An der Grenze zum FriedenPOLEN

An der Grenze zum Frieden

An der Grenze zum Frieden

Für Flüchtlinge aus Osteuropa ist Polen die erste Station auf dem Weg in die EU. In der Region Podlaskie in Ostpolen stellen sich die Behörden auf immer mehr Andrang ein. Die Verfolgten müssen anstehen und warten.

Von Tilo Mahn

Eingang zum „Hotel Budowlane“.
Eingang zum „Hotel Budowlane“.
Foto Tilo Mahn

Was sie hinter sich lassen, sind Geschichten aus dem Krieg. Vor ihnen liegen die Schornsteine des Kohlekraftwerks der Stadt Białystok im Osten Polens. Der Blick aus dem Fenster des „Hotel Budowlane“ im Nordwesten der Stadt zeigt Förderbänder, Bagger und Zäune. Das vergessene Industrieviertel ist für die Bewohner des Flüchtlingshotels ein Ort der Hoffnung und des Wartens. Lange Zeit diente das Gebäude als Unterkunft für die Arbeiter im Kraftwerk. Heute ist es ein Fluchtpunkt für Menschen aus aller Welt. Wer hier ankommt, hat einen ersten Schritt in Richtung Asyl in der EU gemacht. Einen ersten Schritt weiter weg von politischer Verfolgung und den Schrecken des Krieges.

Die Spuren des Krieges

In den kleinen Zimmern des „Hotel Budowlane“ wohnen vor allem Tschetschenen. Die drei Stockwerke teilen sich mehrere Großfamilien, einzelne junge Männer und kleine Kinder. Die 60-jährige Aya ist mit ihrer Tochter nach Białystok gekommen, zusammen mit dem Enkelkind Hamsad, der mit seinen fünf Jahren die Spuren des Krieges schon im Gesicht trägt. Beim Spielen mit einer Sprengladung sind große Teile seiner Stirn und des linken Arms verbrannt worden. „Die Narben sind gut verheilt“, sagt seine Oma. Auf dem Zimmerflur rast Hamsad mit den anderen Kindern um die Wette und rutscht auf alten Möbeldecken herum. „Ja, ich bin froh, dass ich nicht alleine gekommen bin. Die Familie hilft mir“, sagt Aya. In ihrer Erinnerung trägt sie den Sohn, der im Krieg erschossen wurde. Ihr furchiges Gesicht erzählt von vielen Sorgen und lässt sie älter aussehen als ihre 60 Jahre.

Wenn Aya spricht, hält sie ihre Stricknadeln ruhig in der Hand, ihre Stimme ist fest. Socken stricken ist für sie eine Möglichkeit, die viele Zeit im 15 Quadratmeter großen Zimmer verstreichen zu lassen. Sie hätte gerne Arbeit, erzählt sie. Darauf wartet sie seit eineinhalb Jahren. Noch immer wird ihr Antrag auf dauerhaftes Bleiben in Polen bearbeitet. Jeden Tag wartet sie auf Briefe aus Warschau.

Der ehemalige Hotelflur. Hinter den Türen leben heute Flüchtlinge.
Der ehemalige Hotelflur. Hinter den Türen leben heute Flüchtlinge.
Foto Tilo Mahn

Der Wachdienst kontrolliert

Die Briefe empfängt Paweł Ukalski. Er ist als Sozialarbeiter tätig für das Flüchtlingsamt in Białystok und Ansprechpartner für die Bewohner im „Hotel Budowlane“. „Vor ein paar Jahren haben sich russische FSB-Mitarbeiter als Journalisten ausgegeben und wollten sich beim Flüchtlingsamt über die tschetschenischen Flüchtlinge informieren“, erzählt er. Seitdem sind er und seine Mitarbeiter vorsichtiger geworden. Viele Rückfragen nach Warschau, viele Auflagen, viele Vorsichtsmaßnahmen. Inzwischen sitzt vor dem Empfang ein Mann in schwarzer Uniform. Der Wachdienst kontrolliert die Ausweise der Ein- und Ausgehenden. Besucher dürfen bis 22 Uhr ins Haus kommen. Ihren Ausweis geben sie beim Wachdienst ab, bis sie das Haus wieder verlassen. Jeder der Bewohner bekommt eine Karte mit seinem Namen und einer Nummer, damit er sich als Befugter ausweisen kann.

Seit Polen 2004 der EU beigetreten ist und im Jahr 2007 das Schengen-Abkommen unterzeichnet hat, ist das Land für viele Flüchtlinge aus dem Osten zur Anlaufstelle Nummer eins geworden. An einer der ärmsten Regionen Polens schiebt sich die EU-Außengrenze an Belarus und der Ukraine entlang. Noch Anfang der 90er Jahre wurden zwischen 80 und 90 Prozent der Asylanträge in Polen nicht abschließend bearbeitet, weil die Asylsuchenden das Land schon wieder verlassen hatten, bevor eine Entscheidung fiel. Doch die Zahl der Asylanträge in Polen nimmt beständig zu. Seit Polen als EU-Mitgliedsstaat unter die Dublin II-Verordnung fällt, suchen immer mehr Flüchtlinge, die verfolgt werden, gemäß der Genfer Flüchtlingskonventionen Schutz im Land.

Asylverfahren können Monate oder gar Jahre dauern

Die Verordnung schreibt vor, dass der Staat, den die Flüchtlinge in der EU als erstes erreichen, zuständig für die Durchführung des Asylverfahrens ist. Das in Polen beauftragte  nationale Ausländeramt URIC (Urząd do Spraw Repatriacji i Cudzoziemców) untersteht dem polnischen Innenministerium. Ein Asylverfahren in Polen kann bis zu zwölf Monate dauern, von Fall zu Fall sogar mehrere Jahre.

Die so genannten offenen Gemeinschaftsunterkünfte befinden sich bis auf wenige Ausnahmen alle in den grenznahen Woiwodschaften im Osten Polens, in Mazowieckie, Podlaskie und Lubelskie. Vier der gut 20 Einrichtungen für Flüchtlinge in Polen sind rein staatlich geförderte. Das Innenministerium finanziert einen Großteil der Unterkünfte, hinzu kommen EU-Subventionen und Geld von privaten Organisationen. Von dem Geld kann das Flüchtlingsamt den Bewohnern ein Zimmer, drei Mahlzeiten, Arztbesuche und den Kindern einen provisorischen Schulunterricht bieten.

Ein zweites ehemaliges Hotel bietet Platz für weitere hunderte Flüchtlinge. Eine Stiftung in der Stadt versucht denen, die die Aufenthaltserlaubnis erhalten, Arbeit, eine Wohnung und kostenlose Sprachkurse zu vermitteln. Doch nicht alle Flüchtlinge wollen bleiben, viele ziehen weiter. Jedoch häufig ohne Erfolg. Ohne die ersehnte Arbeit in Westeuropa kehren sie zurück nach Polen. Mehrere Tausend Wiederaufnahmeanträge gehen bei den polnischen Behörden jedes Jahr ein, die meisten aus Deutschland.
 
Das „Centrum Integracji Uchodzcow“, eine ehrenamtliche Einrichtung für Flüchtlinge in Białystok, kennt viele solcher Schicksale. In containerartigen Büroräumen sitzen Mitarbeiter und ehemalige Flüchtlinge, die mit Vermietern telefonieren, Sprachlehrer anschreiben und den Kontakt zu den neu angekommenen Flüchtlingen herstellen. Denen, die wirklich bleiben wollen und dürfen, versuchen die Mitarbeiter seit 2002 eine Grundlage zu schaffen, damit die Flüchtlinge  in ihr neues Leben finden können. Normalerweise muss nach sechs Monaten Wartezeit eine Entscheidung gefallen sein. Doch immer wieder erstreiten die Sozialarbeiter für die Bewohner des „Hotel Budowlane“ eine neue Frist – und verlängern das Warten.

Blick in ein Flüchtlingszimmer.
Blick in ein Flüchtlingszimmer.
Foto Tilo Mahn

Sensible Geräte spüren den Herzschlag illegal Eingereister auf

Das polnische Innenministerium ist angehalten, die einzelnen Fälle genau zu prüfen. Die Beamten an der Grenze mit der Ukraine und Belarus kontrollieren und entscheiden schon vorab, wer einreisen darf. Antragsformulare im Zug, die nach Warschau weitergeleitet werden. Fotos, Fingerabdrücke und Interviews. Nach den Personen, die versuchen, illegal über die EU-Grenze nach Polen zu kommen, fahndet die Zollbehörde mit hoch sensiblen Geräten. Speziell entwickelte Geräte können den leisesten Herzschlag eines Menschen aufspüren und so blinde Passagiere in Fahrzeugen schnell entdecken. Wer es dennoch schafft, illegal einzureisen, kommt in ein weiteres Aufenthaltslager am Rande der Stadt Białystok. Die meisten der illegal Eingereisten werden zurückgeschickt, sobald ihre Identität festgestellt wurde. In Ostpolen haben die Behörden sich auf die neue Grenzsituation eingestellt. Sie sind angehalten, die Tür nicht zu weit aufzumachen.

Dabei haben in der Region, die von riesigen Urwäldern und Seen überzogen ist, schon immer verschiedene Kulturen Tür an Tür gelebt. Neben den vielen katholischen Kirchen säumen die rund geschwungenen Bögen der russisch-orthodoxen Gebetshäuser die Straßen. Eine Moschee in der Stadt ist das religiöse Zentrum für Tataren, muslimische Einheimische, die schon seit Jahrzehnten im Grenzgebiet wohnen. In der Nähe der litauischen Grenze, in Sejny, versucht eine ehemalige Gruppe von Theaterspielern, die polnische und litauische Kultur einander anzunähern. Doch im Mischmasch der schon lange angesiedelten Kulturen bleiben die Flüchtlinge unter sich. Sie leben parallel zur übrigen Gesellschaft. Anerkannte Flüchtlinge in Polen haben das Recht auf Schulbesuch, Ausbildung und eine Arbeitserlaubnis, doch ohne offizielle Meldeadresse bleiben sie ohne Sozialhilfe und Krankenversicherung. Sie können bleiben, sind aber immer noch Ausländer in einem für sie fremden Land, in einer Enklave.

Bett mit Drahtgitterverspannung, Kinderstühle, Schemel, Tisch

Im „Hotel Budowlane“ teilen die Bewohner dieses Schicksal. Viele von ihnen kennen sich beim Namen. Sie leben seit Jahren Tür an Tür mit den gleichen Nachbarn. Die Kochnische teilen sich jeweils zwei Parteien. Ein Bett mit Drahtgitterverspannung, zwei Kinderstühle, ein Schemel, ein Tisch. Dazwischen hängen Fotos an der Wand, Erinnerungen an früher.

In der Wohnung von Adam und seiner Familie summt hinter dem Bett der Computer. Der dreijährige Sohn von Adam darf weiter sein Hubschrauber-Computerspiel spielen, während die Eltern erzählen. Nur den Ton soll er ausmachen, damit sich die Erwachsenen ungestört unterhalten können. Als der Vater erzählt, dass er den Namen des Bruders auf der Fahndungsliste des FSB gesehen hat, haften die Augen des Kleinen am Bildschirm. „Überhaupt“, sagt seine Mutter Argan, „die Kinder sind noch viel zu klein gewesen, um zu verstehen, warum unsere Familie das Land verlassen musste.“ Sie ist mit den Kindern schon einen Monat vor dem Mann in Białystok angekommen. Ohne die fehlenden Papiere konnte er zuerst nicht einreisen. Über die Slowakei und mit Hilfe eines Schleppers, der ihn 1400 Dollar gekostet hat, ist der 29-jährige Adam letztendlich über die Grenze  gekommen. Er erzählt in  kurzen Sätzen, will nicht zu viel preisgeben.

Ob alle Details von Adams Flucht stimmen, wagt auch Paweł Ukalski nicht zu beurteilen. „Natürlich gibt es verschiedene Gründe, warum die Leute hier ankommen“, gibt er sich diplomatisch. Adam zeigt Familienfotos von früher, von zu Hause. Hochzeitsfeiern, Tee trinken mit den Eltern im gemeinsamen Wohnzimmer. „Ich wollte eigentlich nicht gehen. Aber mir war klar: Die Familie hat Vorrang“, gibt er knapp nach einigen leeren Blicken von sich. Seine Frau ist vier Jahre älter als er, oft redet sie für ihn. Ja, die Familie fühle sich hier schon wie zu Hause. Die Kinder hätten schon Freundschaften geschlossen. Białystok gefalle ihnen. Zargan zieht sich die Konturen ihres Mundes mit dem Lippenstift vor dem Spiegel im Vorraum nach, Adam blickt ins Leere. Seit November 2007 bestimmen Briefwechsel mit Warschau, der Fernseher und Erinnerungen an früher das Leben der Familie. Adam hofft noch immer, irgendwann in die Heimat zurückkehren zu können.

Elektriker Svet-Ake als „Dieb des Lichts“.
Die 60jährige Flüchtlingsfrau Aya in ihrem Zimmer.
Foto Tilo Mahn

„Wenn ich rausschaue, sehe ich keinen Krieg. Das ist Grund genug, um zu bleiben.“

Auch die Nachbarin Aya hofft weiter. Wenn sie Arbeit findet, will sie in Białystok bleiben, erzählt sie. Beim Blick aus dem Fenster schiebt sie die Gardinen zur Seite und deutet mit der Hand auf die umzäunten Industrieanlagen hinter dem Haus: „Wenn ich rausschaue, sehe ich keinen Krieg. Das ist Grund genug, um zu bleiben.“ Mit ihren 60 Jahren will sie endlich an einem Ort angekommen sein. „Ich bin müde vom vielen Reisen“, sagt sie.

Schon einmal hatte Aya mit dem Gedanken gespielt, ihr Heimatland Tschetschenien zu verlassen. Nach dem Mauerfall in Berlin hat sie im Fernsehen gesehen, dass die Leute nach Westdeutschland stürmen und ihre Wohnungen verlassen. Viele freistehende Wohnungen gäbe es bald, hieß es damals im Fernsehen. So eine hätte Aya gerne mit ihrer Familie bezogen. Mit vielen Zimmern und Platz für die Kinder zum Spielen. Doch so lange in ihren 15 Quadratmetern wohnt, kann sie nur träumen. Von einem richtigen Leben in Frieden.

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