Erste Internetwahlen in Estland verschobenEURASIEN ELEKTRONISCH

Erste Internetwahlen in Estland verschoben

Von Nico Lange

EM - Die Republik Estland genießt seit einiger Zeit den Ruf eines Pioniers in Sachen E-Government (d.h. der Abwicklung von Verwaltungsvorgängen und staatlicher Aktivitäten über das Netz) und elektronischer Demokratie.
Schlagzeilen wie “Estonia: 10 Years from Communism to Advanced E-Democracy” (http://www.cardshow.com/esmart/details_actualites_articles.asp?article=169&rubrique=13) waren bereits häufiger zu lesen. Es wurde sogar allgemein erwartet, dass Estland das am weitesten entwickelte Land in Bezug auf elektronische Wahlen sein würde, zumal bereits für das Jahr 2003 nationale Parlamentswahlen via Internet geplant waren.

In den aktuellen Änderungen der entsprechenden Gesetze hat sich das estnische Parlament zwar für die elektronische Demokratie ausgesprochen, die Implementation jedoch in das Jahr 2005 verschoben. Dennoch ist Estland damit noch immer weltweit das erste Land, das umfassende Gesetze zu elektronischen Wahlen bereits verabschiedet hat.

Die Verschiebung der Einführung der Internetwahlen entstand durch die derzeitige politische Konstellation in Estland. Seit Januar 2002 formieren die Parteien Keskerakond und Reformierakond (siehe Hintergrundinformationen) die Regierungskoalition. Sie haben mit 47 von 101 Sitzen im Riigikugo, dem estnischen Parlament, jedoch nicht die Stimmenmehrheit inne. Vorher hatte Reformierakond zusammen mit Mõõdukad regiert, und Keskerakond war die stärkste Oppositionspartei.

Die Pläne zu den elektronischen Wahlen waren von der Vorgängerregierung Ende der ´90er Jahre initiiert worden. In Anbetracht der enormen Entwicklungen Estlands in Richtung E-Government, z.B. beim Online-Banking, der papierlosen Verwaltung, der Übertragung von parlamentarischen Debatten ins Netz, Abwicklung von Parkgebühren per SMS usw., schien die baldige Einführung von Internetwahlen ein logischer Schritt zu sein.

Der damalige Premierminister Laar trieb die Pläne massiv voran. Er schlug 2001 vor, bereits im selben Jahr noch Tests durchzuführen, um dann bei den Kommunalwahlen 2002 und den Parlamentswahlen 2003 schon rechtsverbindlich über das Netz wählen zu lassen. Nicht zuletzt versprach sich gerade seine Partei mit eher junger Klientel von der Einführung solcher Wahlmöglichkeiten einen deutlichen Stimmenzuwachs gegenüber den konservativen Parteien und den Postsozialisten. Man erhoffte sich außerdem eine generelle Steigerung der Wahlbeteiligung, die im letzten Wahljahr 1999 nur bei erschreckenden 57 Prozent gelegen hatte.

Während in den meisten anderen Staaten die ersten Schritte in Richtung Internetwahlen vor allem mit Wahlmaschinen und vernetzten Wahllokalen unternommen wurden (und werden), bedeutete E-Demokratie für Estland von Anfang an das Wählen vom heimischen Computer mit Internetverbindung.

Seit 1999 existiert ein internetgestütztes Wahl-Informations-System, das die automatische Verarbeitung und Weiterleitung der abgegebenen Stimmen realisiert. Das hat auch zur Folge, dass die Esten nicht mehr zu einem bestimmten Wahllokal gehen müssen, sie können schon jetzt ihre Stimme in jedem Wahllokal des Landes abgeben.

Seit Januar 2002 sind alle Bürger Estlands über 15 Jahren verpflichtet eine ID-Card zu besitzen. Das Entscheidende an diesem Personalausweis ist, dass von vornherein ein Chip mit einer digitalen Signatur darauf enthalten ist. Diese Signatur kann für viele Verwaltungsvorgänge (Grundbucheinträge, Steuererklärung usw.) genutzt werden und gibt gleichzeitig die Möglichkeit für sichere und einfache Wahlen im Netz. Die Authentifizierung mittels digitaler Signaturen stellt die derzeit sicherste Methode für Online-Wahlen dar, gestaltete sich jedoch z.B. in Deutschland bisher problematisch. In Pilotprojekten hat sich gezeigt, dass die Notwendigkeit zur Registrierung zum Erhalt der Chipkarte, dem Ziel der Steigerung der Wahlbeteiligung eher abträglich war. Die estnische Lösung ist hier wegweisend und mittlerweile gibt es auch in Deutschland und den USA Überlegungen in Richtung “Civis Digitalis”, d.h. zur Einführung von Ausweisen oder Führerscheinen mit digitalen Signaturen.

Die im estnischen Parlament zu diesem Thema geführte Debatte war äußerst lebhaft. Am meisten wurde über die Probleme der Gleichheit aller Bürger und die mögliche Bevorteilung bestimmter Bevölkerungsgruppen sowie die Geheimhaltung und Sicherheit der Wahlergebnisse diskutiert. Vor allem die Rahvaliit-Partei stellte sich gegen die schnelle Einführung von Internetwahlen. Beispielsweise fragte deren Parteivorsitzender, Arvo Sivendi, in einer Parlamentsdebatte kritisch, ob der Staat dann Laptops an die Bevölkerung in ländlichen Gegenden ausgeben und Schulungen zur Benutzung abhalten müsse.

Nach der bereits erwähnten Regierungsumbildung im Januar 2002 war Refomierakond dann nicht mehr in der Position, um die entsprechenden Gesetze durchzubringen und die Verschiebung der Online-Wahlen auf 2005 war vor allem ein Zugeständnis an Rahvaliit.

In der estnischen Öffentlichkeit, den Medien und der Wissenschaft hat es überraschenderweise kaum kontroverse Diskussionen zu diesem Thema gegeben. Die politischen und ökonomischen Eliten im Land sind stattdessen fast ausnahmslos begeistert von den Möglichkeiten des E-Government und der elektronischen Demokratie. Über mögliche ungewollte Nebenwirkungen des „Fortschritts“ wird nicht nachgedacht.
Außerdem stellt sich die Frage, ob sich die Internetwahlen-Initiative mittlerweile nicht schon völlig von den Bürgern losgelöst hat, deren Beteiligung an politischen Prozessen ja eigentlich erhöht werden sollte.

Hintergrund: Die estnische Parteienlandschaft

Die für diese Debatte relevanten Parteien sind:

Der Autor

Nico Lange studiert Politikwissenschaften, Kommunikationswissenschaften und Informatik in Greifswald. Er ist zudem als IT-Berater und Entwickler in Berlin und Greifswald tätig.

Weitere Veröffentlichungen zum Thema:
E-Voting, Phase 3 - Wer macht was? In: Politik Digital; http://www.politik-digital.de/e-demokratie/evoting/eu.shtml, 25.07.2002.
Click'n'Vote. Erste Erfahrungen mit Online-Wahlen. In: Hubertus Buchstein / Harald Neymanns (Hrsg.): Online-Wahlen, Opladen.

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