Reise zum Mittelpunkt Eurasiens

Reise zum Mittelpunkt Eurasiens

Reise zum Mittelpunkt Eurasiens

Zum Zentrum des eurasischen Kontinents ging die Abenteuerreise unseres Autors Hartmut Wagner. Er fuhr durch die riesige kasachische Steppenlandschaft, einst Heimat viehzuchtender Nomadenstämme, heute Herzstuck der jungen Republik Kasachstan. Sein Ziel war der kleine Ort Shidebaj, der als geographischer Mittelpunkt Eurasiens gilt.

Von Hartmut Wagner

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Kräne und Minarette: Die neue Moschee von Astana  

EM – Der Wind fegte fast unbemerkt über die sandige Ebene. Ich war allein. Zur Kreuzung, auf der mich der Bus abgesetzt hatte, liefen vier Straßen zusammen. Ganz gleich, in welche der vier Himmelsrichtungen meine Augen wanderten: vor mir erstreckte sich kilometerweite Steppe. Menschenleere, baumlose, bretterebene Steppe. Es war ein Sonnentag, wie er im Bilderbuch eurasischer Nomaden ehrfürchtig gepriesen sein muß. Die kasachische Steppe hatte mir einen herzlichen Empfang bereitet. Zum Zentrum Eurasiens waren es nur noch elf Kilometer...

Zwei Tage zuvor hatte ich um diese Zeit gerade die Paßkontrolle passiert. Ich warf mir meinen Rucksack auf den Rücken und trat hinaus ins Freie. Soeben war ich auf dem „Internationalen Flughafen Astana“ gelandet. Astana, die neue Hauptstadt des unabhängigen Kasachstans, liegt mitten in der zentralkasachischen „Sary Arka“, dem Mutterland der Kasachen. Die Steppe ist hier scheinbar unendlich und so flach, als hätten sie die besten Landschaftsarchitekten Kasachstans auf dem Reißbrett vermessen. Um dem geschäftigen Trubel am Flughafen zu entkommen, nahm ich mir gleich ein Taxi Richtung Innenstadt. Buisnessmänner in eleganten Zweireihern, ihr Diplomatenköfferchen lässig aus dem Handgelenk schwenkend, waren nicht die Gesellschaft, mit der ich zu Mittag essen wollte.

Zum Tee in Astana

Am Astaner Zentralmarkt ließ ich das Taxi anhalten. Der erstbeste Passant, den ich nach einer Cafeteria fragte, schickte mich in ein großes Einkaufszentrum. Es war erst kurze Zeit zuvor an diese Stelle hingeklotzt worden und mag nicht recht harmonieren mit den bescheidenen Verkaufsbuden des Marktes. In der Cafeteria herrschte ein liebenswertes Chaos. An der Kasse drängelten sich Verkäuferinnen des angrenzenden Marktes, Lagerarbeiter in verstaubten Latzhosen, auffällig junge Studenten, teilnahmslos blickende Senioren. Die kleine Speisekarte auf der Glasvitrine war von der hungrigen Kundschaft verdeckt. Auch mein Magen knurrte bissig und so stellte ich mich gleich ans Ende der Warteschlange. Je kürzer die Schlange wurde, um so mehr Gerichte tauchten auf der Tageskarte auf. Über die schwarze Schiebermütze meines Vordermannes hinweg war zunächst das Angebot russischer Suppen erkennbar: Borschtsch und Rassolnik. Bald kamen noch ukrainische Soljanka, usbekischer Plow und uigurischer Lagman hinzu. „Tscho wam?“ fragte mich die Kassiererin nach meinen Essenswunsch. Ihre unnatürlich blonden Haare endeten kurz über dem kleinen Namensschild auf ihrer Brust. Natascha hieß die Kassenwärtin. Aber eigentlich war sie Mädchen für alles. Sie gab Essen aus, nahm Bestellungen auf und kassierte. Manchmal mußte dazu eine Hand genügen, da die andere Tee oder Kaffee zubereitete.

Ich bestellte Rassolnik und Lagman. „Und Tee, und Brot möchten Sie nicht?“, fragte mich Natascha leicht irritiert. Es dämmerte mir: Brot und Tee gehören in Kasachstan zu jedem Essen. Das hatte ich im Reiseführer gelesen. „Ein Glas Tee und drei Stückchen Brot bitte.“ Das gleiche hatte auch der Kasache mit der Schiebermütze vor mir bestellt. Damit war ich also auf der sicheren Seite.

Mit großer Lust machte ich mich über mein russisch-uigurisches Willkommensmahl her – ein echter Gaumengenuß. Trotz meiner Gabel, die sich zu kunstvollen Figuren verformte, sobald ich sie etwas härter rannahm. „Ja, ja. Ich war eine Dose!“ schimpfte ich leise und stieg auf den Löffel um.

Abfahrt nach Semej

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Das Denkmal "Stärker als der Tod" in Semej erinnert an die
Todesopfer der
jahrzehntelangen Atombomben-versuche auf dem Testgelände "Polygon".
 

„Was wollen Sie denn in Semipalatinsk?“ raunte die dunkelhaarige Fahrkartenverkäuferin hinter der dicken Glasscheibe. Semipalatinsk, der russische Name für Semej, kämpft mit einem ähnlichen Imageproblem wie das ukrainische Tschernobyl. Mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde in unmittelbarer Nachbarschaft der Stadt ein Territorium der Fläche Schleswig-Holsteins abgeriegelt und fortan als Testgelände für Atombombenversuche genutzt. Daß ein Tourist sofort weiterreisen wollte, wo er doch gerade erst in der kasachischen Hauptstadt gelandet war, konnte die Dame mir gegenüber nicht verstehen. Noch dazu nach Semej!

Endlich konnte ich die Zugfahrkarten in meinem Rucksack verstauen. Darauf hatten sie offensichtlich gewartet. Wie Tauben auf ein paar Brotkrumen flogen die umstehenden Männer auf mich zu, um mich mit ihrem Gurren zu umwerben: Taxi?, Taxi?, Taxi? lautete ihre einfache und weltweit verständliche Botschaft. Sie jonglierten mit gewaltigen Geldbeträgen und behaupteten mit der Inbrunst der Überzeugung, daß es sich hierbei um den ortsüblichen Tarif handle. Das Feilschen um den Fahrpreis gehört hierzulande zum festen Ritual unter Taxifahrern. Fast hat man den Eindruck, sie setzen ihre Verhandlungsbasis nur deshalb zu hoch an, um vor der stressigen Fahrt durch Astanas Zentrum wenigstens noch ein wenig Spaß zu haben.

Mit südländischem Temperament kutschierte mich mein Chauffeur über den Prospekt der Republik. Russischer und kasachischer Pop aus dem Autoradio peitschten voran. Wie selbstverständlich hatte ich bisher mit allen Menschen auf Russisch gesprochen – mit den Flugbegleiterinnen, der Angestellten am Fahrkartenschalter und gerade mit dem Taxisten. Und nicht nur für mich schien das normal, auch für meine Gegenüber. Das Kasachische gewinnt zwar immer mehr an Bedeutung, aber die Sprache des großen Nachbarn im Norden ist auch dreizehn Jahre nach dem Zerfall der Sowjetunion in allen Lebensbereichen des unabhängigen Kasachstans präsent. Am Hauptbahnhof Astana lenkte der Fahrer sein in die Jahre gekommenes, spätsowjetisches Gefährt in eine Parkbucht. „Two hundred, please!“ – „Wot dwesti – Hier die Zweihundert“, quittierte ich auf Russisch das schelmische Grinsen des Kasachen und bezahlte.

Auf dem Bahnsteig lief gerade die Beladungs- und Verabschiedungszeremonie an. Leute fielen sich um den Hals, Hände wurden geschüttelt, Tränen vergossen. Über die Waggonstiegen wanderten etliche weiße Plastiktaschen ins Innere des Zuges. Diese Taschen mit ihren dünnen Farbkaros sind so etwas wie der „Eastpack“-Rucksack des Ostens. Wer im Osten eine Reise tut, schleppt mindestens eine von ihnen mit sich herum – ohne fällt man auf. Erst recht, wenn man mit einem dicken Weltenbummler-Rucksack unterwegs ist wie ich.

Auf Schienen durch die „Sary Arka“

Mein Zugabteil teilte ich mit Pawel, Sascha und Dmitrij. Als ich die Schiebetür zum Abteil aufzog, hatten sie es sich bereits gemütlich gemacht und waren wie die meisten Fahrgäste in Trainingshose und Hausschuhe geschlüpft. Gerade mischten sie die Karten für die erste Partie „Durak“. „Dummkopf“ ist das Lieblings-Kartenspiel der Russen, egal wo sie zu Hause sind, ob in Königsberg oder Almaty, St. Petersburg oder Ust-Kamenogorsk. Unsere Begrüßung war, wie unter Russen üblich, sehr förmlich, aber nicht minder herzlich. Doch ich versuchte unser Gespräch möglichst kurz zu halten, um nichts von der Aussicht auf die Steppe zu verpassen. Wir waren noch keine fünfzehn Minuten unterwegs und befanden uns bereits mitten in der „Sary Arka“.

„Da draußen gibt es nichts zu sehen, glaub mir. Spiel lieber eine Runde mit“, forderte mich Pawel auf, belehrend wie ein umsorgter Familienvater. „ Nee, vielen Dank. „Dummkopf“ können wir auch noch gegen Abend spielen“, erklärte ich ihm. Jetzt würde ich lieber die Aussicht nach draußen genießen. Mit einem verständnislosen „Nu choroscho – Nun gut“ wandte er sich wieder seinen Kumpanen zu und begann die Karten erneut auszuteilen. Für Einheimische ist die unbewohnte und völlig baumfreie Steppe einfach nur langweilig. Aus ihrer Sicht erstreckt sich links und rechts des Gleiskanals ein großes, gähnendes Nichts. Während die wenigen ausländischen Passagiere fasziniert auf eben dieses Nichts blicken, knabbern Kasachen und Russen mit großer Hingabe Sonnenblumenkerne, plauschen mit ihren Reisegefährten oder spielen Karten, wie meine drei Reisegefährten. Nebenbei trinken sie Unmengen von Tee, weshalb eigens in jedem Waggon ein Samowar für Teewasser steht. Die Fahrt über ist der oftmals noch mit Kohle angefeuerte Wasserkessel ununterbrochen im Einsatz.

Für Schnäppchenjäger hat die Zugreise noch ein besonderes Schmankerl zu bieten. Fahrende Händlerinnen tigern mit ihren schweren Taschen die Gänge auf und ab – in einer Endlosschleife vom ersten Waggon gleich hinter der Lok bis zur Spitze des eisernen Wurmes und wieder zurück. Ich stand die ganze Fahrt über am Fenster und damit genau auf der Handelsroute des Zuges. In fünfminütigem Abstand wurde mir eine Flasche kasachisches Bier oder eine gefüllte russische Pirogge angeboten. Doch das Repertoire der schwer bepackten Damen ist damit längst nicht erschöpft. Es reicht von Strumpfhosen bis zum Bügeleisen, von Familientelefonen bis zum Satz Küchenmesser.

Die Schmutz- und Staubschicht an den Fenstern kündet vom hektischen Alltag des Zuges: Tagein tagaus rumpelt er durch die sandigen Weiten Ostkasachstans. Doch so aufschlußreich die Hinterlassenschaften der Steppe auch sind, sie raubten mir das langsam versiegende Tageslicht. Noch kämpften die letzten Sonnenstrahlen mit der umsichgreifenden Abenddämmerung, bis sich schließlich mein Blick nach draußen in einem konturlosen Schwarz verlief.

„Nein, kein Spion!“

Pawel, Sascha und Dmitrij hatten ihre Karten inzwischen weggepackt und vier Flaschen Bier für einen nächtlichen Umtrunk hervorgeholt. Den fragenden Blick Pawels nahm ich dankend auf und setzte mich zu den drei Russen. „Was machst Du eigentlich hier und woher kannst Du Russisch?“ fragte mich Dmitrij hastig, als lag ihm die Frage schon die letzten hundert Kilometer auf der Zunge. „Ich bin...“ „Spion?“ unterbrach mich Sascha scherzend. „Nein, kein Spion, sondern Student. Ich studiere in der ostdeutschen Stadt Potsdam Russisch.“ Das schien die größte Neugierde der drei erst einmal zu stillen. Schnell wandte sich unser Gespräch den gängigen Themen in solchen Situationen zu: die gemeinschaftliche europäische Währung, die besten deutschen Autos, der Zweite Weltkrieg. Dmitrij nutzte eine allgemeine Verschnaufpause, um eine zweite ihm wichtige Frage zu stellen: „Und warum willst Du nach Semipalatinsk? Warum bist Du nicht in Astana geblieben?“ Ich erklärte ihm, daß ich mir die kasachische Hauptstadt auf dem Rückweg anschauen wolle. Zuerst einmal wäre es mir wichtiger etwas von diesem riesigen Land zu sehen, mich ein wenig mit ihm vertraut machen. „Und dazu eignet sich eine Hauptstadt nur selten. Besonders wenn sie noch so jung ist wie die Eure,“ versuchte ich meine Reiseroute verständlicher zu machen.

Ein wiederholt vorgetragener Gähner von Sascha wurde allgemein als Zapfenstreich aufgefaßt. Keine fünf Minuten vergingen und alle vier hatten wir uns auf einer der Pritschen ausgestreckt. Erleichtert blickte ich hinaus in die nächtliche Steppe: Ein Wodka-Gelage, das für viele junge Russen zu einer Zugreise gehört, wie anderswo das Popcorn zu einem Kinobesuch, war mir erspart geblieben. Pawel, Sascha und Dmitrij mußten am nächsten Morgen ebenfalls früh raus. Ich wickelte mich in die kratzbürstige Wolldecke und ließ mich von der schwer schuftenden Lokomotive weiter gen Osten ziehen, noch weiter hinein ins Herzen Eurasiens.

In den frühen Morgenstunden rollte der Zug im Bahnhof von Semej ein. Das rhythmische Stakkato hatte ich inzwischen richtig liebgewonnen, das die Räder seit Astana im Duett mit den Schienensträngen hämmerten. Die Abschied fiel schwer.

Orientalisches Tohuwabohu

Semej ist eine typisch sowjetische Stadt: angefangen von ihrem schachbrettartigen Straßennetz, über die zweckmäßige, wenig gefällige Architektur, bis hin zum Fehlen eines Zentrums zum gemütlichen Stadtbummel. Wer in Semej etwas einkaufen will, der geht auf den Basar. Dorthin schickte mich auch die morgenmuffige Kasachin an der Hotelrezeption. Irgendwo hinter dem riesigen Areal mit ineinander verschachtelten Buden und Verkaufsständen sollten die Busse zum Mittelpunkt Eurasiens abfahren. Zumindest meinte ich das aus der gelangweilten Handbewegung der Hotelangestellten herauslesen zu können. Also stürzte ich mich mitten hinein in das orientalische Tohuwabohu aus Turnschuhen und Tabakwaren, Waschpulver und Autoersatzteilen, sibirischen Pelzmützen, russischer oder kasachischer Literatur.

Der Basar ist ein großflächiges Provisorium. Sechs Tage die Woche strömen Tausende von Besuchern durch seine Gassen, sechs Tage die Woche dient er den gleichen Händlern als Verkaufsbasis und doch sitzen sie sechs Tage die Woche auf den gleichen wackeligen Stühlen und legen ihre Ware auf den gleichen hektisch aufgestellten Campingtischen aus. Das Dach über ihrem Kopf ist meist alles andere als fest – vor den gröbsten Regen- oder Schneefällen schützen windige Plastikplanen oder verrostete Metallplatten. Der Basar ist eine Institution in Semej und doch wirkt er wie ein Wandermarkt nomadischer Händler, die kurz davor sind, ihre Zelte abzubrechen und weiterzuziehen.

„Aus dem Weg! Aus dem Weg!“ scheuchte ein kräftiger Kasache mit einem alten Gepäckwagen die Menschen zur Seite. Ich gaudierte mich gerade über die Tangahöschen und Spitzen-BHs, die an einer Weggabelung auf flugs aufgespannten Wäscheleinen angeboten wurden. Dem allgemeinen Treiben schenkte ich nicht die nötige Beachtung. „Aus dem Weg!“ schrie der Kasache inzwischen genau hinter mir stehend. Aufgeschreckt tat ich einen Schritt zur Seite, und der Metzgerjunge in seinem braunschwarzen Strickpullover zog knurrend vorbei. Die Holzplanken seines Karrens waren mit einem blutigen halben Schwein beladen, das die Schlachtbank noch nicht allzu lange verlassen haben dürfte.

Zwischen Tangahöschen und Pferdefleisch

An Wänden und Decken hingen Perücken und Haarfärbemittel, Unterwäsche und bunte Kopftücher. Ich befand mich in der Damenabteilung des Basars. Reklametafeln warben mit großen Lettern für Mode „aus Europa“. Vor mir balancierte eine junge Schönheit mit graziöser Hochsteckfrisur und abenteuerlich hohen Stöckelschuhen über eine Holzpalette, die eine Wasserpfütze überbrückte. Ihre Parfümfahne zog sie nach sich wie einen zu groß geratenen Brautschleier. Rechter Hand lag das Tor zur Fleischabteilung, in dem gerade der Gepäckwagen mit der Schweinehälfte verschwunden war. Von der Selbstverständlichkeit konsterniert, mit welcher der Kasache das halbe Tier durch die dicht bevölkerten Gassen schob, entschloß ich mich einen Blick auf die Fleischertische des Basars zu werfen.

Die engen Gänge der großen Metzgerhalle flankierten Hammelkeulen und Schweineköpfe, Rindersteaks und Brathähnchen – und natürlich Pferdefleisch, eine kasachische Spezialität. Gerüche frischer Gewürze lockerten das schaurige Ambiente ein wenig auf. „Mein Junge, schau was ich hier für gute Koteletts habe“, pries mir eine ältere Dame ihre Auslage an. Ein flüchtiger Blickkontakt reichte ihr, um mich entschlossen lächelnd an ihre Fleischtheke zu locken. Aber ich mußte ja weiter.

Endspurt nach Eurasien

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"Sulu" - ein Busbahnhof für Kenner  

Ich befand mich noch 180 Kilometer vom geographischen Zentrum des eurasischen Kontinents entfernt. Nach der gewaltigen Distanz, die ich bis hierher zurückgelegt hatte, war ich geneigt zu sagen: nur noch 180 Kilometer. Doch der eigentlich abenteuerliche Teil meiner Reise fing hier erst an. Alle organisatorische Vorarbeit für meinen Flug nach Astana konnte ich per Telefon von meinem heimischen Sofa aus bewerkstelligen, auch die Zugfahrt nach Semej verlief problemlos. Jetzt aber stand ich in einer ostkasachischen Provinzstadt, die auf ausländischen Besuch alles andere als eingestellt war. Einen Stadtplan aufzutreiben, war schon in der Hauptstadt Astana gescheitert. Hier, in Semej, fing ich deshalb gleich damit an, mich durchzufragen.

Den richtigen Busbahnhof für meine Weiterreise zu finden, machte Probleme, genauer gesagt zwei Probleme. Den Namen des Bahnhofs sprach man an jeder Ecke des Basars anders aus und wo er sich befand, vermochte auch niemand genau zu sagen. Nur dank einer gehörigen Portion Durchhaltewillen kam ich ans Ziel. In puncto Kundenfreundlichkeit ist der Busbahnhof ein postsowjetisches Paradebeispiel. Wer genügend parkende Omibusse auf seinem Vorplatz vorfindet, kann von Glück sprechen. Denn nur dann ist der Busbahnhof als solcher zu erkennen. Der geschwungene Schriftzug „Sulu“ an seiner ockerfarbenen Fassade, das kasachische Wort für „schön“, läßt nur wirklich ortskundige Semejner an eine Bushaltestelle denken.

Der Rauch des Tshingis Khan

Am nächsten Morgen konnte ich zum Endspurt meiner Reise ansetzen. Der Bus war überpünktlich und bereits startklar, als ich am „Schönen Busbahnhof“ eintraf. Der Fahrer hatte sich gerade noch eine Zigarette angesteckt und die schwarz-goldene Schachtel wieder in die Tasche seiner Trainingsjacke gestopft. Schon früh morgens mutete er sich eine seiner starken „Tshingis Khan“-Zigaretten zu. Als er mich sah, zog er qualmend seine schwarzen Augenbrauen zusammen, als wolle er sich den Blick schärfen. Wie alle Kasachen wußte er bereits, als ich auf ihn zuging, daß ich Ausländer war. „Ich möchte zum Zentrum Eurasiens,“ sagte ich bewußt etwas überstürzt. Er grinste, wußte aber gleich wovon ich sprach. „Nach Shidebaj meinst Du? Dort, wo das Mausoleum für Abaj und...“ Er stockte, grübelte kurz und fuhr fort: „...und Schakarim steht?“ Ich nickte überrascht. „Ich kann Dich da in der Nähe rauslassen, mußt aber ein gutes Stück zu Fuß laufen. Oder vielleicht nimmt Dich ja ein Auto mit.“ Er schnippte seine Kippe in den Mülleimer und gab mir das Zeichen zum Aufsitzen.

Der Kleinbus war bereits fast voll besetzt. Ein letzter Platz war noch frei, ein Einzelsitz hinten in der Ecke. Als ich die Schiebetür ins Schloß warf und mir den Weg zum Heck des Wagens bahnte, fing eine Gruppe junger Mädchen an zu tuscheln. Verschämte Blicke in meine Richtung verliehen ihrem Schwatz neues Feuer. An derlei Reaktionen inzwischen gewohnt, lehnte ich mich in meinem Sitz zurück und freute mich auf eine neue Fahrt durch die zentralasiatische Steppe. Der Motor sprang an und es ging los.

Wir überquerten zunächst die gewaltige Hängebrücke über den aus dem Altaj-Gebirge heranfließenden Irtysch. Ein architektonisches Sahnestück von 750 Metern Länge, das sich nachts ein prächtiges Abendkleid aus tausenden kleinen Lämpchen überwirft. Schon nach wenigen Minuten Fahrt wandte unser Minitransporter den letzten Häusern Semejs den Auspuff zu, und wir hatten freie Sicht auf die endlose kasachische Steppe. Im Spätwinter ist ihre spärliche Grasnarbe in eine sanfte Schneedecke gehüllt. Hügelgrüppchen bekommen so das Aussehen von windverwehten Dünen, nur schlägt hinter ihnen nicht die Brandung eines Ozeans an Land. Vor der Düne ist hier gleich hinter der Düne – Steppe, Steppe, Steppe. Wie auf hoher See wird die Weite des Horizonts allein durch die eigene Sehkraft begrenzt und...

Pinke Lippen und Kamelmilch

Ein dumpfer Schlag riß mich aus meinen Gedanken – mein Kopf war seitlich gegen den Fensterrahmen geknallt. Schlaglöcher sind auf Kasachstans Straßen von solcher Größe und Häufigkeit, daß Autofahrten zu weitschweifigem Sinnieren ungeeignet sind. Ich machte mich deshalb daran, die übrigen Fahrgäste zu mustern. Da war zunächst ein Steppke, der vergnügt auf dem Schoß seiner Mutter hin- und herrutschte. Offenbar hatte er heute nur im Vorbeigehen gefrühstückt. Jedenfalls brachte er einen Bärenappetit mit. Er kaute beidhändig an einer „Sosika w teste“, dem russischen Pendant zum amerikanischen Hot Dog und zupfte von Zeit zu Zeit am Ärmel seiner Mutter. Auf dieses gut eingespielte Kommando wurde ihm eine durchsichtige Plastikflasche mit orangenfarbigem Deckel gereicht. Ich rätselte lange, was der Kleine hier süffelte. Bis ich auf der Flasche ein grinsendes Minikamel erkannte. Nach ein paar möglichst unauffälligen Kopfverrenkungen konnte ich auch das Etikett entziffern. „Schubat“ stand da geschrieben. Der Junge trank also Kamelmilch.

Die Gruppe junger Mädels hatte sich in der Zwischenzeit etwas beruhigt. Mir schräg gegenüber saß eine Kasachin mit langem, dicken schwarzen Haar. Ihre pinken Lippen schienen nicht mehr den richtigen Glanz zu haben, denn die junge Dame hantierte angestrengt mit Taschenspiegel und Lippenstift. Weder Schlaglochgerruckel noch männliche Blicke stahlen ihren schmalen Händen die Contenance. Die Aufmerksamkeit ihrer Freundinnen gebührte einem Mobiltelefon. Aufgeregt testeten sie Klingeltöne und bekicherten eingehende Kurznachrichten. Als sie bemerkten, daß ich sie beobachtete, machte sich pulsierende Verlegenheit in ihren Gesichtern breit.

Traditionen spielen im heutigen Kasachstan eine große Rolle. Für mich war die Fahrt durch die Steppe ein abenteuerlicher Ausflug, für die übrigen Businsassen hingegen war soeben eine Arbeitswoche zu Ende gegangen. Für einen kurzen Halt an der Gedenkstätte für Enlik und Kebek nahm man sich jedoch die Zeit, trotz Vorfreude aufs Wochenende. Das Liebesdrama von Enlik und Kebek steckt voller Shakespearescher Dramatik: Ihre innige Liebe treibt zwei Angehörige verfeindeter Stämme zur gemeinsamen Flucht, doch sie werden gefaßt und grausam ermordet. Die Geschichte ist heute ein Sinnbild für die jahrhundertelangen Fehden zwischen den verschiedenen kasachischen Stämmen. Diese Zwistigkeiten waren es, die von den russischen Zaren geschickt ausgenutzt wurden und schließlich den Anschluß des kasachischen Territoriums an das Russische Reich ermöglichten. „Leg eine Münze vor den Gedenkstein oder binde ein Stück Stoff an die Metallkette dort,“ drängte mich eine alte Dame. „Das soll Glück bringen!“ So taten es auch die anderen – der Steppke mit seiner Mutter, die quietschigen Teenies und auch der Fahrer. Sie alle stellten sich geduldig an und warteten bis ihr Vordermann sein Gedenkritual beendet hatte.

Das Schönste, was Kasachstan zu bieten hat, ist fraglos seine weitläufige und unbesiedelte Natur. Außerhalb der Städte und Dörfer ist man nicht nur der einzige Tourist weit und breit, sondern meist auch der einzige Mensch. An Tourismus denkt im viertgrößten Land Eurasiens so gut wie niemand. Wie ist es sonst zu erklären, daß zum Mittelpunkt des eurasischen Kontinents, wo sich in dem Weiler Shidebaj auch noch die Mausoleen von zwei der bedeutendsten Geistesgrößen des Landes befinden, kein Bus fährt? Für mich war nämlich an einer einsamen Kreuzung Endstation.

„Viel Erfolg! Und paß gut auf Dich auf!“, warnte mich der Fahrer beim Aussteigen. Sein sorgenvoller Blick rührte mich, wir hatten ja gerade mal ein paar Sätze miteinander gewechselt. Städter, und zweifellos gehörte der Mann am Steuer zu ihnen, haben in Kasachstan großen Respekt vor der Steppe. Für eine Tour durch die kasachischen Weiten bekommt man daher ähnliche Wünsche mit auf den Weg, wie in Deutschland bei einer Gebirgswanderung.

Allein in der Steppe

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In der Unendlichkeit der kasachischen Steppe.  

Jetzt war also ich es, dem der Kleinbus den Auspuff zeigte. Langsam, langsam verschwandt er in der Ferne. Ich war allein. Der Wind fegte fast unbemerkt über die sandige Ebene. Zur Kreuzung, auf der mich der Bus abgesetzt hatte, liefen vier Straßen zusammen. Ganz gleich, in welche der vier Himmelsrichtungen meine Augen wanderten: vor mir erstreckte sich kilometerweite Steppe. Menschenleere, baumlose, bretterebene Steppe.

Ein Schild am Straßenrand gab mein Marschprogramm der nächsten Stunden vor: „Shidebaj – elf Kilometer“. In Windeseile hatte ich mehrere tausend Kilometer zurückgelegt, seitdem ich in Hamburg in meinem Sessel versunken war und den Gurt zum Abflug festgezogen hatte. Jetzt, elf Kilometer vor dem Ziel, war ich gezwungen meine eigenen Füße zu gebrauchen. Noch vor hundert Jahren zogen wohl auf dieser Kreuzung Nomaden mit ihren Viehherden durch. Sie hatten wenigstens Pferde oder vielleicht ein Kamel, seufzte ich und marschierte los.

Strom- oder Telefonleitungen können sehr nützlich sein. In der maßlosen Weite der Steppe bieten ihre regelmäßig aufgestellten Holzpfosten eine willkommene Orientierungshilfe. Wer in der Steppe eine elf Kilometer lange Wegstrecke zurücklegen muß, hat sein Ziel vom ersten Schritt an vor Augen. Wie die flimmernden Umrisse einer Wüstenoase waren die spitz zulaufenden Türme der Grabanlagen für den kasachischen Nationaldichter Abaj und den Philosophen Schakarim zu erkennen. Bereits jetzt, von der Straßenkreuzung aus.

Was anfangs noch wie ein zeitraubender und völlig überflüssiger Gewaltmarsch schien, entpuppte sich als herrlicher Spaziergang. Endlich einmal den geheimnisvollen Atem der Steppe spüren, den Sand unter den Stiefeln knirschen hören und die grenzenlose Freiheit und Einsamkeit schmecken können, die man hier draußen erlebt. Bislang sah ich Kasachstans Weiten nur am Fenster meines Zugabteils oder der Heckscheibe des Kleinbusses vorbeiziehen. Im Vergleich zu meiner jetzigen Wanderung, war das wie seichtes Glotzen auf die heimische Fernsehmattscheibe.

Eine ferne Gebirgskette umgab die riesige Ebene aus sonnenverdörrtem Gras und Pfützen mit Schneewasser wie eine kreisrunde Wagenburg. Und ich stand in ihrer Mitte. Im Süden waren die Gipfel des Tschingistau-Gebirges zu erkennen. Hier hatten sich einst Enlik und Kebek versteckt und in lieblicher Zweisamkeit einen Sohn zur Welt gebracht. Bis ihre Stammesgenossen die junge Familienidylle zerschlugen, das Liebespaar von Pferden zu Tode schleifen ließen und ihren Sprößling in eine tiefe Schlucht des Tschingistaus hinabstießen.

Ein Graubart hilft weiter

Einen Kilometer vor der Siedlung Shidebaj, dem Zentrum Eurasiens, kam ich in ein kleines Dorf mit etwa einem Dutzend Häuser. Ich hatte Angst, daß ich in Shidebaj niemanden antreffen würde und entschloß mich daher um Rat zu fragen. Doch hier war Kasachstan viel kasachischer als in Astana oder Semej. Ich versuchte drei Kinder anzusprechen, die eine Art Schubkarrenrennen über den holprigen Steppenboden veranstalteten, erntete jedoch nur ratloses Schulterzucken. Die drei sprachen kein Russisch. Das Knurren und Bellen der streunenden Hunde ließ darauf schließen, daß auch sie nicht die passenden Ansprechpartner waren.

Durch den Zaun eines Hofes entdeckte ich schließlich einen alten Graubart. Er saß vor einem Schuppen auf einem Stuhl. Was er genau tat, war vom Zaun aus nicht zu erkennen. Er war anscheinend in Gedanken versunken und kraulte sich dabei durch seinen langen, grauen Bart. Erst nach einigen laut gerufenen „Hallos!?“ schaffte ich es schließlich, den Greis auf mich aufmerksam machen. Auf einen Stock gestützt lief er langsam auf mich zu. Mit seiner weiten, grauen Hose, seiner dicken Hornbrille und seinem Spitzbart hatte er etwas von einem trolligen Gartenzwerg. Leider verstand auch er mich nicht oder hatte Angst vor mir. Unangekündigter fremder Besuch dürfte hier draußen eine Seltenheit sein. Doch ich hatte Glück. Der Graubart vermittelte mich weiter an seinen Sohn, der gut Russisch sprach und außerdem noch der Leiter des Abaj-Museums von Shidebaj war.

Kaiyrshan Kusembaew ist Fremdenführer und Lokalpatriot aus Leidenschaft. Während wir den letzten Kilometer zum Mittelpunkt Eurasiens gemeinsam beschritten, erzählte er ohne einen äußeren Anlaß abzuwarten aus der Geschichte des Ortes. Er drehte sich ein Stück zurück und deutete auf die Gipfelkette des Tschingistaus. „Wissen Sie, woher diese Berge ihren Namen haben?“, fragte er und antwortete sogleich mit sichtlichem Stolz. „Hier hat Tshingis Khan einst Station gemacht. Im Jahr 1219, als er mit seinen Reiterheeren nach Westen zog.“

Im Zentrum des Kontinents: eine Pyramide

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Der Mittelpunkt Eurasiens – die Pyramide markiert das Zentrum des Kontinents.  

Vor dem einstigen Wohnhaus des Dichters Abaj war es soweit. Hier steht die bescheidene Pyramide, die den Mittelpunkt Eurasiens markiert. „Zentrum des eurasischen Kontinents“ steht in Stein gemeißelt auf ihren vier Seitenwänden - in drei großen eurasischen Verkehrssprachen (Russisch, Chinesisch, Englisch) und einer kleinen (Kasachisch). Haben die Wissenschaftler recht, und die Pyramide steht wirklich im geographischen Mittelpunkt Eurasiens, dann müßte man den Kontinent an dieser Stelle aus seinem Wasserbett – Atlantik, Pazifik, Nördliches Eismeer, Indischer Ozean – heben und gewissermaßen auf einer Nadelspitze balancieren können. Ein Gedankenexperiment für besondere Tüftler.

Seinen offiziellen Mittelpunkt hat Eurasien seit 1995. Der kasachische Präsident Nursultan Nasarbaew gedachte damals mit 20.000 Gästen dem 150jährigen Geburtstag des Dichters Abaj. Man feierte die Fertigstellung des Doppelmausoleums für Abaj und Schakarim und auch die kleine Granit-Pyramide erhielt damals ihren heutigen Platz. Doch kann es wirklich Zufall sein, daß sich das geographische Zentrum Eurasiens genau vor der Haustür des Gehöfts befindet, in dem einst der kasachische Nationaldichter Abaj seine Werke schuf? Eine Frage, die sich hier draußen in der Steppe nicht klären ließ. Daran aber, daß wir uns gerade im Herzen Eurasiens befanden, daran hegte Kusembaew keinen Zweifel. „Bis Tshingis Khan und seine Reiter das Gebirge erreichten, das heute den Namen Tschingistau trägt, nannte man es Zentralgebirge“, erzählte der Museumsleiter und rückte dabei seine weiße Fellmütze zurecht. „Die Menschen wußten offenbar schon damals um die zentrale Lage dieser Gegend auf dem eurasischen Kontinent.“

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Zum Ausklang der Reise. Der Autor (dritter v.l.) feiert mit
Freunden das
islamische Neujahrsfest "Naurys". Er trägt die traditionelle kasachische
Tracht der Männer: den wertvoll bestickten Schapan-Mantel und die
Kalpak-Mütze.
 

Die Abbenddämmerung war inzwischen nicht mehr zu ignorieren. Ich hatte meine Wanderung durch die Steppe ausgiebig genossen. Für den Besuch der Mausoleen von Abaj und Schakarim blieb daher keine Zeit mehr. Und wirklich traurig war ich darüber nicht, ich hatte alles erreicht, was ich wollte. Denn das, was die Reise zum Mittelpunkt Eurasiens ausmacht, ist die Reise selbst. Eurasien ist das Eldorado für Fernweh und Abenteuerlust. Hier läßt sich die Neugierde auf reiche, im Westen wenig beachtete Kulturen voll auskosten. Der Weg nach Eurasien ist das Ziel.

GUS Kaukasus Reise Zentralasien

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