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INDIEN
Von Wilfried Arz | 11.01.2019
Indiens Parlamentswahlen 2014 hatten Narendra Modi als Sieger in das Amt des Regierungschefs katapultiert. Mit 31 Prozent der Stimmen holte seine hindu-nationalistische BJP-Partei die absolute Mehrheit (52 Prozent): 282 von 545 Parlamentssitzen im Unterhaus. Die Diskrepanz zwischen Wählerstimmen und Mandaten verdankte Modi dem Mehrheitswahlrecht, das Indien nach der politischen Unabhängigkeit 1947 von der britischen Kolonialmacht übernommen hatte. Der Wählerwille spiegelte sich 2014 deshalb nicht in der Sitzverteilung im Unterhaus wieder. Hätte Indien das Verhältniswahlrecht in seiner Verfassung verankert, wäre Narendra Modi womöglich nicht Regierungschef geworden.
Indiens Medien hatten Modis Wahlkampf 2014 mit Aufbruchstimmung und neuen Zukunftsvisionen assoziiert, Indiens Mittelklasse setzte große Hoffnungen auf Modis wirtschaftsfreundliche Agenda. Hinter Modis Wahlsieg steckte offenbar mehr: landesweite Datenanalysen und die konsequente Nutzung sozialer Medien. Diese Strategie war zuvor in den USA in Wahlkampfstrategien von Obama (2008, 2012) erfolgreich erprobt worden. Soziale Medien (Facebook, Twitter) spielten auch bei der Mobilisierung politischer Proteste in Nordafrika (Arabischer Frühling 2011) eine zentrale Rolle und beschleunigten einen Regimewechsel durch den Sturz autokratischer Diktatoren: von Ben Ali in Tunesien und Hosni Mubarak in Ägypten.
Datensammelei nutzen nicht nur Wirtschaftsunternehmen zur Optimierung von Absatzstrategien ihrer Produkte. Datenerfassung offenbart völlig neue Perspektiven auch in der Politik. Big Data erstellt Detailprofile, soziale Netzwerke bieten ein digitales Medium zur Verbreitung politischer Botschaften - nicht nur in turbulenten Zeiten von Wahlkämpfen. Von politischer Beeinflussung ist es dann nur noch ein kleiner Schritt zur politischen Kontrolle. In diesem Kontext sehen kritische Beobachter die biometrische Erfassung der indischen Bevölkerung.
Seit 2011 werden Fingerabdrücke und Augen der Milliardenbevölkerung gescannt und digital gespeichert. Hunderte Millionen Inder und Inderinnen bleiben bis heute ohne Zugang zu sauberen Trinkwasser und Toiletten, ausreichender Nahrung und Einkommen - besitzen nun aber eine (lebenslang gültige) persönliche 12-stellige Nummer, die den Besitzern als elektronische Stimmkarte dient, als Steuerzahler und Kontoinhaber identifiziert und für die Nutzung weiterer Dienstleistungen vorgelegt werden muss.
Vordergründig dient die digitale Erfassung der indischen Bevölkerung einer Effizienzsteigerung der Staatsbürokratie, u.a. zur Kontrolle sozialer Ausgaben. Indiens Regierung subventioniert mit fast 24 Milliarden US-Dollar (2018) Grundnahrungsmittel für Arme. Transferempfänger sind fast zwei Drittel der 1,3 Milliarden Bevölkerung. Seit Einführung neuer Kennkarten sollen 30 Millionen Fälschungen oder Duplikate bisher gültiger Ausweise aussortiert worden sein, eine Ersparnis von immerhin 2,35 Milliarden US-Dollar - behauptet die Regierung. Doch bei der biometrischen Erfassung geht es um mehr.
Jede Nutzung einer digitalen Kennkarte hinterlässt Datenspuren. Hier wird es interessant. Eine Verknüpfung und algorithmische Auswertung schafft Personen-profile und lässt sich auch für politische Zwecke nutzen. Über 850 Millionen Wahlberechtigte sollen 2019 in Indien eine neue Regierung wählen. Wird Big Data im kommenden Jahr im Wahlkampf eine Rolle spielen? Wirtschaftskreise wünschen eine Wiederwahl von Narendra Modi. Jenseits digitaler Errungenschaften offenbart Indien eine komplexe Situation regionalpolitischer Interessen und Stimmungslagen. Wahlsiege in drei Bundesstaaten haben nun in der Opposition unter Führung der Congress-Partei neuen Auftrieb und Hoffnungen auf einen Machtwechsel ausgelöst.
Indiens regierende BJP-Partei von Narendra Modi regiert aktuell in fast zwei Drittel von 29 Bundesstaaten, in denen zusammen rund 70 % der indischen Bevölkerung lebt. Indiens Congress-Partei, jahrzehntelang mit nur kurzen Unterbrechungen in Delhi an der Regierung, musste 2014 unter Rahul Gandhi (Enkel von Indira Gandhi) mit nur 19,3 Prozent der Wählerstimmen (44 Abgeordnete im Unterhaus) eine desaströse Wahlniederlage einstecken.
Bestimmt wird Indiens politische Landschaft durch zwei große, landesweit präsente Parteien (BJP, Congress) und viele kleine Regionalparteien. Letztere sind auf nationaler Ebene unbedeutend, als Koalitionspartner für Regierungsbildungen in Delhi jedoch unverzichtbar. Eine Allianz mit Regionalparteien soll der Congress-Partei mit Rahul Gandhi 2019 wieder zur politischen Macht verhelfen.
Wahlsiege in drei indischen Bundesstaaten (Chattisgrah, Madhya Pradesh, Rajasthan) haben dort für eine Verschiebung politischer Machtverhältnisse gesorgt und in der Congress-Partei mit Blick auf Indiens Parlamentswahlen im Mai 2019 optimistische Stimmung ausgelöst. In den drei nordindischen Bundesstaaten leben 14 Prozent der indischen Bevölkerung, die 12 Prozent der insgesamt 545 Parlamentssitze in Delhi bestimmen. Eine brisantes Ergebnis für die in Delhi regierende BJP-Partei von Narendra Modi. Deren Wählerschaft konzentriert sich genau dort, im dichtbevölkerten Nordindien. Drei Viertel ihrer Abgeordnetensitze im Unterhaus verdankt die BJP Stimmen aus nur acht Bundessstaaten (davon drei, die fortan von der oppositionellen Congress-Partei regiert werden).
Die regionalen Wahlergebnisse in Chattisgarh, Madya Pradesh und Rajasthan reflektieren verbreitete Unzufriedenheit ländlicher Bevölkerungssegmente mit der aktuellen Wirtschaftslage, die durch Preissteigerungen, stagnierende Einkommen und Verschuldung der Haushalte bestimmt wird. In den Bundesstaaten Andra Pradesh, Tamil Nadu und Uttar Pradesh gehen politische Eliten inzwischen auf Distanz zur BJP von Narendra Modi und ziehen für die anstehenden Wahlen ihre Teilnahme an einer Congress-geführten Oppositionsallianz ins Kalkül. Indiens Wahlen werden im Mai 2019 damit wieder durch Nord-Süd-Gegensätze geprägt.
Im subkontinentalen Indien verteilen sich Bevölkerung und Wählerschaft recht unterschiedlich. Zwei Drittel konzentrieren sich im Norden, ein Drittel im Süden. Auch wirtschaftlich bestimmt Indien augenscheinlich ein Nord-Süd-Gefälle. Wachstum wird besonders im dynamischen Südindien (Maharashtra, Karnataka, Tamil Nadu, Andhra Pradesh, Telangana) generiert. Indiens Norden (Rajasthan, Uttar Pradesh, Bihar, Jharkhand) bleibt tendenziell wirtschaftliches Schlusslicht. Wirtschaftsleistung bedeutet in Indien aber auch höhere bundesstaatliche Steuerabgaben an die Zentralregierung in Delhi. Vereinfacht ausgedrückt subventioniert somit das wohlhabendere Südindien den ärmeren Norden.
Ein Nord-Süd-Gefälle auch im Bevölkerungswachstum: dem gebärfreudigen Nordindien steht Südindien mit deutlich weniger Nachwuchs gegenüber. In Nordindien rekrutiert die BJP ihre Wählerstimmen. Südindien fürchtet durch das demografische Schwergewicht Nordindien politisch ins Hintertreffen zu geraten.
Politisch vertreten Narendra Modi und seine BJP eine hindu-nationalistische Agenda, die religiöse Argumente instrumentalisiert, um Interessen der hinduistischen Bevölkerungsmehrheit durchzusetzen. Minderheiten (Muslime, Christen und unterprivilegierte Minderheiten der Dalits und Adivasi) werden ausgegrenzt und offen diskriminiert.
Sprachlich-kulturell trennen Norden und Süden ebenfalls Gegensätze: dem Hindi-sprechenden Hinterland Nordindiens steht eine nicht-Hindi-sprechende maritime Peripherie des Subkontinents gegenüber. Nordindien wählte 2014 die BJP, Küstenstaaten eigene Regionalparteien. Hier könnte sich die politische Zukunft von Narendra Modi und seiner hindu-nationalistischen BJP-Partei entscheiden.
Sollte es der Congress-Partei gelingen, kleine Regionalparteien zu einer landesweiten politischen Allianz zusammenzuschmieden und 2019 gemeinsam in den Wahlkampf zu ziehen, könnte Indiens neuer Regierungschef vielleicht Rahul Gandhi heißen. Indien erwartet die kommenden Parlamentswahlen mit Spannung.
Wilfried Arz ist Politikwissenschaftler in Bangkok/Thailand
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