Das Leben – eine WundeARMENIEN

Das Leben – eine Wunde

Jerewan, eine Stadt zwischen Orient und Okzident, die Verluste der Geschichte und der Krieg um Karabach

Von Andrea Jeska

EM – Den Sender Jerewan gab es nie. Mit Armenien hatte er schon gar nichts zu tun. Er war eine freie Erfindung des von staatlicher Propaganda unterdrückten Geistes, die kleine Rache der Sowjetbürger für die Entbehrungen des Alltags. Dennoch prägten die „Anfragen an den Sender Jerewan“ die Generation der 50er und 60er Jahre. „Was passiert, wenn man in der Wüste ein sozialistisches Regime errichtet? Antwort: Der Sand wird knapp.“ Oder: „Was ist eine Sprotte? Ein Wal, der im Kommunismus angekommen ist.“

Bodenschwer

Jerewan ist keine Stadt für leichten Humor. Die Architektur ist bodenschwer und von bedrückender Monumentalität. Nichts Kapriziöses, nichts Eitles haftet daran. Im rötlich-grauen Tuff der Bauten um den Platz der Republik, im noch graueren Waschbeton der trostlosen Vorstädte Nor Norkh und Bangladesh, im architektonischen Einerlei der Innenstadtboulevards, im Müll und Verfall der Nebenstraßen liegt eine trotzige Verweigerung von Ästhetik und Lebendigkeit.

Verstärkt wird der Eindruck des Tristen durch die dunkle Kleidung der Bewohner. Unter wehenden schwarzen Mänteln zeigen die Frauen sehr kurze, schwarze Röcke, tippeln auf hohen, spitzen schwarzen Schuhen, haben schwarze Schals umgeschlungen und die Augen mit schwarzem Strich geschminkt. Schwarzgewandete Männer tragen schwarze Hüte, klemmen schwarze Aktentaschen unter dem Arm ein.

Vielleicht ist der Schneewind schuld. Noch im April fegt er die Wärme des Frühlings hinweg, von den Bergen zieht der Geruch von Winter in die Stadt und sonnenlos fehlt den Häusern aller Glanz. Solches Wetter habe es seit achtzig Jahren nicht mehr gegeben, schrieben die armenischen Zeitungen, und beklagten, 75 Prozent der Weinreben seien bereits vom Frost zerstört und die Produktion des armenischen Cognacs müsse in diesem Jahr wohl ausfallen. In jenen Häusern, in denen ich übernachte, ist das Holz knapp geworden, und selbst die Betten sind so eisig, daß die Sehnsucht nach Wärme und Sonne riesige Dimensionen annimmt.

Hingegossen

Von Grau und Kälte erstarrt, lausche ich gierig den Geschichten von Hitze, Straßencafés und Musik, vom roséfarbenen Schimmern des Tuffsteins in der Sommersonne. Erst der Trost, diese Stadt könne hellere Tage haben, erst das Bedauern darüber zur falschen Zeit gekommen zu sein, schärft den Blick für das Verborgene. Für die leuchtenden Farben der Teppiche, die steif im Wind hängen. Für das Hingegossene der Stadt über zwei Hügel, dazwischen der Fluß Hrazdan. Für die eleganten Formen der alten Bürgerhäuser, die schön wären, wenn sich eine liebevolle Hand ihrer annähme. Wenn nur die Häuserwände nach anderem als Feuchtigkeit röchen, die Gesichter der Bewohner nicht die Physiognomie der Entbehrung trügen.

Als ich wissen wollte, ob Armenien noch Europa sei, befand ich mich in Georgiens Hauptstadt Tiflis. Ich nahm den Minibus bis Jerewan. Kaum hatten wir die georgische Grenze hinter uns gelassen, wurden die Straßenbeläge deutlich besser, dezimierte sich die Anzahl der Schlaglöcher, gab es keine Polizisten mehr, die sich von den Autofahrern ihren Monatslohn zahlen ließen.

Jerewan war weithin sichtbar. In der riesigen Ararat-Ebene lag es wie ein biblischer Ort, wie das gelobte Land, das zu finden man Entbehrung, Kälte und lange Wege auf sich nehmen muß. Erst das Näherfahren brachte rauchende Schlote in den Blick, schließlich durchfuhr der Bus prosperierende Vororte, die den Eindruck erweckten, es gäbe auch viel Reichtum in diesem Land, in dem angeblich 70 Prozent der Bevölkerung auf afrikanischem Einkommensniveau leben.

Angenehm

Westeuropäer, die alle drei südkaukasischen Metropolen kennen, behaupten, in Jerewan sei das Leben am angenehmsten. Es herrsche nicht soviel Anarchie und Kriminalität wie im georgischen Tiflis, nicht soviel Korruption, nicht soviel Über’s-Ohr-Gehaue wie im aserbaidschanischen Baku. Weil beinahe die Hälfte der zu Sowjetzeiten in Jerewan lebenden Bevölkerung ausgewandert sei, gäbe es keine Hektik, keine überfüllten Straßen. Jedenfalls sei Armenien von allen drei Ländern Europa am nächsten. Geografisch, kulturell und politisch. Die Demokratie, sagen jene - Mitarbeiter von Hilfsorganisationen, Vertreter der EU, der OSZE -, sei dort am weitesten fortgeschritten. Es gäbe berechtigte Hoffnungen auf Stabilität. Ich weiß nicht, wie viel Zynismus man in solchen Hilfsorganisationen lernt. Jedenfalls sah die OSZE zu Beginn des Frühlings hilflos den massiven Wahlfälschungen zu, dank derer Armeniens Präsident Robert Kotscharjan für fünf weitere Jahre seinen korrupten Regierungsgeschäften nachgehen kann.

Verwundet

Stolz zeigt mir meine Vermieterin am Morgen den Blick vom Balkon auf den Ararat (5.165 Meter). Ich erzähle ihr dafür einen Witz: „Anfrage an Sender Jerewan: Kann der Kleinwagen „Saporoshez“ 200 Stundenkilometer erreichen? Antwort: Ja, wenn man ihm vom Berg Ararat hinabwirft.“ Sie findet das nicht komisch. Der Ararat sei eine armenische Wunde, sagt sie. „Wenn die Türken wenigstens bereit wären, die Grenze ihres Landes auf den Gipfel des Ararats zu legen, so daß die Armenier Klöster auf ihre Seite des Berges bauen könnten...!“ „Gibt es denn Hoffnung auf einen solchen Schritt?“. „Beileibe nicht.“

Zu Füßen der Mutter Rußland, die hoch über der Stadt in einem Park thront, beginne ich meine Suche nach Abendland und Morgenland. Im Park aber gibt es nur rostige Karussells, die im Wind quietschen und bedrückend nach Billigmaterial aus der Sowjetzeit aussehen. Die Mutter Rußlands schaut grimmig drein. Im Museum des II. Weltkrieges ist es wie in allen Museen aus der Zeit. Daß einige Bajonette fehlen, die angeblich junge Männer entwendeten, um sie im Krieg um Karabach den Aseris in den Bauch zu stoßen, ist allerdings ungewöhnlich und eine schauderhafte Vorstellung.

Leuchtend

Die Abovjan, Jerewans Haupteinkaufsstraße, habe ich schnell durchlaufen, die Teppichverkäufer und Souvenirhändler belästigen mich nicht. In den Straßenunterführungen kann man quietschbunte, riesige Stofftiere kaufen. Aus knisternden Lautsprechern plärren auch hier pubertierende amerikanische Sternchen. Am „Platz der Republik“ schickt die Sonne ein paar Strahlen, und tatsächlich fangen die Tuffsteine der Gebäude zu leuchten an. Eilig werden Eiswagen rangerollt, Liebespaare besetzen die Bänke.

Auf den Stufen des armenischen Nationalmuseums für Geschichte wärmt sich der Student Sascha mit mir. Von ihm erfahre ich, wie die Dinge eigentlich sind. Über die Korruption der Regierung erzählt er, daß alles Geld, welches nach Armenien fließe, aus der Diaspora komme, das Land nur mit Hilfe der Exilarmenier lebensfähig sei. Armenien sei ein geknechtetes Land. Jerewan aber, sagt er, sei wie Paris. Wer den Liedern von Charles Aznavour lausche, der höre, daß dieser stets nur seine Heimat Armenien besänge. Überhaupt sei Armenien eindeutig das Zentrum Europas, die Wiege des Christentums, die Wurzel des okzidentalen und orientalischen zugleich. Die Brücke zu Asien, das entscheidende Glied der Kette, die West und Ost verbindet.

Vergangen

Vergangen, gewesen. In Armenien höre ich diese Worte oft. Armenische Erzählungen sind voller Trauer, Armeniens Historie ist von Tragik umflort. Der Ararat, Symbol des frühen Christentums: an die Türken verloren. Ein Teil des ehemaligen armenischen Großreichs: auch an die Türken verloren. Trabzon, Erzurum, Kars, selbst die Königsstadt Ani. Nachitschewan: von Stalin an die Aseris verschenkt. Der Stolz auf die christliche Geschichte: vom wirtschaftlichen Niedergang gedämpft. Und erst die Katastrophen, die sich so tief ins kollektive Gedächtnis gegraben haben, daß der Anspruch auf eine Opferrolle für viele weitere Jahrzehnte gesichert ist. Der Genozid von 1915, als die Türken 1,5 Millionen Armenier niedermetzelten, ist eine Heimsuchung, die gegenwärtig ist, als sei sie gestern geschehen. Gesühnt wurde sie nie. Wer denke schon noch an den Völkermord in Armenien, hat Hitler gesagt, bevor er zum Völkermord an den Juden ausholte. Die Türken leugnen das Schlachten bis heute und verweigern den Armeniern damit die Möglichkeit, sich einer heilenden Trauer hinzugeben.

Tragisch

1988 bebte im Norden des Landes die Erde, 25.000 oder mehr Menschen starben. Ganze Dörfer und Städte wurden vollkommen zerstört. Hilfsangebote und Gelder gab es damals genug, doch dann kam der Krieg mit Aserbaidschan, kappten die Aserbaidschaner und die Türken ihre Strom- und Gasverbindungen nach Armenien, machten die Grenzen dicht. Fünf Jahre lang senkte sich Dunkelheit über Armenien. Baufirmen und Hilfsorganisationen zogen wieder ab, die Nordarmenier richteten sich in Wellblechhütten und Containern ein. Manche leben dort heute noch, und auch der Schutt der zerstörten Gebäude ist nicht fortgeräumt. In der Opferrolle kann man sich offenbar gut einrichten.

Selbst dem Gewonnenen, siegreich Errungenen, haftet Tragödie und Händeringen an. Der Sieg im Krieg um die Exklave Karabach, mit dem Blut sehr junger Männer und mit Unterstützung russischer Waffen erkämpft, hat kein Glück gebracht. In Jerewan erzählt man gerne empört, daß die Karabacher nun alle nach Jerewan kämen und, weil auch Präsident Kotscharjan ein Karabacher ist, Privilegien erhielten, von denen Armenier nur träumen könnten. Frech und egoistisch seien sie, diese Karabacher, sagt man, und unter dem Siegel der Verschwiegenheit schimpft mancher, die Aseris sollten sich Karabach ruhig wieder holen. Ähnlich verbittert ist das Verhältnis zur Schutzmacht Rußland, der man sich nur aus Angst vor der feindlich moslemischen Umgebung unterwerfe, sagen die Jerewaner, und fügen gerne hinzu, daß sich Europa schließlich nicht um sie schere und auf die Georgier kein Verlaß sei.

Gastfreundlich

In Nor Norkh sehen die Hochhäuser so aus, daß man allen deutschen Jammerlappen, die stets den Verlust ihres Wohlstandes beklagen, dort einen Aufenthalt wünscht. Die meisten Bewohner seien Flüchtlinge aus Aserbaidschan und Nachitschewan, hatte meine Zimmer-Vermieterin erklärt. „Bayern München, Bayern München“, skandieren die Kinder und schießen einen schlaffen Fußball vor meine Füße. Nach dem Spiel kommen Frauen mit Gebäck, Brot und Tee und lassen mich erst gehen, als alles aufgegessen ist.

Von hilfreichen Händen in die richtige Marshrutka geschubst, erreiche ich den Zentralmarkt im Stadtteil Bangladesh – der Name ist nicht von ungefähr, sondern eine Anspielung auf die örtlichen Elendszustände. Noch vor dem Mittag will man mich hier zum Trinken von Bier und zum Kauf von Plastikkronleuchtern, Jogginghosen und nadelspitzen Schuhen aus Korea nötigen. Das Bier schlage ich aus. Den Schuhkauf zunächst nicht, denn Schuhe, selbst schreckliche Schuhe, haben auf Frauen magische Anziehung. Zum Glück besteht das Angebot nur aus kleinen Größen. Während sich die Verkäufer abmühen, meine Zehen einzuquetschen, versuchen sie sich in deutscher Konversation. „Wo Stadt? Stuttgart, Baden-Baden? Eins, zwei, drei. Zack, zack, an die Arbeit.“ Haha, lache ich bemüht.

Kriegerisch

Am Abend bin ich zu einem offiziellen Essen eingeladen. Meine Tischpartner sind armenische Bildungsbürger. Nicht lange, und wir diskutieren den Karabach-Krieg. Die Argumente sind dieselben, die ich von den Aseris in Baku, von Georgiern in Tiflis, von Osseten in Zhkinvali und von Abchasen in Suchumi gehört habe. Es sind von staatlicher Propaganda infizierte Rechtfertigungen dafür, warum im Kaukasus Menschen, die über Jahrzehnte friedlich zusammenlebten, sich über Nacht totschlugen. „Wenn einer kommt und dein Haus will, hältst du doch auch nicht still, oder?“, sagt mein Tischpartner. Ob denn jemand sein Haus gewollt habe, frage ich. „Nein“, ruft er erbost. „Mein ganzes Land wollten unsere Feinde.“

Kaukasus

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