Bei der Aufarbeitung der Vergangenheit misst man in Tallin mit zweierlei MaßESTLAND

Bei der Aufarbeitung der Vergangenheit misst man in Tallin mit zweierlei Maß

Es geht in Estland nicht nur um die Verlegung eines russischen Kriegerdenkmals, sondern um viel tiefer liegende Probleme. Ein Drittel der Bevölkerung sind Russen. Bis heute ist es nicht gelungen sie in den neuen Staat zu integrieren. 130.000 Russen haben nur den sogenannten „grauen Pass“. Bei den Parlamentswahlen haben sie kein Stimmrecht.

Von Ulrich Heyden

R ussen gegen Esten. Ein neuer ethnischer Konflikt in Europa? Diesen Eindruck konnte gewinnen, wer die Bilder von den Protesten gegen den Abbau des sowjetischen Weltkriegsdenkmals in der estnischen Hauptstadt Tallin sah.
 
Aber was war wirklich passiert? Im Frühjahr während des Parlaments-Wahlkampfs hatte der Führer der rechtsliberalen Reformpartei, Andrus Ansip, mit der populistischen Forderung, den „bronzenen Soldaten“ abzubauen, Stimmen gesammelt. Das Thema kam offenbar an. Die Reformpartei legte um zehn Punkte zu und kam auf 27,8 Prozent der Stimmen. Sie überflügelte damit die linksliberale Zentrums-Partei, die 26,1 Prozent der Stimmen bekam. Die Linksliberalen, die auch von vielen Russen gewählt werden, waren nicht generell gegen die Verlegung des „bronzenen Soldaten“, der von vielen Esten als Symbol der sowjetischen Okkupation angesehen wird, bemühten sich aber in dieser Frage um einen Dialog mit der russischen Bevölkerungsminderheit. Die Abneigung vieler Esten gegenüber dem „bronzenen Soldaten“ ist verständlich: Unter der sowjetischen Herrschaft wurden 30.000 Menschen nach Sibirien deportiert, Tausende wurden getötet.

Ein Denkmal, das zum Unruheherd wurde?

Aus unerfindlichen Gründen entschied sich Premierminister Ansip, der jetzt in einer Koalition mit der rechtskonservativen Partei „Pro Patria – Res Publica“ und den Sozialdemokraten regiert, den „bronzenen Soldaten“ ausgerechnet zwei Wochen vor dem russischen Siegesfeiertag am 9. Mai abzubauen. Das Argument der neuen Regierung: Das Denkmal sei zum Unruheherd geworden. Am 9. Mai 2006 habe man am Denkmal rote Fahnen gesichtet. Jugendliche hätten zu Füßen des bronzenen Soldaten Bierflaschen zerschlagen. Der „bronzene Soldat“ und die sterblichen Überreste von 12 sowjetischen Soldaten bräuchten einen „ruhigen Platz“, erklärte Verteidigungsminister Jaak Aaviksoo. Er rechne wegen der Verlegung zwar mit weiteren Protesten der russischen Minderheit, diese würden aber allmählich auslaufen.

In Estland wüteten jedoch nicht nur Sowjets sondern auch die Nazis. Sie brachten Tausende von Juden um. Doch an diese Morde und die Mittäterschaft von Esten erinnert man sich in Estland nicht gerne. Über 70.000 Esten kämpften an der Seite der Wehrmacht und der SS, auch an Frontabschnitten außerhalb Estlands. In welche Verbrechen, die estnischen Soldaten und SS-Einheiten bei dem Vernichtungsfeldzug im Osten verwickelt waren, interessiert in Estland offenbar Niemanden. Man will daran auch gar nicht erinnert werden. In der nördlichsten der drei baltischen Republiken ist man stolz auf die estnischen Soldaten, die an der Seite der Deutschen gegen den „Erzfeind“ Russland kämpften. Das aus Esten gebildete Bataillon „Narwa“, sei in den Schlachten in der Ukraine im Sommer 1943 „aufgefallen“, schreibt anerkennend der estnische Historiker Mart Laar, dessen Schriften im „Okkupationsmuseum“ von Tallinn zum Verkauf angeboten werden. Der gemeinsame Kampf mit der Hitler-Wehrmacht – so die offizielle Sichtweise bis heute – diente dem „Fernhalten der Roten Armee von Estland“ (Mart Laar) und entsprach damit den estnischen nationalen Interessen.

Kränze für ermordete Juden und in Abwehrkämpfen gefallene SS-Soldaten

Als es nach den Protesten gegen den Abbau des „bronzenen Soldaten“ in Tallin zu gewalttätigen Protesten kam, versuchte die estnische Regierung die Situation zu beruhigen. Am 8. Mai wurden im Beisein von Regierungschef Ansip, Verteidigungsminister Jaak Aaviksoo und Diplomaten der in Tallinn vertretenen Botschaften Kränze an verschiedenen Denkmälern niedergelegt. Auch der deutsche Botschafter war zugegen. Das Gedenken fand am jüdischen Mahnmal auf dem Gelände des ehemaligen KZ Klooga, vor dem „bronzenen Soldaten“ auf dem Militärfriedhof von Tallinn und auf der Gedenkstätte Maarjamjagi statt, wo Esten gedacht wird, die an der Seite der Wehrmacht und der SS gegen die sowjetischen Truppen kämpften. Mit den Kranzniederlegungen wollte man allen „Opfern des zweiten Weltkrieges“ gedenken, erklärte der estnische Verteidigungsminister am Gedenkplatz Maarjamjagi, wo auf grauen Granitplatten in deutscher und estnischer Sprache den Gefallenen der Freiwilligen Panzergrenadier-Division „Nordland“ und der Flakgruppe „Ostland“ gedacht wird, die 1944 bei „den Abwehrkämpfen“ in Estland starben. Warum man auch des Polizeibataillons Nr. 36 gedenke, welches an der Judenvernichtung beteiligt war, wurde der Minister von einem Journalisten gefragt. Die Antwort des Ministers: „Die Schuld ist immer persönlich. Denen, die wir gedenken, tragen keine Schuld.“

Reichskommissariat Ostland 1941: „Estland ist judenfrei“

Bereits im Dezember 1941 - unmittelbar nach der Besetzung Estlands durch deutsche Truppen - konnte das „Reichskommissariat Ostland“ nach Berlin melden, dass Estland „judenfrei“ sei. Die Vernichtung der 1.000 noch in Estland verbliebenen Juden war schnell vollzogen.

Trotzdem wäre es falsch zu sagen, Estland sei ein judenfeindliches Land gewesen. Im Gegenteil: Mitte der 20er Jahre war ein Kulturautonomiegesetz erlassen worden, welches den damals 4.500 Juden Estlands eine kulturelle Selbstverwaltung ermöglichte. Pogrome hat es in Estland nie gegeben.

Mit der Vernichtung der estnischen Juden hatte das Grauen in der nördlichsten der drei Balten-Republiken jedoch keine Ende. In die zahlreichen KZs des Landes kamen Juden aus ganz Europa, auch aus Deutschland. Die bekanntesten Stätten der Vernichtung waren die KZs Vaivara und Klooga. Nach Schätzungen der Jüdischen Gemeinde Estlands kamen während der deutschen Besatzung 20.000 Juden um. An der Bewachung und Aufspürung von Juden und an der Bewachung der KZs waren auch Esten beteiligt. Es gab allerdings auch Einheimische, die Juden schützten und versteckten.
 
Ein besonderes grauenhaftes Drama ereignete sich im KZ Klooga. Unmittelbar vor dem Anrücken der Roten Armee hatte die SS die 2.100 noch lebenden Juden des Lagers erschossen und auf Scheiterhaufen verbrannt. Die Führung der Roten Armee ermöglichte es Kriegsberichterstattern den Ort des Schreckens zu besuchen. Damit wurde das Verbrechen für die Nachwelt festgehalten.

Kritik an der Denkmalsverlegung auch bei Estnischen Eliten

Für viele Esten ist der „bronzene Soldat“ ein Symbol der sowjetischen Okkupation, die 1940 begann und erst 1991 endete. Doch Kritik an der Verlegungs-Aktion gab es nicht nur von Russen sondern auch von Esten. Der ehemalige Ministerpräsident und jetzige Bürgermeister von Tallinn, Edgar Savisaar, macht sich zum Führer der Kritiker. Er gründete extra ein Bürger-Forum. Der estnische Politiker meint, es sei ein Fehler gewesen, dass man die Bevölkerung nicht in die Debatte um die Verlegung mit einbezogen habe. Savisaar möchte die von dem rechtsliberalen Ansip geführte Regierung ablösen. Der Bürgermeister hofft dabei auch auf die Stimmen der Russen, die ein Drittel der Bevölkerung Estlands ausmachen.

Vadim Poleshchuk von der Menschenrechtsorganisation LICHR erklärt, in der russischen Minderheit habe sich viel Frustration angestaut. Die Russen fühlten sich benachteiligt. Von den 1,3 Millionen Menschen, die in Estland leben, gehören ein Drittel zur russischsprachigen Minderheit. Zehn Prozent der Bevölkerung – vor allem Russen - haben nur den „grauen Pass“, und damit bei den Parlamentswahlen kein Wahlrecht. Die Russen hätten keinen Einfluss auf die Regierungspolitik. „Seit der Unabhängigkeit 1991 hat es nur ein russischsprachiger Politiker in die Regierung geschafft“, erläutert Politologe Poleshchuk. In den Unternehmen seien die russischen Einwohner Estlands durch schlechtere Bezahlung benachteiligt.

Die Außenwirkung Europas in Richtung Russland ist fatal

Die Unzufriedenheit mit diesen Zuständen hätte noch „jahrelang weiter schlummern können“, doch die Verlegung des Soldaten-Denkmals habe „wie ein Katalysator“ gewirkt. Immerhin, im Vergleich zu 1991, als der Großteil der Russen in Estland über Nacht zu Staatenlosen wurde, habe sich die Situation verbessert. Faktisch müssen die Russen in Estland aber bis heute für die Repressionen büßen, welche die Esten unter Stalin erlitten hatten. Aus Angst, Moskau könnte die in Estland lebenden Russen als fünfte Kolonne gegen den kleinen unabhängigen Staat einsetzen, erschwerte die estnische Regierung die Erlangung der Staatsbürgerschaft. Russen bekommen die vollen Bürgerrechte nur dann, wenn sie sich einem mündlichen und schriftlichen Sprachtest in Estnisch unterziehen. Dass die Unruhen Ende April – wie von estnischen Zeitungen behauptet - von der russischen Botschaft in Tallin organisiert wurden, hält Poleshchuk für eine Ente.

Sicher ist es das souveräne Recht eines jeden Landes Denkmäler zu demontieren, zu versetzen oder neu zu errichten. Doch warum schweigt Europa zu den Gedenktafeln für estnische SS-Soldaten und stellt sich in der Frage des „bronzenen Soldaten“ kritiklos auf die Seite der estnischen Regierung? Estland ist in Europa nicht nur Schlusslicht bei der Aufarbeitung der Nazi-Verbrechen sondern auch bei der Integration seiner Minderheit, den Russen. Die Außenwirkung Europas Richtung Russland ist fatal. Brüssel sollte darauf drängen, dass am Ostrand der EU Geschichte ehrlich und schonungslos aufgearbeitet wird und die 140.000 Russen mit „grauem Pass“ endlich die vollen Bürgerrechte bekommen. Nur so lassen sich in Estland neue Gewaltausbrüche verhindern.

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