10 000 Jahre - Geburt und Geschichte Eurasiens von Barry CunliffeGELESEN

„10 000 Jahre - Geburt und Geschichte Eurasiens“ von Barry Cunliffe

10 000 Jahre - Geburt und Geschichte Eurasiens von Barry Cunliffe

Die Entwicklung der größten Landmasse dieser Erde in einem Zeitraum von 10.000 Jahren darzustellen, sprengt alle Dimensionen. Das heißt: eine solche Abhandlung muss sich zwangsläufig beschränken. Und genau das hat Barry Cunliffe auf den 600 Seiten seines Buches getan. Sein Schwerpunkt ist das Eurasien der Steppe, des Ostens und damit des übergewichtigen Hauptteils des Großkontinents. Für europäische Leser ist es der fernere, der unbekanntere Teil. Die Steppenreiter der Awaren, Mongolen, Skythen und Hunnen, auch Inder und Sassaniden nehmen entsprechend viel mehr Raum ein als die vertrauteren Kelten, Römer, Germanen, Franken, Wikinger und Iberer. Damit hebt Cunliffe auch eindringlich ins Bewusstsein, dass dieses Eurasien seiner Entdeckung durch uns Europäer erst noch harrt.

Von Hans Wagner | 14.12.2017

Die Geburt Eurasiens ist einem Unfall tektonischer Patten, sozusagen einem Kollateralschaden der Erdentwicklung zu verdanken. Was daraus hervorging ist das gebirgige Rückgrat des Großkontinents, das sich von den Pyrenäen bis zum Himalaya erstreckt. Daran aufgehängt ein regelrechtes Gebirgsskelett mit Pamir und Karakorum, Altai, Hindukusch und Kaukasus, Balkangebirge, Karpaten und Alpen. Ummantelt und aufgefüllt wird die Gestalt Eurasiens durch Ozeane, Flusstäler, Tiefebenen, Wüsten und den Steppenkorridor. Letzterer bietet eine durchgehende Route fast über die gesamte Länge Eurasiens. „Beginnend in der Großen Ungarischen Tiefebene, dehnt sich die Steppe ohne eine Unterbrechung über eine Strecke von rund 9.000 Kilometern bis zur Mandschurei aus“, so Cunliffe.

Er hätte zur Gestalt Eurasiens noch beitragen können, dass sich vom spanischen Andalusien bis zum Ural eine zehntausend Kilometer lange, nirgendwo unterbrochene  Wasserscheide erstreckt, die mit weiteren Faltungen sogar bis hinab an den Pazifik reicht. Dadurch werden die Flüsse der einen Hälfte des Erdteils ins Mittelmeer, ins Schwarze Meer und ins Kaspische Meer gelenkt, während die andere Hälfte der Gewässer nach Westen in den Atlantischen Ozean, in Nord- und Ostsee, sowie ins nördliche Eismeer fließt.

Dass ausgerechnet ein Archäologe von den britischen Inseln die Geburt Eurasiens, seine Gestalt und 10.000 Jahre seiner Geschichte darstellt, entbehrt nicht einer gewissen Pikanterie. Schließlich gehört der 2006 in London zum Ritter geschlagene Autor jenem Volk an, das es nicht einmal in der Europäischen Union aushält, sondern durch den Brexit wieder zurück in die meerumtosten Grenzen des britannischen Archipels strebt. Andererseits sieht Cunliffe die eurasische Landmasse eben beim Blick nach Osten ohne jeglichen toten Winkel in ihrer Gänze vor sich. Und schließlich hat sich britischen Autoren in über 200 Jahren Empire ja nicht nur die neue Welt Amerika, sondern auch die Innenansicht Eurasiens über weite Strecken erschlossen.

Die Domestikation von Eurasien

Auf vielen Seiten geht Cunliffe auf die in 10.000 Jahren nicht seltenen Klimaveränderungen ein. Er tut das, indem er das Veränderungspotential beschreibt, das durch solche klimatischen Einschnitte entsteht, und indem er die Auswirkungen zeigt. Weitgehend emotionslos lässt er einfach die Fakten sprechen. Er schildert sie neben den sich verändernden Bedingungen der Nahrungsmittelversorgung der Menschen und Völker Eurasiens als treibende Kraft für das Schicksal des Kontinents. So erläutert er im Kapitel „Die Domestikation von Eurasien“ den Weg des Eurasiers vom Jäger und Sammler hin zu den Anfängen einer Landwirtschaft am Ende der letzten Eiszeit. In diesem Zusammenhang beschreibt er die großen Abwanderungsbewegungen von Bevölkerungsgruppen aus der Levante und Kleinasien, beginnend in der Mitte des 9. Jahrtausends v. Chr. Dieser Auszug aus Südwestasien führte nach Cunliffe zur Besiedelung des Niltals, brachte Menschen in das Indusgebiet. Auch die Eroberung der europäischen Halbinsel war eine Folge dieser Wanderungen und ebenso die Besiedelung der  Steppengebiete um das Schwarze und das Kaspische Meer. Auch das Schicksal der Wüstenstädte im westlichen Zentralasien, wie beispielsweise das der bedeutenden bronzezeitlichen Siedlung Gonur Depe in Südturkmenistan, wird in einem solchen Zusammenhang mit Klimawandel und Veränderung der Nahrungsbeschaffung beschrieben. Eine sich verstärkende Klimaerwärmung war mitverantwortlich für die Entwicklung der Tagar Kultur und der Großkurgane bei Salbyk in Chakassien.

Kriege und Hungersnöte, Völkerwanderungen und Kulturen wurden durch klimatische Wandlungen in so manchen Gebieten Eurasiens hervorgerufen. Wie Cunliffe verdeutlichen kann, ist auch durch diese Klimaänderungen und Klimaschwankungen der Kontinent Eurasien im Verlaufe der Jahrtausende erst zu dem geworden, was er heute ist.

Der Sieg der Steppe

Das Buch ist in zwölf Kapitel aufgeteilt, die folgende Überschriften tragen:
1. Das Land und die Menschen
2. Die Domestikation von Eurasien, 10.000 bis 5.000 v. Chr.
3. Pferde und Kupfer: die Schlüsselrolle der Steppe, 5.000 – 2500 v. Chr.
4. Die Öffnung der Eurasischen Steppe, 2.500 – 1.600 v. Chr.
5. Nomaden und Imperien: Die ersten Konfrontationen, 1.600 – 600 v. Chr.
6. Voneinander lernen: Interaktionen entlang der Schnittstelle, 600-250 v. Chr.
7. Der Kontinent rückt näher zusammen, 250 v. Chr. – 250 n. Chr.
8. Das Zeitalter ewiger Kriege, 250 – 650 n.Chr.
9. Der Beginn einer neuen Weltordnung, 650 – 840 n. Chr.
10. Zerfallende Imperien, 840 -1.150 n. Chr.
11. Die siegreiche Steppe, 1.150-1.300 n. Chr.
12. Ein Blick zurück und ein Blick nach vorn

Das Kapitel „Die siegreiche Steppe“ ist keinem geringeren als dem Mongolenkaiser Dschingis Khan und den wie ein Sturmwind über den Kontinent hinwegfegenden  Steppenreitern gewidmet. Der Aufstieg der Mongolen in Ostasien, die Eroberung Zentralasiens und des Westens bis nach Schlesien gehören auch im Westen, in Europa zu den bekannteren Kapiteln eurasischer Geschichte. Das Abendland war schockiert aber auch fasziniert von der urplötzlich auftauchenden Macht der mongolischen Steppenreiter. Gut vier Jahrzehnte nach der Wahl des Großkhans und der Unterwerfung riesiger Landstriche erreichte eine päpstliche Abordnung die mongolische Hauptstadt Karakorum. Ein Poker um Macht und Einfluss auf Erden begann, bei dem man noch heute geneigt ist, den Atem anzuhalten. Es ist damals nichts geworden mit einem Ausgleich zwischen West und Ost, mit einem auch politischen Großeurasien, denn sowohl Dschingis Khan als auch die Mächtigen im Westen konnten sich eine eurasische Ordnung nur unter ihrer jeweiligen Herrschaft vorstellen. Cunliffe ist auf dieses winzige Zeitfenster in der eurasischen Geschichte auch nicht weiter eingegangen.

Er schildert lebendig und faktenreich die Entwicklung der europäischen, vorderasiatischen und chinesischen Zivilisationen und deren wachsende Verbindungen über den Indischen Ozean, die Seidenstraße und durch die eurasische Steppe. Es ist die ungeheuer spannende Geschichte, wie sich Eurasien und die Menschen entwickelten, wie Reiche entstanden und zerfielen. Es  entsteht vor den Augen des Lesers ein großes Panorama der Wurzeln des Großkontinents Eurasien, die natürlich auch die europäischen Wurzeln sind. Das wird oft verdrängt, weil die Zerrissenheit Eurasiens einen anderen Eindruck entstehen lässt und man in Europa glaubt, gar nicht dazuzugehören.

Die Wiege der Zivilisation

Es gibt wenige zivilisatorische Entwicklungen auf diesem Globus, die nicht von jenem Eurasien ausgegangen sind, das Cunliffe in seinem Buch über die Geschichte des Großkontinents von den frühen Jägern, den späteren Viehzüchtern bis ins Hochmittelalter lebendig werden lässt. Der britische Autor beschreibt in diesem Sinne nichts weniger als die Wiege der Zivilisation.

Viele Karten, ein sehr ausführliches Schlagwortregister über 24 Seiten mit Fundstellen von „Abbasiden-Kalifat“ über „Heidelbeer, wild, Samen“, bis hin zur „Yuan-Dynastie „ und von „Dschingis Khan“ über „Seidenstraße“ bis „Kaiser Trajan“.

Ein gediegenes Werk zum Lesen und Nachschlagen, das einem diesen großen Kontinent, der von Wladiwostok im Osten bis zur portugiesischen Estremadura im Westen reicht, in vielen neuen Facetten erschließt. Ein Buch über unsere größere Heimat, das man nur empfehlen kann.

*

Rezension zu „10 000 Jahre – Geburt und Geschichte Eurasiens“ von Barry Cunliffe, Verlag:, Konrad Theiss 2017, 608  Seiten, 49,95 Euro, ISBN-13: 978-3806233766

 

Lesen Sie dazu auch DSCHINGIS KHAN - das eurasische Großreich der Mongolen und seine Faszination

Rezension Eurasien Völker Geschichte

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