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GELESEN
Von Johann von Arnsberg
„Wohin geht die türkische Gesellschaft?“ von Rainer Hermann |
n seinem Vorwort verspricht Rainer Hermann, dass das Buch den gesellschaftlichen Wandel schildert und der Frage nachgeht, wie dieser Wandel die Politik, die Wirtschaft und die Kultur verändert. Dies ist ihm gelungen.
Er kann seinem Publikum einleuchtend erklären, weshalb die so genannte Republikanische Volkspartei CHP weder volksnah noch überhaupt demokratisch ist. Sie sei schlicht eine nationalistische Partei und stehe dem Beitritt zur EU ablehnend gegenüber. Sie vertrete die Interessen einer immer kleiner werdenden, staatsnahen Elite in den großen Städten, der „weißen“ Elite. Inzwischen habe sich aber eine neue, eine „schwarze“ Elite in Anatolien gebildet. Sie verlange nach Demokratie und wolle sich nicht länger vom Staat und der alten Elite bevormunden lassen. Diese Bewegung werde vor allem durch die regierende Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei AKP des Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdoğan vertreten.
Dem Vorwurf, die AKP wolle in Wahrheit die Türkei islamisieren, widerspricht der Autor vehement. Dies werde lediglich von der weißen Elite der Türkei propagiert, um überhaupt noch Wählerstimmen für die CHP mobilisieren zu können.
Weil die Antike ein „Baustein Europas“ ist, gehört nach Auffassung von Rainer Hermann Kleinasien einfach dazu. „Die Antike fand um das Mittelmeer statt, auch im Westen und im Süden der Türkei. Herodot hat in Halikarnassos Geschichte geschrieben, Thales lehrte in Milet, Alexander der Große wollte seine Hauptstadt nach Troja verlegen. Ionien und Aeolien, Pergamon und Ephesus, Paulus und Tarsus und Nikolaus aus Myra, die ökumenischen Konzile der frühen Christen: Ohne Kleinasien wäre die abendländische Kultur ärmer.“
Der Autor könnte auch die Waffenbrüderschaft zum Beispiel mit Deutschland aufzählen – oder die NATO-Zugehörigkeit, die es länger besitzt als Deutschland. Was aber wohl inzwischen mehr wiegt als das Militärische, ist das Ideologische. Stehen nicht Kulturkämpfe mit dem Islam an? Und welche Rolle kann die Türkei dabei spielen?
Rainer Hermann, der Erdogan einen „Realo aus dem Hafenviertel“ nennt, weist auf einen interessanten Aspekt hin, der für Europa und für ganz Eurasien von großer Wichtigkeit werden dürfte: „Seit dem Aufstieg von Tayip Erdogan interessieren sich die Araber plötzlich für das, was in der Türkei geschieht.“
Dennoch, da gibt sich der Autor sicher, „einen Platz in der EU wird die Türkei nur dann finden, wenn sie mit sich selbst im Reinen ist.“ Dann aber müsste sie aufgenommen werden. Denn: „Eine Türkei, die sich nicht länger selbst blockiert, wäre für die EU eine Bereicherung.“ Und er fügt hinzu, was er ausführlich schildert: „Wie es bei der Wirtschaft bereits der Fall ist.“
Und möglich sei es auch. Denn: „Die EU ist kein Staat. Das ermöglicht eine Aufnahme der Türkei. Staaten sind irgendwann am Ende ihrer Entwicklung. Die EU ändert sich aber rasch. Eine finalité européenne gibt es nicht. Die wirtschaftliche Integration – der Binnenmarkt und der Euro – verändert das Projekt Europa von innen.[...] In jedem Jahrzehnt und bei jeder Erweiterungsrunde hat sich die europäische Integration neu erfunden.“
Erfreulich ist das wirklich ausführliche Personen- und Sachregister. Dadurch wird das Buch noch auf längere Zeit als profundes Nachschlagewerk nutzbar.
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Rezension zu: „Wohin geht die türkische Gesellschaft?“ von Rainer Hermann, dtv, München 2008, 315 Seiten, 2 Orientierungskarten, 14,90 Euro, ISBN: 978-3423246828.
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