09.08.2023 13:11:56
GESEHEN
Von Julia Schatte | 02.04.2015
Patriotinnen - der Film, von Irina Roerig, Axel-Brandt-Filmproduktion 2014, TrailerMit schnellen Bildern und kurzen Einstellungen des heutigen Moskaus beginnt Irina Roerigs Film. Gleich zu Beginn zeichnet sie starke Kontraste: das statische, ruhige, dunkle Aleksandr- Puschkin-Denkmal erscheint vor den ständig wechselnden Pixelbildern riesiger Reklameschilder.
Mit drei Protagonistinnen macht sie uns bekannt: der russischen Dichterin und Schriftstellerin Marina Zwetajewa (1892-1941), der Sängerin und Dichterin Jelena Frolowa (geb. 1969) und deren Mutter Maja Stepanowna Frolowa.
Frolowa, die selbst ca. 60 Gedichte Marina Zwetajewas, aber auch Osip Mandelstams, Anna Achmatovas und Iosif Brodskijs, vertonte, meint, sie verstehe die heutige Popmusik nicht. Die Kamera begleitet ihre Auftritte in Russland und in Paris, wohin auch Marina Zwetajewa emigrierte, die nicht in der Sowjetunion wohnen wollte. Zwischendurch beschreiben fiktive, gespielte Szenen die Lebenserinnerungen von Marina Zwetajewa.
Frolowa zitiert die expressive Frau, die fühlte, dass sie in Russland eine Dichterin ohne Bücher war, und in Frankreich eine Dichterin ohne Leser. Ihr Empfinden der Gegenwart wird quasi gegenüber gestellt, wenn Marina Zwetajewa das Silberne Zeitalter der Literatur (ca. 1900-1920) als das Gefühl beschreibt, gemeinsam in eine Katastrophe zu schlittern. Jelena Frolowa sieht Russland heute als ein aufgewühltes Wasser, das sich nicht setzt.
Immer wieder setzt Frolowa historische Ereignisse mit den Biographien von Dichtern in Verbindung. Sie meint, dass sie durch das Schicksal der Dichter die Geschichte des Landes erfahren hat, und nicht umgekehrt. Sie erzählt, dass manchmal Menschen auch erst durch Musik zur Dichtung finden. Mit Melancholie und einem gewissen Fatalismus resümiert sie, dass in Russland ein Dichter zu seinen Lebzeiten gar kein Recht darauf habe, Dichter zu sein. Pathos schwingt auch mit, wenn Frolowa sagt, der Dichter falle stets aus der Zeit und würde erst nach seinem Tod gewürdigt werden.
Frolowas Mutter, Maja Stepanowna, trauert um die Sowjetunion, so, wie sie einmal war. Ihrer Meinung und Empfindung nach war es eine menschliche, kollektive Gesellschaft.
Die Religiosität, die ihre Tochter heute besingt, war von der Sowjetmacht gefürchtet. Denn diese würde zum Individualismus führen. Heute betet und spricht jeder nur noch für sich, und spricht mit Gott. Die sowjetische Dichtung hat man beiseite getan, nun sei das Religiöse und Mystische gefragt. Stattdessen sollte man für das Gemeinwohl und die Gesellschaft tätig sein. Denn eigentlich gehe es in den christlichen zehn Geboten auch um das Gemeinwohl, genau wie in der sowjetischen Ideologie, sagt Maja Stepanowna. Daher hätte Jesus Christus vielleicht den Sozialismus gewollt, den Kapitalismus in der heutigen Version aber sicher nicht.
Viel Raum lässt dieser Film auch für melancholisch-stille Landschaftsbilder. Aufnahmen der historischen Sakralbauten von Suzdal´, einer der ältesten russischen Städte, die im 14. Jahrhundert. zu einem wichtigen religiösen Zentrum geworden war, spiegeln sowohl Spiritualität als auch Naturverbundenheit.
In einem Klosterhof spricht Jelena Frolowa mit einer alten Frau. Als sie nach Mann und Kindern gefragt, verneinen muss, will die alte Frau wissen, ob sie denn zumindest ein Kreuz trage. Als sie etwas vorzusingen beginnt, ist die alte Frau verwirrt. Dürfe man im Kloster denn überhaupt geistliche Lieder singen? Dürfe man überhaupt singen oder sind nur Gebete erlaubt?
Frolowa spricht über die Verbundenheit mit Orten, an denen sich historische Begebenheiten abspielten und Schicksale entschieden, auch tragische Ereignisse. Sie reflektiert über Symbolik und wiederkehrende Szenarien in der Landesgeschichte.
Die Verbindung zwischen der Sängerin und der Dichterin, die Erzählungen über die damalige und die heutige Zeit implizieren eine Art Gegenüberstellung der Frauen. Bei einem Vergleich muss man jedoch vorsichtig sein. Denn Jelena Frolowa fällt mit ihrem eigenständigen Lebensstil, ihrem Heimatbewusstsein und ihrer Zuwendung zur Spiritualität ganz und gar nicht aus der Zeit. Dafür sprechen auch ihre vollen Konzertsäle. Im Gegenteil , sie passt sehr gut ins heutige Russland, wo durchaus gegensätzliche und auch widersprüchliche Stimmungen und Tendenzen koexistieren.
Im Gespräch mit der Regisseurin Irina Roerig erklärte sie, dass es jahrlange Schwierigkeiten gab, eine Förderung für diesen Film zu bekommen. „Russland sei durch“ hieß es schon vor fünf Jahren, Zwetajewa kenne niemand, Frolowa erst recht nicht, und ein „Kennenlernen“ sei kein Argument für diesen Film.
Bei der Titelgebung für ihren Film dachte die Regisseurin nicht daran, dass der Begriff in Deutschland im Kontext aktueller Ereignisse und radikaler Stimmen auch wieder politisch verwendet werden könnte. Roerig sieht ihn hierzulande als „gebrochen“ an.
Patriotismus steht in ihrem Film für die Überzeugung von einer geistig-emotionalen Konzeption, einer Gedankenwelt, einer Verbindung zwischen der historischen Prägung und dem alltäglichen Dasein. Er steht auch für die Auseinandersetzung der drei Protagonistinnen mit jeweils drei verschiedenen Lebenswelten, für die eigene Identität und die Suche nach einer Heimat, die einen niemals loslässt.
Interview mit der Regisseurin von „Patriotinnen“ Irina Roerig09.08.2023 13:11:56
29.07.2023 10:14:12
13.01.2023 14:10:35
08.07.2022 17:15:55
18.05.2022 09:35:41
14.05.2022 12:09:22
11.04.2022 14:21:21
19.03.2022 10:08:25
16.07.2021 13:38:36
22.03.2021 21:36:33