Der Blick der FrauenDEUTSCHLAND-POLEN

Der Blick der Frauen

Der Blick der Frauen

Sie leben an derselben Grenze und haben im Sozialismus die gleichen Erfahrungen gemacht, nur auf unterschiedlichen Seiten. Heute begegnen sie einander auf Märkten und in Geschäften, doch sie wissen kaum etwas voneinander. Dabei gibt es eine Menge, das die deutschen und polnischen Frauen entlang von Oder und Neiße verbindet

Von Melanie Longerich und Monika Piotrowska

Zwei Generationen Jura: Dominik und seine Mutter Blaženka.  
Karolina Machowska bedient deutsche Kundinnen in ihrem polnischen Lebensmittelladen in Uckermünde.
(Foto: Longerich)
 

E in halbes Pfund Schinken und Konfekt, und noch mal so viel gelben Käse. Karolina Machowska verpackt alles in einer großen Plastiktüte und reicht sie einer Kundin über die Ladentheke. Es ist halb zehn Uhr morgens und die 25-jährige BWL-Studentin aus Sczczecin (Stettin) hat bereits die Fahrt zum Großmarkt in Polen und die 20 Kilometer lange Fahrt über die Grenze in ihr eigenes Geschäft im mecklenburgischen Städtchen Ueckermünde hinter sich. „Ich wollte immer meinen eigenen Laden haben und finanziell unabhängig sein“, sagt sie. Vor zwei Jahren eröffnete sie den kleinen Lebensmittelladen mit polnischen Produkten. Sie wohnt und studiert in Polen, arbeitet lieber in Deutschland: „Heute ist doch alles möglich“, sagt sie.

Das dachte Christa Zmudzinski auch einmal. „Manchmal fällt mir schon die Decke auf den Kopf“, erzählt die 61-Jährige und blickt im brandenburgischen Guben von ihrem Balkon aufs Feld. Da haben früher Häuser gestanden: „Alle weg“, sagt sie. Genau wie ihre Familie: Ihr Mann fand Arbeit im Schwarzwald, drei der vier Kinder leben heute in ganz Deutschland verteilt. Da denkt Christa Zmudzinski lieber an alte Zeiten. 1965 war die Facharbeiterin von Thüringen an die Neiße gezogen, denn das neue Chemiefaserwerk hatte um gut ausgebildete Menschen aus der ganzen Republik geworben. Um dem Schichtsystem zu entkommen, kellnerte die bald vierfache Mutter ab den 70er Jahren in verschiedenen Gaststätten der Handelsorganisation, bis sie selbst die Leitung eines Lokals übernahm.

Wir hatten keine Zeit uns vor der Zukunft zu fürchten

Nach der Wende war damit schnell Schluss. Viele der Gäste des Lokals wurden arbeitslos, auch die Chefin selbst. Damals habe sie oft gedacht, dass das Leben nun keinen Sinn mehr mache, erzählt Christa Zmudzinski. „Doch ich wollte meinen Kindern immer Vorbild sein.“ Diese Einstellung hat ihr schließlich aus der Lethargie der Wendezeit geholfen, wie vielen anderen, vor allem Frauen, auch: „Wir hatten keine Zeit, uns vor der Zukunft zu fürchten. Wir funktionierten ohne nachzudenken. Für die Familie.“ Ein Satz, der immer wieder fällt – auf beiden Seiten der Grenze.

Vom Wegbrechen der Arbeit waren dort zuerst die Frauen betroffen. Dennoch, ist Hans Joachim Maaz überzeugt, hätten Frauen den Verlust des Arbeitsplatzes deutlich besser verkraftet als ihre Männer. Der Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie am Diakoniekrankenhaus in Halle hatte 1990 mit seinem Buch „Der Gefühlsstau – ein Psychogramm der DDR“ für Aufsehen gesorgt. Da arbeitete er noch als Psychologe in Frankfurt (Oder). Damals seien viele Frauen zu ihm kommen, weil sie sich schuldig fühlten, nie Zeit für die Kinder zu haben: „Sie haben gewusst, dass die Verhältnisse in den Krippen nicht optimal waren“, sagt er. Als Arbeitslose hätten sie dann vieles nachholen können. Im Gegensatz zu den Männern, die diese Möglichkeit nie gehabt hätten.

Jede fünfte ist heute arbeitslos

Auf den Feldern und dunklen Kiefernwäldern, die sich abwechselnd am Ufer von Oder und Neiße entlang ziehen, ist der Lärm der Großstädte fern. „Keimzelle der europäischen Einigung“ sollte sie mal werden, die deutsch-polnische Grenzregion, sagt der Soziologe Stanislaw Lisiecki von der Adam-Mickiewicz-Universität in Poznan (Posen), der seit vielen Jahren in der Gegend forscht. Auch wenn heute darüber niemand mehr spreche – „die Grenze bleibt Barometer für die gegenseitige Wahrnehmung“, ist Lisiecki überzeugt. Und in diesem Prozess könnten gerade Frauen eine wichtige Rolle spielen.

Auch wenn, wie Maaz beobachtet, die Frauen im Vergleich zu ihren Männern den neuen Zeiten besser begegnen, bleibt die Lage für sie kritisch. Im deutschen Grenzgebiet ist laut Arbeitsmarktstatistik jeder Fünfte arbeitslos. Nicht viel besser sieht es auf der polnischen Seite aus. Auf beiden Seiten sind Frauen wie Männer etwa gleich betroffen – zumindest offiziell. Doch die Dunkelziffer der Frauen, die sich gar nicht erst arbeitslos melden, sei groß, vermutet Christine Angermann, Beauftragte für Chancengleichheit bei der Cottbuser Arbeitsagentur.

Während in Deutschland eine Arbeitslose im ersten Jahr noch monatlich 80 Prozent ihres vormaligen Bruttoeinkommens erhält, sind es in Polen maximal 100% Zloty (110 Euro), oft ist schon nach einem halben Jahr Schluss. Da wieder herauszukommen, bleibt schwierig: Für Umschulungen und Qualifizierungsprogramme gibt Polen nach einer Untersuchung aus dem Jahr 2005 etwa 41 Euro pro Kopf und Jahr aus – der EU-Durchschnitt liegt bei 6.000 Euro.

Staatliche „Muttipolitik“ in den 70er Jahren

Dass Frauen beiderseits der deutsch-polnischen Grenze die schwierigen Wandlungsprozesse häufig besser bewältigen als ihre Männer, hängt für die Historikerin Helga Schultz mit den Erfahrungen im Sozialismus zusammen: „Sowohl in der DDR als auch in der Volksrepublik Polen war das Bild der Mutter von Fürsorge für die Familie und Leistung im Beruf bestimmt“, sagt sie. Doch die Verankerung der Gleichberechtigung als Staatsziel in der DDR-Verfassung bewirkte keineswegs eine Abkehr vom traditionellen Rollenbild. Davon ist Marina Grasse überzeugt: „Daran ist nie gerüttelt worden“, kritisiert sie.

Der Staat habe wegen des anfänglichen Mangels an Arbeitskräften nur nicht auf Frauen verzichten können, gerade im Grenzgebiet. Deshalb wurde auch in den 70er Jahren die „Muttipolitik“ eingeführt, wie der Volksmund lakonisch die Sonderregelungen nannte. Jeden Monat gab es für Mütter einen bezahlten Haushaltstag, zusätzlich Gleitarbeitszeit. „So musste die Frau die Doppelbelastung alleine tragen. Ihr Gatte wurde nicht in die Pflicht genommen“, sagt Marina Grasse.

Die Töchtergeneration distanziert sich von der Opferrolle der Frau

Auch in Polen packten die Frauen für den Sozialismus mit an. Doch mehr aus finanziellen Gründen: Die Gehälter waren damals so niedrig, dass eines kaum reichte, um die Familie durchzubringen. Am traditionellen Rollenbild änderte das bis heute wenig. Die Gründe dafür liegen tief in der Geschichte, in der Zeit der polnischen Teilungen. Die Vereinigung von Freiheitsliebe mit tiefer Religiosität ließ im 18. Jahrhundert den Mythos der „Matka-Polka“ (Mutter Polens) entstehen. Sie steht symbolisch für Kraft und Aufopferung gegenüber der Familie. Die Männer waren im Krieg, die Frauen mussten Haus und Hof in Eigenregie bewirtschaften.

Auch wenn die Töchtergeneration sich heute längst von der Opferrolle der Frau distanziere, kämpft sie mit den Nachwehen dieses Rollenverständnisses: „Die Frau soll die Hüterin von Heim und Herd bleiben, sie soll den Kindern eine Mutter, dem Gatten eine fürsorgliche Ehefrau sein“, beobachtet die 30-jährige Alexandra Kos aus Szczecin (Stettin). Die Doktorandin der Philosophie ist allein erziehende Mutter eines fünfjährigen Sohnes: „Frauenpolitische Themen haben in der Provinz keine Chance“, ist Kos überzeugt. Eine Teilschuld gibt sie den Frauen selbst: „Sich mit gesellschaftspolitischen Themen zu beschäftigen, ist für viele Zeitverschwendung.“

Was die Zukunft der Frauen in der Region angeht, bleibt Monika Vandreier, Leiterin des Frauenzentrums Cottbus, dennoch optimistisch. „Es wird sich zwangsläufig etwas ändern müssen“, ist sie überzeugt. Schon jetzt gehen der Grenzregion – egal ob in Deutschland oder in Polen – die Fachkräfte aus. Frauen werden bald sehr gefragt sein für Führungspositionen in der Wirtschaft, Politik und Verwaltung. Nicht anders in Polen. Karolina Machowska vertraut dennoch lieber auf ihre eigenen Kräfte – und ist damit ein gutes Beispiel für viele Frauen an der deutsch-polnischen Grenze: „Wenn du gut bist, ist es völlig egal, wo du bist.“

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Die Autorinnen sind Korrespondentinnen von n-ost. Das Netzwerk besteht aus über 50 Journalisten in ganz Osteuropa und berichtet regelmäßig für deutschsprachige Medien aus erster Hand zu allen Themenbereichen. Ziel von n-ost ist es, die Wahrnehmung der Länder Mittel- und Osteuropas in der deutschsprachigen Öffentlichkeit zu verbessern. Weitere Informationen unter www.n-ost.de.

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