Verheizt und manipuliert„SCHWARZE WITWEN“

Verheizt und manipuliert

Wenn Frauen am Widerstandskampf teilnehmen, dann meist mit einer Aufgabe: sterben

Von Andrea Jeska

In Moskau gibt es Menschen, die singen dem tosenden Verkehr Opernarien. Andere drehen sich im Kreise, stundenlang. Als an einem Tag im Juli 2003 eine junge Frau vor einem Café auf der Moskauer Tverskaya Yamaskaya Ulitsa stand und Grimassen schnitt, mögen Passanten sie für eine weitere Verrückte gehalten haben.

„Was soll das?“, fragte schließlich einer der Sicherheitsleute, die das Café bewachten, und packte die junge Frau am Arm. „Ich trage einen Sprengstoffgürtel. Ich habe den Auftrag, dieses Gebäude in die Luft zu jagen“, sagte die Frau. Und dann noch: sie könne den Auftrag nicht ausführen. Aber sie befürchte, jene Männer, die sie nach Moskau gebracht hatten, würden sie beobachten und die Explosion ferngesteuert auslösen. Sie bitte darum, verhaftet zu werden.

„Jetzt hasse ich Euch.“

Die Attentäterin, die keine sein konnte, weil sie vor dem Café stehend plötzlich im Tod der jungen Leute hinter der Glasscheibe keinen Sinn mehr sah, hat den Tag, an dem sie sich stellte, seitdem vielfach verflucht. Das Moskauer Stadtgericht verurteilte Zarema Muzhikoyeva im Frühjahr 2004 zu 20 Jahren Straflager. Sie habe sich des Terrorismus, des versuchten Mordes und des illegalen Besitzes von Sprengstoff schuldig gemacht. Muzhikoyeva, die den Ermittlern wichtige Hinweise auf ihre Auftraggeber geliefert und deshalb Milde erwartet hatte, schrie sich das Entsetzen über den harten Richterspruch aus dem Leib: „Zuvor habe ich Euch nicht gehaßt. Aber jetzt hasse ich Euch.“ Wenn man sie wieder freiließe, drohte sie, würde sie zurückkommen und dann wirklich alles in die Luft jagen.

Zulikhan Elikhadhziyeva, die mit Zarema Muzhikoyeva gemeinsam nach Moskau gekommen war, hatte keine Skrupel. Die 23jährige sprengte sich während eines Rockkonzerts in die Luft. Mit ihr starben 14 Konzertbesucher, die meisten im gleichen Alter wie ihre Mörderin.

Weibliche Märtyrer gab es auch in der westlichen Kulturgeschichte zuhauf und wird es wohl stets wieder geben. Vor allem die katholische Kirche hat eine ganze Reihe von Frauen, die wie Johanna von Orléans den Märtyrertod starben. Die italienische Rote Brigade bildete weibliche Terroristen aus und auch die Baader-Meinhof-Gruppe. Was immer die Motive dieser Frauen waren, sich dem bewaffneten Kampf anzuschließen: sie wollten darin aktiv sein. Freiwillig sterben wollten sie nicht, schon gar nicht durch eigene Hand.

Moskauer Geiselnahme stand am Anfang

Fast die Hälfte aller Selbstmordanschläge im zweiten Tschetschenienkrieg wurde von Frauen verübt. Der weibliche Terror begann im Oktober 2002 in Moskau, als unter dem Kommando von Mowsar Barajew 41 Terroristen das Nord-Ost-Musicaltheater mit 800 Zuschauern besetzten. 18 der Geiselnehmer waren tschetschenische Witwen. Danach tauchten die weiblichen Attentäterinnen in kurzen Abständen an verschiedenen Orten im Nordkaukasus und in Rußland auf und töteten insgesamt 160 Menschen. Eine Zahl, die angesichts der Tötungen durch illegale Exekutionen und Folterungen, die von den russischen Streitkräften in Tschetschenien verübt werden, gering ist. Im Gegensatz zu den Morden, die russische Soldaten in Tschetschenien begehen, erhielten die Selbstmordattentate der Tschetscheninnen internationale Beachtung und marktschreierische Schlagzeilen. Nach der Moskauer Geiselnahme wurden die „Schwarzen Witwen“ mit halbem Grusel und halber Bewunderung zum Synonym eines letzten Auswegs. Die Faszination hielt weder lange genug an, um nach den Hintergründen des Witwen-Terrors zu fragen, noch um einen Blick auf die Tausenden von tschetschenischen Witwen zu richten, die leiden, ohne Rache zu wollen.

Nur in Rußland fürchtete man sich nachhaltig. Präsident Wladimir Putin, der öffentlich ankündigte, die tschetschenischen Terroristen eliminieren zu wollen, notfalls auf dem Klo, läßt durch seinen Geheimdienst FSB junge Witwen verhören und einschüchtern. Etliche dieser Frauen werden wenige Tage später von maskierten Männern aus ihrem Haus verschleppt. So wie die 21jährige Milana Ozdoyeva, die gerade ihren an den Folgen von Folter gestorbenen Mann beerdigt hatte und der die Täter buchstäblich das Baby von der Brust rissen, bevor sie aus dem Hause geschleift wurde. Seitdem ist Milana spurlos verschwunden. Liza Moussayeva, eine 29jährige Witwe, wurde zusammen mit ihren drei Schwestern und der Mutter aus ihrem Haus entführt, die Familien, die insgesamt sechs Kinder haben seither kein Lebenszeichen von ihnen erhalten. Allein im Januar hat es nach Auskunft der russischen Menschenrechtsorganisation Memorial zehn weitere Fälle solcher Witwen-Entführungen gegeben, in allen Fällen blieben die Frauen verschwunden.

Last und Schmerz des Krieges tragen die Frauen

Institute zur Untersuchung des Terrorismus, wie das amerikanische International Policy Institute for Counter Terrorism (ICT) und die Heritage Foundation, fanden heraus, daß Selbstmordattentäterinnen eine Erscheinung männlich dominierter Gesellschaften sind. Die Teilhabe am bewaffneten Kampf für Unabhängigkeit sei für die Frauen eine Möglichkeit, ihrer untergeordneten Stellung in der Gesellschaft zu entkommen und die Opfer- gegen die Angreiferrolle zu tauschen. Statt vergeblich konstruktiv sein zu müssen – die Familien und das Heim, daß sie aufbauten, zerstört der Krieg –, haben sie die Gelegenheit, auch destruktiv zu sein.

In Tschetschenien sind infolge des Krieges Hunderttausende von Familien obdachlos geworden. Die Konsequenzen dieser Heimatlosigkeit – Hunger, Geldmangel, feuchte Unterkünfte, kranke Kinder – tragen die Frauen. Ihnen wird zugemutet, in Elendsquartieren die Kinder groß zu ziehen, in lähmendem Entsetzen auf eine Nachricht ihrer kämpfenden Söhne und Männer zu warten. Sind diese verschleppt, sind es die Frauen und Mütter, die bei den militärischen Stellen um Informationen betteln, die Krankenhäuser, die Leichenhallen absuchen, oft genug schließlich Mann oder Sohn identifizieren müssen. Oft wird ihnen zudem die Witwenrente verweigert. Doch auch dort, wo die Männer mit in den Flüchtlingslagern oder zwischen den Ruinen leben, sind sie oftmals keine Hilfe. In Selbstmitleid versunken, geben sie ein Jammerbild ab. Die Not und die Angst läßt die Frauen lange vor der Zeit altern. In den abgearbeiteten Gesichtern ihrer Mütter können die Töchter sehen, welches Schicksal sie erwartet.

Selbstmordattentäterinnen sind keine spezifisch tschetschenische Erscheinung. Bei der PKK und den „Liberation Tigers of Tamil“ gehen Frauen in den Tod. Seit Beginn der Intifada im September 2000 haben vier Palästinenserinnen im Auftrag der Al-Aksa-Brigaden Selbstmordanschläge ausgeübt, eine fünfte, Mutter eines neunjährigen Kindes, wurde verhaftet. In westlichen Medien wird der selbstmörderische Einsatz junger Frauen gerne als Schrei in höchster Not gesehen, ihrem Tun ein Hauch von Heldentum verliehen. Auch in vermeintlich modernen Gesellschaften staunt man über Frauen, die zerstören und töten, statt zu nähren und zu dulden.

Interviews mit gescheiterten Attentäterinnen oder deren Hinterbliebenen zeigen, daß der Weg in den Terror meist aus persönlichen Gründen, aus Verzweiflung gewählt wird. Parolen von Ruhm, Ehre und Vaterland geben diese Frauen nicht von sich. Eher sind sie um das Schicksal der Kinder und den Weiterbestand der Gesellschaft besorgt. Nicht zufällig sind viele der tschetschenischen Attentäterinnen verwitwet. Sie müssen sich einerseits ihrem Mann gegenüber nicht mehr gehorsam zeigen. Andererseits müssen sie sich verteidigen, denn mit ihrem Ehemann haben sie auch ihren Schutz verloren.

Politische Ziele haben meist keine Bedeutung

Anders als bei Männern, die meist von der Wichtigkeit ihrer politischen oder religiösen Mission so überzeugt sind, daß sie dafür in den Tod gehen, sterben die Frauen aus persönlichen Gründen, Politik ist nur der ideologisierte Überbau. Zulikhan Elikhazhiyeva, die das Rockkonzert-Attentat verübte, beschrieb in ihrem Tagebuch die unglückliche Liebe zu ihrem Stiefbruder und die Schuld, die sie deshalb ihrer Familie gegenüber empfand. Zulikhan fürchtete, für ihre Gefühle zu ihrem Stiefbruder in der Hölle zu landen. Als Märtyrerin zu sterben, um dann im Paradies mit ihrem Geliebten vereint zu sein, sah sie offenbar als einzigen Weg: „Ich bitte dich auf den Knien, ich flehe dich an, auch ein Märtyrer zu werden. Ich warte voller Ungeduld auf dich. Ich liebe dich, ich werde dich dort im Himmel lieben. Ich will nicht in dieser schrecklichen Welt leben und dann zur Hölle fahren.“

Auch die so hart verurteilte Zarema Muzhikoyeva wollte nicht für eine Ideologie und nicht für ein Ende des Tschetschenienkriegs sterben. Sie hatte nach dem Tod ihres Mannes dessen Verwandte bestohlen und war in tiefste soziale Ungnade gefallen. „Ich war eine Ausgestoßene“, sagte sie in der Gerichtsverhandlung. Als sie hörte, daß die Hinterbliebenen von Selbstmordattentäterinnen 1000 Dollar erhalten, sah sie eine Chance, zumindest die Schande für ihre Familie wieder gutzumachen. Die 1000 Dollar sollten Kompensation für das Gestohlene sein, ihr eigenes Leben schien ihr ohnehin nichts mehr wert.

Die latente Bewunderung, die den Attentäterinnen zukommt, vertuscht die Qualen oder den Tod der Opfer. Und sie verkennt, daß die weibliche Selbstmordattentäterin der Gipfel männlicher Ausbeutung ist. Die Teilnahme am bewaffneten Kampf hat nämlich eine Bedingung: Sterben. Der traditionellen Frauenrolle entkommen die Attentäterinnen nur bis ihre Ausbildung beendet ist und sie sich in die Luft jagen. Als „Kriegerinnen“ werden sie nicht zugelassen, ihr persönlicher Befreiungswille wird für die politischen Ziele der Männer mißbraucht. Denn deren Anliegen erhalten weitaus mehr Aufmerksamkeit, wenn sich eine Frau dafür ins Jenseits bombt. Für Elain Donnelly, Präsidentin des „Center for Military Readiness“, ist die Teilhabe am Terrorismus für die Frauen kein Schritt nach vorne, sondern ein Rückschritt für die Zivilisation. „Jede Gesellschaft, die Frauen dazu anstiftet, sich in die Luft zu jagen und andere dabei zu töten, verdient den Zorn zivilisierter Nationen.“

Kaukasus Russland

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