09.08.2023 13:11:56
GEORGIEN
Von Andrea Jeska
Die Brücke über den Fluß Inguri, der Abchasien und Georgien trennt, wurde 1944 bis 1948 von deutschen Kriegsgefangenen errichtet. (Foto: Andrea Strunk) |
EM – Ali Baba hat mehr als vierzig Räuber. Wenn ich will, sagt er, würden Hunderte von Männern meinem Befehl folgen. Zur Unterstützung der Aussage sticht er sein Messer in die Schale einer Wassermelone. Als Ali Baba das sagt, hat er seit vier Stunden getrunken – Wodka, Bier, Brause, Wodka, Bier... Mit jedem Glas werden die Geschichten länger, die Wahrheiten kürzer. So manches sagt sich dann leicht und könnte ja auch stimmen, in dieser kaukasischen Einöde, in der es Gesetze gibt, die nur Männer begreifen.
Über Ali Baba erzählt man sich die Geschichte, wie er in Afghanistan kämpfte und die Nerven hatte, statt auf seinem Posten zu stehen, zu den Weibern zu gehen. Aus Afghanistan brachte er Narben im Gesicht mit. Von Splittern, nicht von den Frauen. Er sagt, dreißig Kilometer vor Kabul habe er in die Hölle geschaut. Seitdem fürchte er sich vor nichts. Auch das muß nicht wahr sein.
Richtig ist, daß kaum einer die Brücke über den Inguri so unbeschwert überquert wie er. Mit dem wiegenden Schritt der Selbstsicherheit. Lässig schüttelt er die Hände der Georgier, Russen, Abchasen. Ali Baba, sagen die, wie geht's, was machen die Geschäfte? Dann lachen sie. Männerlachen ist das. Wissend, ein wenig zynisch, rauh von Nikotin und zuviel schäbiger Wirklichkeit.
Tausend Schritte sind es über den Fluß Inguri. Mal mehr, mal weniger. Die Alten mit ihren schweren Handkarren machen kleine Schritte. Die russischen Soldaten schreiten weit ausholend. Die Frauen in der schwarzen Witwenkleidung brauchen am längsten. Von Georgien kommend ist ihr Gang zögernd, als fürchteten sie sich. Von Abchasien kommend, drehen sie sich wieder und wieder nach den grünen Bergen um, bleiben am Brückengeländer stehen und schicken Seufzer in das klare Wasser.
Tausend Schritte sind es, die Land von Land, Ufer von Ufer, Bruder von Bruder trennen, Familien auseinanderreißen. Östlich erhebt sich der große Kaukasus und westlich liegt in der Ferne das Schwarze Meer. Dazwischen ist der Inguri, ist niemandes Land, üppig von Unberührtheit, minengespickt. Kühe und Pferde grasen im satten Weidenmorast. Wenn einer von der „Brücke über den Inguri“ spricht, dann meint er diese, die das Trennende verbindet.
Zugdidi ist das Ende Georgiens, eine Kleinstadt wie aus der Dritten Welt. Ein Basar auf matschigem Boden, heruntergekommene Häuser, schäbige Flüchtlingsbaracken. Der schale Geruch der Hoffnungslosigkeit mischt sich mit dem beißenden Rauch der Plastikreste, die jemand verbrennt, um sich zu wärmen. Junge Männer in schwarzen Hosen, mit schwarzen Sonnenbrillen und billigen schwarzen Schuhen lungern an jeder Ecke herum, wollen wie Verbrecher aussehen und sind doch nur drittklassige Waffenschieber. Dort in Zugdidi hat Ali Baba seine Räuber rekrutiert. Dort, wo jeder Kleinkriminelle behauptet, er sei ein Partisan. Weil es so glorreich ist. Und weil ohnehin jeder in Georgien und Abchasien glauben möchte, der Streit um Abchasien werde auf beiden Seiten von unerschrockenen jungen Männern ausgetragen, die sich bei Nacht in Feindesland wagen. Für Ehre und Vaterland zu kämpfen, das klingt besser als zu sagen, daß man grenzenlose Wut über sein schäbiges kleines Leben empfindet. „Eines Tages holen wir uns zurück, was uns gehört“, sagt Ali Baba nach einem Trinkgelage gerne zu seinen Räubern.
In Zugdidi heißt das Bauwerk über den Inguri „die Brücke der Deutschen“, weil sie von deutschen Kriegsgefangenen erbaut wurde. Daß sie noch immer in gutem Zustand ist, verdankt sie diesem Umstand. „Deutsche Wertarbeit“, urteilt man Zugdidi mit anerkennendem Schnalzen. 870 Meter lang. In Zementplatten gegossenes Heimweh. Alle 65 Meter forderte der Bau einen Toten, insgesamt 13, die nun Staub in einem Massengrab sind. „Hier liegen deutsche Kriegsgefangene, die 1944 bis 1948 die Brücke über den Inguri bauten“, steht auf einem Stein unter einem schlichten Kreuz. Keine Namen, und auch sonst keine Spur davon, wer sein Leben mit Blick auf diese grünen, so sinnlich grünen Berge von Abchasien verlor.
Die Legende sagt, irgendwo an der Ostküste des Schwarzen Meeres landete Jason mit seinen Argonauten und raubte dem König der Kolchis das Goldene Vlies und die Tochter zugleich. Legende ist auch die Behauptung, jene Abchasen, die dem Land den Namen gaben und die Georgier, in deren Geschichtsschreibung Abchasien ein Teil der georgischen Kolchis war, lebten hier über Jahrhunderte friedlich zusammen. Man lebte wohl Haus an Haus, bestellte Pflug an Pflug die Felder. Zitronenhain grenzte an Zitronenhain. Wenn die Nachbarin krank war, brachte man zum Abend eine Suppe für die Familie, ob nun abchasisch oder georgisch. Am Abend spielten die alten Männer an der Strandpromenade von Suchumi eine Runde Schach. Georgier mit Abchasen. Aber die Landessprache war georgisch, nicht Apsny, es gab schöne Schulen für Georgier, weniger schöne für die Abchasen. Es gab gute Schulbücher für die Georgier und weniger gute für die Abchasen. So ging es. Ob Arbeitsplatz oder Krankenhausbett, ob Mannschaftsaufstellung oder Stipendium. Die Georgier waren besser dran. Abchasiens Kultur war georgisch. Abchasiens Geschichte war georgisch. Nicht, daß es im ländlichen Alltag einen Unterschied gemacht hätte. Ernte war Ernte, Arbeit war Arbeit. Nur die Studenten in Suchumi, die Intellektuellen saßen beisammen und sprachen über die Wurzeln, die keinen Boden mehr haben. Über den Verlust ihrer Traditionen und ihrer Sprache, das Verschwinden der kollektiven Erinnerung. Über die georgische Großmäuligkeit, den unerträglichen Nationalismus und die kleinen Schikanen, die Nadelstiche waren, als es kein Wehren gab. Als sich aber der Weg zur Freiheit plötzlich öffnete, erschienen sie wie Messerstiche.
Daß Abchasiens David den Krieg (1992-1994) gegen Georgiens Goliath gewann, verdanken die Abchasen der russischen Unterstützung. Später, als nach zwei Jahren die Waffen schwiegen und beide Seiten wehklagend und zornig die Söhne zählten, die sie verloren hatten, sagte man, der Krieg zwischen Georgiern und Abchasen sei ein ethnischer Konflikt gewesen. Da war es leicht, die heißeste aller Flammen, den Völkerhaß, als Ursache zu sehen. Mütter und Väter, untröstlich in ihrem Schmerz, nickten dazu und waren bereit, die andere Nationalität zu verachten. Fast eine Viertel Million Georgier flohen aus Abchasien. Manche über das Meer. Manche über die Berge. Die meisten über den Inguri. So wurde die Brücke Requisit eines weiteren Krieges.
Wer heute von Zugdidi aus über die Brücke geht, muß drei Barrikaden überwinden, bewacht von georgischen, russischen und schließlich UN-Truppen. Gleichgültig hocken die georgischen Grenzer in ihrem Wellblechkabuff. Nur Klageweiber, Alte und Schmuggler gehen über diese Brücke und werden je nach Laune von den Zöllnern belangt oder in Ruhe gelassen. Belangt, das heißt, in Lari zahlen. Ein Grund findet sich immer. Bei den Schmugglern sowieso, die reichen unaufgefordert die Scheine weiter. Einmal die Woche rollen von hüben und drüben gepanzerte UN-Fahrzeuge der Marke Toyota über die Brücke und machen im Niemandsland Halt. Bombendrohungen sind häufig, wirkliche Bomben selten. Entführungen bringen mehr Geld. Geschäftsleute und Mitarbeiter der Vereinten Nationen am meisten, sagt Ali Baba, und der muß das wissen.
Kriegerisch, gebieterisch sperren die Russen den Weg. Ihre Anwesenheit verstößt gegen internationales Recht, eigentlich haben sie auf der Brücke nichts zu suchen, sie demonstrieren lediglich was ohnehin alle wissen: Abchasien ist schon Rußland. Den Zutritt zur Brücke verwehren, nein, das käme den Russen nicht in den Sinn. Sogar deutsche Limousinen, noch mit Kölner, Wuppertaler, Hamburger Kennzeichen, mit dampfenden Reifen von der langen Fahrt durch die Türkei bis nach Abchasien, heiße Schmuggelware, selbst mit diesen Wagen kommt man über die Grenze. Kostet nur, sagt Ali Baba. Je nach Zustand.
In das Geschäft mit den Wagen mischt Ali Baba sich nicht ein. Sein Ding sind Waffen und Menschen. Erste im Privatinteresse. Von irgendetwas muß der Mensch ja leben. Mit Menschen beschäftigt er sich im Auftrag der georgischen Regierung. Solche, die nach Abchasien entführt wurden. Oder georgische Partisanen, die in abchasischen Gefängnissen landeten. Oder Gefangene aus dem Bürgerkrieg. Tot oder lebendig holt er die raus, lieber natürlich lebendig, sagt Ali Baba.
Die Uniformen der abchasischen Grenzer sind verschlissen. Am Schild, auf dem „Republic of Abchasia“ zu lesen ist, endet die freie Welt und Rußland beginnt dort noch lange nicht. Abchasien ist ein Gebilde, das es völkerrechtlich nicht gibt. Am letzten Schlagbaum vor Abchasien schiebt ein kleiner Mongole Wache, dem sein Blauhelm und die Stiefel zu groß sind. Ali Baba verteilt Zigaretten und Scheine, verspricht neue Geschäfte, klopft Schultern. „Fingerspitzengefühl, Kontakte, Zeit“, damit, meint Ali Baba, ginge alles.
Manchmal geht an der Brücke der Deutschen nichts mehr. Wenn zum Beispiel die Mobiltelefone nicht funktionieren und übergeordnete Stellen – welche das sind, wissen nur Männer wie Ali Baba – nicht zu erreichen sind. Manchmal reicht es auch, wenn die Zigarettenmarke die falsche ist. Meist sind die Gerüchte schuld, die sich aus nichtigen Gründen aufbauen und im Laufe eines Tages zu überdimensionaler Größe blähen, bis sie zerplatzen. Anschläge, Überfälle, durchgeschnittene Kehlen. Manchmal reicht ein falscher Witz wie der, den Ali Baba über den Soldaten macht, der sich am Schlagbaum herumdrückt. Dem fehlt das linke Bein, seine Uniform ist verdreckt, die Augen sind vom Alkohol gerötet. Wo denn sein Bein liege, will Ali Baba von dem Mann wissen. In Afghanistan? Er lacht dröhnend und verstummt erst, als der Krüppel auf ein Uferstück gleich neben der Brücke über den Inguri weist und ausspuckt. „Verflucht seien die georgischen Bastarde.“ Da helfen alle Anrufe bei Kontaktmännern nicht mehr. Der abchasische Schlagbaum bleibt geschlossen. Ali Baba macht sich müde auf den Rückweg. Tausend Schritte sind es über den Inguri. Mal mehr, mal weniger.
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