befunde, die sich aus der Untersuchung von Dorfgemeinschaften einerseits und in die Stadt abgewanderten Migranten andererseits ergaben“, schreibt Gruschke. Hinsichtlich der Rolle des Raupenpilzes und der daraus resultierenden Einkünfte ergäbe sich kein wesentlicher Unterschied zwischen ländlichen und städtischen Haushalten.
Auf Einkünfte durch den Raupenpilz würden „88 Prozent der Einkünfte“ entfallen. Landbewohner sammeln während der Monate, in denen der Pilz sprießt, die Weideflächen ab. Und die Tibeter, die in die Städte gezogen sind, kommen während „der Saison“ ebenfalls als Raupenpilzsucher auf die Wiesen.
Auf diese Weise gelingt es selbst „Nomaden ohne Weide“, ja sogar „Hirten ohne Tiere“, sich im Grunde eine nomadische Lebensweise in den Weidegebieten zu bewahren. Sie sammeln Raupenpilze – sie sind im tibetischen Hochland zur wichtigsten Einkommensquelle vieler Hirten geworden.
Die Untersuchung als Buch: „Nomadische Ressourcennutzung und Existenzsicherung im Umbruch. Die osttibetische Region Yushu“ von Andreas Gruschke , Band 15 der Reihe Nomaden und Sesshafte, Reichert Verlag, 504 Seiten, 24 sw Abbildungen, Karten und Tabellen, 88 Euro, ISBN-13: 978-3895006432. Im Buchhandel oder beim Autor zu bestellen: gruschke@scu.edu.cn.
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