Das russisch-ukrainische Gasabkommen auf dem PrüfstandENERGIEPOLITIK

Das russisch-ukrainische Gasabkommen auf dem Prüfstand

Das russisch-ukrainische Gasabkommen auf dem Prüfstand

Ende gut, alles gut? Nachdem der Gasfluss von Russland über die Ukraine mit massiven Folgen für Südosteuropa fast zwei Wochen lang unterbrochen war, fließt nun wieder Gas durch die ukrainischen Transitleitungen. Die russische Gazprom und die ukrainische Naftogaz, deren Differenzen anfänglich auf kommerziellen Streitigkeiten beruhten, hatten sich zuvor auf ein neues Abkommen geeinigt. Die Europäische Union muss nun die Ausgestaltung und Umsetzung der Konzernvereinbarungen genau unter die Lupe nehmen. Das Abkommen ist ein wichtiger Schritt, zentrale Fragen bleiben aber ungelöst.

Von Jonas Grätz und Kirsten Westphal

Jonas GrätzDr. Kirsten Westphal  
Die Autoren Jonas Grätz und Dr. Kirsten Westphal  

D em Abkommen zwischen Gazprom und Naftogaz am 19. Januar war eine Einigung zwischen Putin und Timoschenko vorausgegangen, den Premiers Russlands und der Ukraine. Nicht nur in Südosteuropa, dessen Gasversorgung mitten im Winter unterbrochen war, ist die Erleichterung über die erzielte Einigung groß.

Um es vorwegzuschicken: Die Vehemenz des Gasstreits, sein dramatischer Verlauf und die Art und Weise der Beilegung zeigen, dass dem kommerziellen Disput strukturelle Probleme energiepolitischer, wirtschaftlicher und politischer Natur zugrunde liegen, die durch die Weltwirtschafts- und die politische Großwetterlage in der Region noch verschärft wurden.

Die komplette Kappung der Lieferungen nach Europa stellt einen präzedenzlosen Akt dar, der mit dem Geist aller bilateralen Abkommen bricht, die die EU mit Russland und der Ukraine im Rahmen unterschiedlicher Mechanismen geschlossen hat. Das gilt auch und zuallererst für den Energiecharta-Vertrag. Insofern markiert der Streit eine echte Zäsur. Daraus leitet sich für die EU ein dringlicher Handlungsbedarf mit Blick auf Binnenmarkt, Nachfrage und Diversifizierung ab. Die geographischen und infrastrukturellen Gegebenheiten bleiben dabei zunächst unberührt. Russland verfügt über die weltweit größten Gasreserven. Und Europa, schon jetzt größter Nettoimporteur von Gas, muss mit einem weiter leicht steigenden Gasverbrauch rechnen, zumal sich die eigenen Gasreserven dem Ende zuneigen. Rund 80 Prozent der Gaslieferungen aus Russland und damit etwa 20 Prozent des in Europa verbrauchten Gases werden über die Ukraine exportiert. Daran wird sich kurz- und mittelfristig kaum etwas ändern, denn entsprechende Diversifizierungsmaßnahmen greifen erst zeitverzögert. Das macht es unmittelbar aber umso wichtiger, das Abkommen der beiden Konzerne und seine Umsetzung genau unter die Lupe zu nehmen.

Kommerzielle Streitpunkte und Schuldenfrage

  Zur Person: Jonas Grätz
  Jonas Grätz ist Stipendiat der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in der Forschungsgruppe Russland und Doktorand an der Goethe-Universität Frankfurt/M. Sein Dissertationsthema: „Russland als globaler Wirtschaftsakteur. Handlungsressourcen und Strategien der Energiekonzerne“.

Der Autor ist Magister der Politikwissenschaften (Frankfurt/M, 2008). 2004-2005 hat er an der Staatlichen Universität St. Petersburg und 2002-2004 an der Universität Greifswald studiert.

Vordergründig entzündete sich der Streit Ende 2008 an alten Schulden und neuen Gaspreisen. Frühere Vereinbarungen wurden in Frage gestellt und als obsolet betrachtet.

Die russische Seite bezifferte Ende Dezember die ukrainischen Schulden für Gasimporte auf 2,4 Milliarden US-Dollar, die Ukraine auf lediglich 1,5 Milliarden US-Dollar. Die Schuldenfrage ist undurchsichtig, denn sie berührt nicht nur die Gazprom-Lieferungen, sondern auch die Geschäfte des Zwischenhändlers, der zentralasiatisches Gas durch Russland an die Ukraine verkauft hat.

Preisfragen

Die Vorstellungen gingen auch bei den Preisen für 2009 weit auseinander: Zunächst verlangte Gazprom 250 US-Dollar pro tausend Kubikmeter (2008 hatte die Ukraine noch 179,50 US-Dollar zu zahlen). Im Laufe der Verhandlungen erhöhte Gazprom seine Forderung schrittweise auf 418, später auf 450 US-Dollar. Die ukrainische Seite nannte 235 US-Dollar einen reellen Preis.

Die Preisverhandlungen erwiesen sich wegen der Situation auf den Energiemärkten als schwierig. Denn weltweit sind Gaspreise an den Ölpreis gekoppelt und folgen ihm mit einer etwa sechs- bis neunmonatigen Verzögerung. 2008 fiel der Ölpreis von seinem Höchststand im Juli (147 US-Dollar pro Barrel) binnen vier Monaten um fast 100 US-Dollar. Gazprom bezog sich in den Verhandlungen auf den aktuellen Höchstpreis, die Ukraine orientierte sich an den absehbar fallenden Preisen.

Der Verfall der Energiepreise hat die Gazprom kalt erwischt: Ihr Marktwert ist um 75 Prozent gesunken, ihre Auslandsschulden belaufen sich auf ungefähr 49,5 Milliarden US-Dollar. Das macht eine Finanzierung des für 2009 geplanten ambitionierten Investitionsprogramms von über 30 Milliarden US-Dollar schwierig. Dabei müssen dringend neue Felder erschlossen werden. Zudem sinkt die Produktion und war die Liefersituation in Russland im Winter mehrfach angespannt. Kurz, Gazprom braucht Geld, um die Durststrecke durchzustehen, bis die Energiepreise wieder steigen, und um seine Position auf dem Weltmarkt zu bewahren.

Den Binnenmarkt beliefert Gazprom zu subventionierten Preisen. Die Gaspreise für das europäische Ausland werden in den nächsten Monaten weiter fallen. Die Ukraine ist mengenmäßig der größte Abnehmer der Gazprom, wobei in den letzten Jahren ein Hauptteil der Gazprom-Lieferungen an die Ukraine aus Zentralasien kam. In der Krisensituation spielt es also für Gazproms Bilanz eine zentrale Rolle, welche Preise beim Nachbarn erzielt werden.

Hinzu kommt, dass sich Russland vergleichsweise früh und wohl in der Hoffnung auf deren politische Unterstützung nach dem Georgienkrieg mit zentralasiatischen Staaten auf hohe Gaspreise von weit über 300 US-Dollar pro tausend Kubikmeter geeinigt hatte. Der Spielraum, der Ukraine niedrigere Preise zuzugestehen, war infolgedessen stark eingeengt.

Transitfragen

  Zur Person: Kirsten Westphal
  Kirsten Westphal arbeitet in der Forschungsgruppe Globale Fragen der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik. Von 1996-1998 war sie als Mitarbeiterin der PreussenElektra AG tätig, von 1999-2002  als Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der JLU Gießen und gleichzeitig als Gastforscherin am IRELA Madrid sowie als Mitarbeiterin am Zentrum für Internationale Entwicklung und Umweltpolitik der JLU Gießen.

Von 2003-2008 hatte sie eine Tätigkeit als Wissenschaftliche Assistentin an der JLU Gießen für Internationale Beziehungen und Außenpolitik inne.
Ihre Forschungsfelder: Internationale Energiepolitik, Globale Energiesicherheit, Chancen und Grenzen von regionaler und globaler Governance mit besonderem Fokus auf den Energieraum Europa, Russland und Kaspisches Becken sowie der Amerikas, Innen- und Außen-Energiepolitik der EU und Deutschlands.

Zumindest nach russischem Bekunden hatte noch bis einschließlich 2010 ein Transitvertrag Geltungskraft. Gazprom bot an, die Transitgebühren von heute 1,70 Dollar für tausend Kubikmeter pro 100 Kilometer vorab zu zahlen und mit den Schulden zu verrechnen. Darauf ging die Ukraine nicht ein, sondern forderte Transitgebühren in bis zu doppelter Höhe.

Die Frage des Transitregimes spielte im Verlauf des Streits eine immer größere Rolle, besonders in Bezug auf die Gasmengen, die benötigt werden, um die Kompressor- und Verteilerstationen zu betreiben („technisches Gas“) und den Druck in den Pipelines (line pack) aufrechtzuerhalten. Hier stritt man um die Frage, wer das Gas bereitstellen muss, bzw. darüber, ob die Kosten dafür mit den Transitgebühren bereits abgegolten seien. Die Ukraine möchte dieses Gas zusätzlich geliefert bekommen und sieht keine Grundlage für eine Verrechnung mit den Transitgebühren. Nach russischer Sicht ist dessen Lieferung mit den Transitgebühren abgedeckt.

Der Zwischenhändler

Der Gasstreit vor drei Jahren wurde gelöst, indem man mit Rosukrenergo einen Zwischenhändler einschaltete, der zentralasiatisches Gas durch das Pipelinenetz der Gazprom an die Ukraine verkaufte. Die Logik dieses äußerst intransparenten Geschäftsmodells lässt sich leicht erschließen: Es geht um Korruption, Rentenmaximierung und Machterhalt. Inzwischen ist bekannt, dass das Unternehmen je zur Hälfte der Gazprom und zwei ukrainischen Oligarchen gehört.

Gazprom profitiert von dem Konstrukt insofern, als es mit der Beteiligung am Zwischenhändler die Wertschöpfungskette in beide Richtungen erweitert und vertieft. Der Konzern verdient mit dem protektionierten Kauf zentralasiatischen Gases und dem Weiterverkauf an die Ukraine. Dieses Motiv schwächte sich ab, als Russland den zentralasiatischen Ländern signifikant höhere Preise zugestand.

Hier endet die Kette aber nicht, und das erklärt die innenpolitischen Kämpfe in der Ukraine, die eine Einigung im Gasstreit verzögerten. Direkt und über Töchter hat Gazprom Anteile an lukrativen und strategischen Geschäftssegmenten im ukrainischen Gassektor erworben, wie Speicherkapazitäten, regionale Gesellschaften und deren Netze. Geld wurde vor allem mit dem Weiterverkauf an ukrainische Großkunden und ins europäische Ausland gemacht. Offenbar konnte Rosukrenergo garantierte Gasmengen für eigene Geschäfte beziehen. Wer den Gasfluss und die Brennstoffkosten kontrolliert, bestimmt auch über Gewinne und Verluste anderer Branchen. In der von Schwerindustrie geprägten ukrainischen Wirtschaft ist der Zugang zu günstigem Gas ein zentraler Wettbewerbsvorteil.

Die neuen Verträge

Am 19. Januar 2009 sind zwei separate Langfristverträge mit einer Laufzeit bis einschließlich 2018 geschlossen worden. Im Lichte dessen, dass internationale Langfristverträge zwischen Konzernen zu den bestgehütetsten Geheimnissen der Branche gehören, ist es ungeheuerlich und wohl den innenpolitischen Machtkämpfen in der Ukraine zuzuschreiben, dass die Verträge an die Öffentlichkeit gelangt sind.

Liefervertrag

Die Ukraine zahlt im Grundsatz ab diesem Jahr europäische Preise, die nach einer bestimmten Formel jedes Quartal neu berechnet werden. Die Formel preist die Entwicklungen auf den Energiemärkten über Preisindizes von Diesel und Heizöl ein. Das ist ein wichtiger Fortschritt, denn die Vergangenheit hat gezeigt, dass eine Verständigung lediglich auf ein Preisniveau Konflikte birgt.

Für 2009 erhält die Ukraine noch Preisvergünstigungen von zwanzig Prozent. Die Preise beziffern sich damit für das erste Quartal 2009 auf 360 US-Dollar. In diesem Jahr wird die Ukraine 40 Milliarden Kubikmeter von der Gazprom einkaufen – knapp 30 Prozent weniger als in den Vorjahren.

Transitvertrag

Im Gegenzug bleiben die Transitgebühren 2009 bei der Vorzugsrate von 1,70 US-Dollar für tausend Kubikmeter pro hundert Kilometer. Ab 2010 berechnet sich der Transitpreis nach einer Formel, die an die Entwicklung des ukrainischen Importgaspreises gekoppelt ist. Wichtig ist auch hier, dass man sich auf ein Regime geeinigt hat, dass abgekoppelt von den Lieferverträgen ist und die Preisschwankungen für technisches Gas kalkuliert. Außerdem finden sich genaue Angaben darüber, wieviel Gas die Ukraine geliefert bekommt und wieviel sie über welchen Grenzpunkt exportieren muss.

Beide Verträge enthalten Revisionsklauseln, die Neuverhandlungen erlauben, falls eine der Seiten die Situation auf dem europäischen Gasmarkt als fundamental verändert bewertet. Davon sollte aber der Fortbestand des Vertragsrahmens nicht betroffen sein. Beide Seiten haben wiederum Stockholm als Schiedsgerichtsstand festgeschrieben. Der Zwischenhändler wurde aus dem Gasgeschäft ausgeklammert.

Handlungsbedarf

Zunächst ist hervorzuheben, dass die beiden Verträge eine klarere Ausgangssituation schaffen. Dennoch bleiben grundlegende Probleme ungelöst und liefern Zündstoff für neuen Streit. Damit muss die Versorgungssicherheit auf dieser Route weiterhin als gefährdet gelten.

Vertragsformeln

Jeder Gasliefervertrag – auch nach dem in Kontinentaleuropa üblichen Groningen-Modell für Langfristverträge – beruht auf eigentlich wohlgehüteten eigenen Formeln. Auch die vorliegenden Verträge enthielten ein Verbot der Weitergabe an Dritte.

Hier ist generell ein wichtiges Fazit zu ziehen: Im internationalen Gasgeschäft muss mehr Transparenz geschaffen werden. Daran besteht im Lichte der Energiesicherheit ein eminentes öffentliches Interesse. Schwer zugängliche Informationen sind in diesem Feld eine strategische und strukturelle Machtressource.

Reformdruck

Die Frage, welche Rolle der im Abkommen unberücksichtigte Zwischenhändler Rosukrenergo im ukrainischen Gassektor spielt, ist ebenfalls ungelöst. Die um 30 Prozent niedrigere Liefermenge lässt vermuten, dass die Importarrangements für das Unternehmen unangetastet bleiben.

Das Abkommen erhöht den Druck auf die Ukraine. Bisher fielen dringende Reformen – wechselnden – kurzfristigen und partikularen Gewinn- und Machtstrategien zum Opfer. Auch jetzt steht zu befürchten, dass ein kurzfristig billiger Weg aus der hohen Gasabhängigkeit – auf Gas entfällt ein Anteil von rund 45 Prozent am Primärenergieverbrauch – in die verstärkte konventionelle Nutzung der vorhandenen Kohle führt. Das kann weder klimapolitisch noch mit Blick auf die Energieversorgungssicherheit im Interesse der Europäer liegen.

Völlig offen bleibt, wie die fast bankrotte Ukraine die Gasrechnungen begleichen und Reformen stemmen soll. Ihre Wirtschaft ist von der Finanzkrise stark getroffen, die Preiserhöhungen können kaum direkt an die Verbraucher weitergegeben werden.

Licht ins Dunkel der Pipelines

Eng damit verknüpft ist das ungelöste Problem der Sanierung der Exporttrassen. Man könnte Pipeline-Überprüfungssysteme („intelligente Molche“) nutzen, um genauen Aufschluss über den Zustand der Leitungen zu bekommen. Auch hier ist mehr Transparenz relevant für die Versorgungssicherheit. Der Sanierungsbedarf ist virulent, wird immer akuter und dürfte sich ohne europäische Hilfe kaum befriedigen lassen. Woher aber sollen die Mittel kommen? Die Idee eines internationalen Konsortiums ist wieder in der Debatte. Die Frage ist erstens sensibel, weil Gazprom schon seit langem versucht, auflaufende Schulden zu nutzen, um Anteile am ukrainischen Transitnetz zu erwerben. Gleichzeitig hat auch Gazprom schon die Bildung eines solchen Konsortiums angeregt. Zweitens fehlen die rechtlichen Rahmenbedingungen, um nötiges westliches Kapital und mögliche Shareholder ins Land zu holen.

Ordnungspolitik in Not

Der Gasstreit hat die fehlende Rechtssicherheit und mangelnde Vertragskultur beider Regierungen schonungslos offengelegt. Das macht die Zusammenarbeit nicht leichter, aber im ordnungspolitischen Bereich umso dringlicher. Ein erster Schritt, auf den von Seiten der EU vehement gedrängt werden muss, ist die Installation eines Mechanismus zur Streitschlichtung im bilateralen russisch-ukrainischen Vertragsverhältnis Der Energiecharta-Vertrag bietet ein solches Verfahren an. Die Benennung einzig des Schiedsgerichtsstands in Stockholm ist nicht ausreichend, wie die diesjährigen Lieferunterbrechungen gezeigt haben. Die Parteien müssen nun beweisen, dass sie die eingegangenen vertraglichen Verpflichtungen auch international als rechtlich verbindlich ansehen.

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Der vorstehende Beitrag ist zuerst erschienen als Veröffentlichung der SWP: http://www.swp-berlin.org/common/get_document.php?asset_id=5695

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