09.08.2023 13:11:56
EM-INTERVIEW
Von Mohammed Khallouk
Prof. Dr. Udo Steinbach |
urasisches Magazin: Seit dem 11. September 2001 nimmt das Thema „Islamischer Fundamentalismus“ einen breiten Raum in unserer Medienlandschaft ein. Fast täglich finden sich Zeitungsberichte zu Selbstmordanschlägen mit vermeintlichem oder tatsächlichem islamistischem Hintergrund. Wird hier künstlich eine Gefahr heraufbeschworen oder gibt es diese Bedrohung real?
Udo Steinbach: Zunächst einmal sollte man sich klar machen, es gibt eine Bedrohung. Wir sprechen nicht von einer künstlichen Gefahr, sondern von einer tatsächlichen Bedrohung, die wir erleben und zwar sowohl in Europa als auch in der islamischen Welt. Wir haben diese Bedrohung in Europa erlebt, in Spanien 2004, in England 2005, auch hier in Deutschland – auch wenn sie noch nicht akut geworden ist –, und gleichermaßen in der islamischen Welt, von Marokko über Algerien, Palästina, den Irak – bis nach Indonesien. Dort gibt es beinahe tagtäglich Anschläge, gerichtet gegen unterschiedliche Ziele, die gerechtfertigt werden aus dem Islam heraus. Das ist die erste Feststellung, die wir machen müssen. Wir sprechen deshalb nicht von einer künstlichen Gefahr, sondern von einer realen Gefahr.
EM: Was sind die wahren Gründe für diese Gewalt?
Steinbach: Es gibt eine Auseinandersetzung, und zwar eine ideologische Auseinandersetzung, aber auch eine konkret politische, gewalthafte Auseinandersetzung zwischen unterschiedlichen Gesellschaftskonzepten. Auf der einen Seite haben wir das westliche demokratische Modell, hier in Europa vollständig implementiert. In der islamischen Welt gibt es vielfältige Ansätze, dies zu implementieren – nicht nachzuahmen, aber demokratische Prozesse zu installieren. Gegen diese Form einer vom Westen ausgehenden Moderne richtet sich das Konzept der Gewalttäter, die sagen, wir müssen zurück zu einer „Islamischen Ordnung“. Das Islamische Gesetz muss zu einhundert Prozent wiederhergestellt werden. Diese Ideologie ist von Khomeini in seiner Schrift über die al-Hokuma al-Islamiya bestätigt worden, aber auch die zahlreichen Schriften von Qutb heben das hervor, eine legitime Gesellschaft ist hier nur eine „islamische“. Also wir haben es mit unterschiedlichen Gesellschaftskonzepten zu tun. Zwei Strömungen richten sich gegeneinander, und diese Auseinandersetzung wird bisweilen militant ausgetragen.
EM: Trägt die aktuelle Politik der westlichen Regierungen zur Bekämpfung eines gegen die freiheitliche Ordnung gerichteten Islamismus dazu bei? Insbesondere die der USA, aber auch die Deutschlands. Wird dadurch eine Verstärkung der gegen das westliche Modell gerichteten Ressentiments in der islamischen Zivilgesellschaft erreicht?
Steinbach: Auch hier müssen wir differenzieren. Wir sollten das Entstehen jener Feinde gegen die freiheitliche Ordnung nicht ausschließlich der westlichen Politik anlasten. Diese Strömung, die sich im arabischen Raum verbinden lässt mit Sayyed Qutb, aber auch mit anderen prominenten Namen, wie Khomeini oder Maududi. Dies ist nicht allein zu erklären aus Fehlleistungen westlicher Politik, sondern richtet sich zuvorderst gegen die Unzulänglichkeiten, welche die eigenen Ordnungen im islamischen Raum an sich haben. Das ist die eine Seite.
EM: Sie sagen, die Gegnerschaft zum westlichen System ist damit nicht allein erklärbar – aber auch?
Steinbach: Ja, das ist die andere Seite. Die westliche Politik, die immer wieder dazu beigetragen hat, jenen Kräften Wind in die Segel zu blasen, die gegen den Westen antreten. Und in sofern ist die westliche Politik im Augenblick nicht geeignet, diesen Konflikt – einen Zivilisationskonflikt - beizulegen, sondern ihn zu verschärfen. Das erleben wir tagtäglich. Wir können fast statistisch ermessen, wie der Aufmarsch der Amerikaner seit 2002 gegen den Irak zu einer bis dahin nicht da gewesenen Eskalation von Gewalthaftigkeit geführt hat – und zwar im gesamten Raum zwischen Marokko und Indonesien. Die Palästinapolitik ist tagtäglich geeignet, den radikalen Kräften Legitimation zu verschaffen – ob es die Hamas ist oder wer immer. Was der Westen in seiner Politik versäumt, ist, dass er nicht den politischen Ausgleich sucht mit den Kräften in der islamischen Welt, die in der gleichen Weise wie der Westen selbst von der Aggressivität dieser islamistischen Kräfte betroffen ist. Wir bekämpfen die radikalen Kräfte ausschließlich mit Elementen der Sicherheit und des Militärs. Wir versäumen es einerseits, eine politische Lösung der Konflikte herbeizuführen. Zum Beispiel indem wir diejenigen Kräfte in der islamischen Welt – das ist die Mehrheit - als Alliierte zu gewinnen versuchen, die in der gleichen Weise wie wir von diesem Zivilisationskonflikt betroffen sind.
EM: Auf welche Weise ließe sich die Attraktivität von Demokratie und Pluralismus bei Muslimen erhöhen und welche Aufgaben sind damit für die Eliten Europas und der arabischen Länder verbunden?
Steinbach: Wir sollten viel stärker als wir das tun mit den Eliten in der islamischen Welt zusammenarbeiten, die tatsächlich ein Konzept von Pluralität, Pluralismus und Demokratie haben. Im gesamten Bereich unserer Mittelmeerpolitik, dem Barcelonaprozess, arbeiten wir stattdessen mit Regierungen zusammen, die Ansätze von Pluralität und Demokratie – wenn auch mit unterschiedlicher Intensität - ständig unterdrücken. Wir brauchen eine viel stärkere Kooperation der Zivilgesellschaften, das ist die eine Seite, und die andere Seite ist, dass die westliche Politik unübersehbar geprägt ist durch doppelte Standards. Wir verkünden die Demokratie, wir verkünden die Menschenrechte, wir verkünden das Prinzip der Gerechtigkeit, handeln aber, wenn es um die islamische Welt geht, insbesondere, wenn es um den Nahen und Mittleren Osten geht, in vielen Fällen ständig gegen unsere eigenen Prinzipien.
EM: Worauf beziehen Sie sich hier?
Steinbach: Das bezieht sich auf den palästinensisch- israelischen Konflikt, das bezieht sich, wenn es um Demokratie geht, auf die Hamas und den Wahlsieg der Hamas im Januar 2006, und es gibt noch andere Fälle, die wir benennen könnten – denken wir an Guantanamo. Wenn der Westen sich wirklich attraktiv machen will für die demokratisierenden Kräfte in der islamischen Welt, dann muss er seine Politik verändern in Richtung einer wirklichen Implementierung dessen, wovon er ständig redet. Er muss bereit sein, um auf die Mittelmeerpolitik und den Barcelonaprozess zu sprechen zu kommen, die Regierungen unter Druck zu setzen. Heute, wenn Regierende aus dem Nahen Osten oder Nordafrika nach Europa kommen - aus Ländern, in denen die Öffentlichkeit unterdrückt wird - erfahren sie keine Kritik mehr. Wir stellen ein Prinzip von Stabilität an die Spitze, dem wir alle unsere Werte unterordnen. Wir müssen dahin kommen, dass wir eine Politik machen, die glaubhaft ist und wo man erkennt, dass die Werte, die der Westen verkündet, auch seine Politik leiten.
EM: Welche Beziehung sollte die politische Öffentlichkeit in islamischen Staaten zur Religion erkennen lassen, um einerseits das Identitätsbewusstsein der Zivilgesellschaft zu erhalten und zu fördern und andererseits die Werte der europäischen Aufklärung im Alltag zur Geltung zu bringen?
Steinbach: Zunächst einmal müssen wir festhalten, dass die Religion, also ganz konkret die islamische Religion, für Muslime in der ganzen islamischen Welt einen großen Stellenwert hat. Dieser Stellenwert bedeutet, dass jeder, der versucht, die Religion aus dem öffentlichen Raum zu verdrängen, scheitern muss. Auf der anderen Seite muss in der islamischen Welt - wenn auch unter islamischem Vorzeichen - eine Debatte darüber geführt werden, welche Rolle die Religion konkret in der Öffentlichkeit, in der Gesellschaft, in der Politik spielen kann. Das heißt, es muss eine Säkularisierungsdebatte geführt werden. Das Wort „Säkularisierung“ ist weitestgehend unter muslimischen Intellektuellen, Theologen, Rechtsgelehrten noch immer ein Unwort. Man identifiziert „Säkularisierung“ mit La Dinya, also mit „keine Religion haben“. Dies ist eine falsche Grundeinstellung. Es geht nicht darum, die Religion vollständig aus dem öffentlichen Raum zu verdrängen wie es in Europa versucht wurde und zum großen Teil gelungen ist, sondern es geht darum, eine Verbindung von Religion und Gesellschaft zu finden, welche die Pluralität, die sich in islamischen Ländern durchaus entwickelt hat, nicht unterdrückt.
EM: Wie könnte denn eine solche Säkularisierungsdebatte aussehen?
Steinbach: Nötig ist eine Säkularisierungsdebatte, die sich an Europa anlehnt, ohne das Ergebnis Europas von vorne herein zu antizipieren. Diese Dimension, diese Säkularisierungsdebatte muss offen geführt werden und dagegen sträuben sich noch viele muslimische Aufklärer. Das zweite ist, dass diese ganze Frage der Modernisierung des Islams geführt werden muss und zwar viel radikaler geführt werden muss als jetzt üblich. Das wird mit unterschiedlicher Intensität getan. Es gibt Länder, in denen das sehr weit gediehen ist. Diese Frage der Modernisierung, der Anpassung des Islams an moderne Gesellschaftsstrukturen – denken wir an die Türkei, wo in den letzten Jahrzehnten sich Beachtliches entwickelt hat. Eigentümlicherweise gibt es das auch im Iran, wo Philosophen und Rechtsgelehrte darüber diskutieren, wie man Religion und Pluralität miteinander verbinden kann. Im arabischen Raum ist das bisher sehr unterschiedlich.
EM: Und wie wäre das zu ändern?
Steinbach: Die Frage lautet: Wie können wir die Religion erneuern, so dass sie mit der realen Pluralität, die islamische Gesellschaften aufweisen, kompatibel ist? Und diese Diskussion wird nicht nur nicht geführt, vielmehr sind auch die Regierenden, die führenden Machthaber, gar nicht daran interessiert, eine solche Diskussion zu führen. Denn sie würden bald Gefahr laufen, ihre Macht zu verlieren. Aber diese beiden Dinge scheinen mir ganz essentiell zu sein. Zum einen eine Säkularisierungsdiskussion zu führen - wenn auch mit islamischen Parametern - und zugleich die Bemühung zu intensivieren, die islamische Religion derart zu modernisieren, dass sie mit der Modernität von Gesellschaften im islamischen Raum kompatibel ist.
EM: Sehen Sie in der Zurückdrängung der christlichen Kirche aus der öffentlichen Sphäre, wie sie in Europa seit der Französischen Revolution von Nation zu Nation in unterschiedlichem Maße stattgefunden hat, ein Vorbild oder eher ein Abschreckungsbeispiel für die islamisch verfassten Staaten?
Steinbach: Hier muss man zunächst einmal sagen, dass es nicht um die Diskussion der Zurückdrängung der Kirche geht. In Europa ging es in der Tat darum. Die Kirche war Jahrhunderte lang sehr machtvoll. Seit der Französischen Revolution ist die Kirche entmachtet worden. Diese Frage stellt sich so für die Islamische Welt nicht, denn es gibt in der islamischen Welt keine Kirche, die man zurückdrängen könnte. Das ist übrigens häufig ein Argument, weswegen viele muslimische Intellektuelle sich weigern, über „Säkularisierung“ zu sprechen. Sie sagen, Säkularisierung bedeutet „Zurückdrängung der Kirche“, das ist ein europäisches, ein westliches Phänomen. Wir haben im Islam keine Kirche, also brauchen wir keine Säkularisierungsdebatte zu führen.
EM: Was heißt das nun für die notwendige Debatte?
Steinbach: Das Verhältnis von Religion und Gesellschaft, das in Europa in den letzten zweihundert Jahren in radikaler Weise neu definiert worden ist, muss im islamischen Kontext ebenfalls neu definiert werden. Das heißt nicht, Europa nachzuahmen, das heißt, eine essentielle Debatte zu führen über die Frage, in welcher Weise die Religion die Politik bestimmt, bzw. sich Religion auf den politischen und gesellschaftlichen Raum bezieht. Wir erleben in der islamischen Welt ganz unterschiedliche Dinge: Die Türkei ist dabei Europa relativ nahe gekommen. Durch eine theologische Debatte in den letzten zwei Jahrzehnten im Iran und in Saudi-Arabien, wenn auch auf ganz unterschiedliche Weise, bestimmt die Religion die politische Agenda, mit den Ergebnissen, die wir kennen. Es gibt keinen Pluralismus, bzw. da, wo der Pluralismus existiert, (Iran z.B.) wird er im Namen der Religion unterdrückt. Die Frage des Verhältnisses von Politik und Religion muss neu gestellt werden, muss radikal gestellt werden und dort, wo sie in der Vergangenheit gestellt worden ist und implementiert worden ist, – nämlich im Iran - stellen wir fest, dass ein Zusammengehen von Religion und Politik die Probleme der Gesellschaft, politischer, gesellschaftlicher, kultureller und intellektueller Art nicht gelöst hat.
EM: Sehen Sie es nicht als problematisch an, wenn westliche Eliten in ihren Debatten eine Religion, in unserem Fall den Islam mit Islamismus, einer bestimmten Auslegung von Religion, verwechseln?
Steinbach: Der Islamismus ist eine Auslegung der Religion, das ist völlig klar. Die Auslegung der islamischen Religion von Seiten einer Minderheit. Vergessen wir dieses Problem mal ganz einfach. Es stellt sich in der Gegenwart, aber die Frage nach dem Islam ist nicht ipso fakto eine Frage nach dem Islamismus, sondern des Islams selber. Nehmen wir mal weithin in der islamischen Welt an, ob wir nach Marokko, Algerien, Tunesien oder Ägypten gucken oder auch in andere Länder: Der Islam muss in seinem Verhältnis zu Gesellschaft sich neu definieren. Es kann nicht sein, dass im Namen des Islams, des islamischen Gesetzes, der Scharia, Pluralität unterdrückt wird und Menschenrechte nicht implementiert werden. Es geht hier nicht gegen den Islam, es geht darum, dass islamische Gesellschaften sich in einer Weise entwickelt haben, die nicht mehr der Natur des Islams entspricht. Der Islam, das islamische Gesetz, wird instrumentalisiert durch die Fuqaha und vor allem auch durch die Regierenden. Dies wird zu einer Bremse der islamischen Gesellschaften beim Weg in eine Moderne, nicht in eine Moderne, die Telquelle von den Muslimen nachgeahmt wird, aber eine Moderne, in der aus der eigenen Identität, aus dem eigenen Erbe und aus der eigenen Religion heraus Moderne neu gedacht wird und damit umfassend in der islamischen Welt auf der Basis des islamischen Erbes implementiert werden kann.
EM: Wie beurteilen Sie die Einflussnahme der Medien in Europa, aber auch in Nordafrika und im Nahen Osten im Hinblick auf restaurative versus progressive Tendenzen in Politik und Staatsverständnis?
Steinbach: Wenn wir in Europa etwas Positives haben in unseren pluralistischen Demokratien, dann sind das die Medien - mit den Schattenseiten, die wir alle kennen, aber auch mit der großen Chance, dass jedes Individuum, jede Gruppe sich im Rahmen einer freiheitlichen Verfassung ausdrücken kann. Diese Art von breitem Spektrum, von Partizipation der Medien in der Politik, in der täglichen Gestaltung der Gesellschaft, findet in der islamischen Welt nur ausnahmsweise statt, vielleicht in der Türkei, vielleicht ein wenig im Libanon, - aber der Libanon ist ja wieder eigentümlich. Die Medien in der islamischen Welt sind ohne Zweifel freier geworden, hier sind Fortschritte erreicht worden. Denken wir an al Dschasira, aber auch die schreibende Presse in Marokko, in Algerien usw., die sind freier geworden, aber sie spielen noch nicht die Rolle bei der tagtäglichen Gestaltung von Demokratie und Pluralität, die die Medien in Europa spielen. Die großen Zeitungen - ascharq al-awsat, al-hayat - dahinter stecken noch immer politische Kräfte, sie sind zum Teil gekauft, um ein Feigenblatt darzustellen für die Politik bestimmter Regime. So lange die Medien nicht in einer Weise frei werden wie sie das in Europa sind – noch einmal mit dem Nachteil, aber eben auch dem Vorteil - so lange haben die Gesellschaften in der islamischen Welt ein Problem, sich in ihrer Weise zu entfalten, wie sie sich entfalten sollten, wie sich auch von selbst, aus den demokratisierenden Kräften heraus entfalten wollen.
EM: Herr Prof. Steinbach, haben Sie herzlichen Dank für dieses Gespräch.
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