13.01.2023 14:10:35
GELESEN
Von Hartmut Wagner
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Mark Mazower: Der Balkan |
EM – Man wird dem Buch nicht gerecht, wenn man mit dem ihm gebührenden Lob lange hinter dem Berg hält – deshalb gleich vorne weg: Mark Mazowers Geschichte des Balkans gelingt es Politik, Religion und Gesellschaft der südosteuropäischen Region in prägnanter Form darzustellen. Das Werk des Geschichts-Professors an der Universität London läßt sich wunderbar lesen und ist inhaltlich dennoch hinreichend durch Quellenangaben belegt.
Der historische Rückblick beginnt etwa im Jahr 1453 mit der Eroberung Konstantinopels durch die Osmanen. Sie machten die Stadt – die seit 1930 den Namen Istanbul trägt – zum Hauptsitz ihrer Sultane und herrschten von dort aus bis zur endgültigen Auflösung des Osmanischen Reiches 1923. Bis 1913, dem Jahr des 1. Balkan-Krieges, ist die Geschichte des Balkanraumes eng mit dem Zerfall des türkischen Sultanats verknüpft.
Das Aufkommen des Nationalismus auf dem Balkan, in den beiden Vielvölkerstaaten Österreich-Ungarn und dem Osmanischen Reich, ist eines der Schwerpunktthemen des Buches. Wenn sie die Bildung von Nationalstaaten schon nicht verhindern konnten, so wollten die europäischen Großmächte ihre Interessen zumindest anderweitig gewahrt sehen. „Sie bestimmten Grenzen, setzten bei diplomatischen Konferenzen Territorien fest und drängten durch Kanonenbootdiplomatie und ökonomischen Druck allen Beteiligten ihren Willen auf.“ Ein Urteil, dessen zeitlicher Geltungsbereich geradezu unendlich zu sein scheint.
Mazowers Anliegen ist es zu zeigen, daß es auf der Halbinsel zwischen Mittelmeer und Schwarzem Meer, Adria und Ägäis bis Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts nicht gewalttätiger zuging als in anderen Regionen. Die ideologische Basis für die ethnischen Säuberungen, wie sie besonders während der Kriege im zerfallenden Jugoslawien verübt wurden, sei durch den Import des westlichen Nationalstaats-Gedankens in den Balkanraum zu Anfang des 19. Jahrhunderts gelegt worden. Die Ursache für die jugoslawischen Bürgerkriege der 90er Jahre sei nicht in einem plötzlichen Ausbruch urzeitlichen Hasses zu finden, sondern im wohl überlegten Gewalteinsatz machthungriger Staatsführungen zur Erreichung ihrer politischen Ziele. „Die Wurzeln der Grausamkeit liegen nicht in der Balkanmentalität, sondern in der Natur eines Bürgerkrieges, der mit den technologischen Mitteln der modernen Zeit geführt wird.“
Der Historiker Mazower nimmt den Standpunkt ein, die Politik der Balkan-Länder drehe sich heute nicht mehr um territoriale Eroberungen oder nationale Ehre. Vielmehr sähen sich die jungen Staaten mit ganz ähnlichen Problemen konfrontiert wie der Rest Europas: Globalisierung, Energieversorgung, Organisierte Kriminalität etc. Den Umstand, daß an Krisenherden, wie dem Kosovo, Bosnien-Herzegowina, Mazedonien und Zypern nach wie vor internationale Truppenverbände notwendig sind, um Frieden und Ordnung aufrechtzuerhalten, scheint er dabei etwas aus dem Blick zu verlieren.
Einen Minuspunkt hat das Buch, wenn auch einen rein konzeptionellen. Es fehlt ein Sachregister – wenn auf dieses verzichtet werden soll, hätte wenigstens die Kapitelunterteilung detaillierter erfolgen müssen. Positiv hervorzuheben ist das beigefügte Kartenmaterial, die Zeittafel und die Liste mit weiterführender Literatur.
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