13.01.2023 14:10:35
GELESEN
Von Gunter Deuber
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„Die Deutschen im Russischen Reich, in der Sowjetunion und ihren Nachfolgestaaten“ von Hans Hecker |
EM – Hans Heckers Sachbuch bietet eine facettenreiche Darstellung der Situation der deutschen Minderheiten im Russischen Reich und seinen Nachfolgestaaten. Es schildert den Weg der Rußlanddeutschen als zuerst unfreiwillige „Eurasier“ vom europäischen Zarenreich bis Zentralasien. Das Buch spannt einen chronologischen Bogen von den Anfängen der freiwilligen deutschen Ansiedlung im europäischen Teil des Zarenreichs, über die Verwerfungen der Revolutions- und Sowjetzeit, die Ursprünge der deutschen Siedlungsstruktur in Zentralasien bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion und der Situation der Rußlanddeutschen in den 90er Jahren.
Der Autor nimmt den Leser mit auf eine kurzweilige Reise durch die Geschichte der deutschen Minderheiten im Spannungsfeld der politischen deutsch-russischen Großwetterlage, die bestimmt wurde von den eigennützigen Interessen und ideologischen Positionen der wechselnden Machthaber. Es werden die variierenden Konstellationen der deutsch-russischen Beziehungen bezüglich innerstaatlicher Gesetzgebung, Minderheitenschutz sowie Territorial- und Kulturautonomie aufgezeigt. Abgerundet wird die Darstellung durch Tabellen der Volkszählungen von 1897 bis 1990. Zudem liefert der Autor historische Hintergrunddokumente, vom Anwerbungsmanifest von Kaiserin Katharina der Großen, über die sowjetischen Umsiedlungsdekrete bis zum Vertrag über die Wiederherstellung der Staatlichkeit und der Rechte der Rußlanddeutschen aus dem Jahre 1992.
Hecker legt zuerst die Hintergründe der freiwilligen Ansiedlung der Deutschen im Baltikum und im europäischen Teil des Russischen Reichs seit dem 16. und 17. Jahrhundert dar. Die privilegierte Rechtsposition der Einwanderer, trotz harter Startbedingungen, ist das prägende Element dieser Zeit. Anschließend zeigt der Autor, welche Entwicklungen zum schleichenden Verlust der Privilegien der deutschen Minderheiten führten und schließlich in der Verwaltungsreform von 1871 mündeten. Durch die Oktoberrevolution von 1917 und die Gründung der Wolgarepublik 1924 wurden die Rechte der Deutschen teilweise wiederhergestellt. Es folgt eine detaillierte Schilderung der Verschärfung der Situation der Rußlanddeutschen seit Mitte der 1930er Jahre, die ihren Höhepunkt ab 1941 in der Auflösung der Wolgarepublik, in der harten Zeit der Deportation und der Zeit der Trudarmija (Arbeitsarmee) fand.
Die den Deutschen damals zugewiesenen neuen Siedlungsgebiete lagen größtenteils in Zentralasien und Sibirien. Volkszählungen zeigen, wie sich durch die völkerrechtswidrige Bevölkerungspolitik Stalins gezwungenermaßen der Schwerpunkt der deutschen Siedlungen nach Zentralasien, besonders nach Kasachstan verschob. Im Zusammenspiel mit der Zwangsansiedlung weiterer Bevölkerungsgruppen wurde damit die Basis für die multiethnische Bevölkerungsstruktur Zentralasiens geschaffen. Im Jahre 1926 lebten nur rund 86.500, bzw. 0,7 Prozent, der insgesamt 1,2 Millionen Rußlanddeutschen im Kaukasus und Zentralasien. Im Jahre 1959 waren es dann rund 750.000, circa 45 Prozent, der insgesamt 1,6 Millionen Rußlanddeutschen. Alleine in Kasachstan lebten damals rund 659.000 Deutsche, was eine Steigerung gegenüber 1926 um rund das Zehnfache bedeutete. Erst die Zwangsumsiedlungen unter Stalin brachten die Deutschen in beträchtlichem Umfang in das Gebiet der heute unabhängigen fünf zentralasiatischen GUS-Republiken Kasachstan, Kirgisistan, Usbekistan, Tadschikistan und Turkmenistan. Durch Migrationsbewegungen stieg die Zahl der Deutschen in den zentralasiatischen Sowjetrepubliken bis 1970 nochmals an, besonders in Kasachstan und Kirgisistan. 1959 lebten rund 700.000 Deutsche in den beiden Sowjetrepubliken, im Jahr1970 waren es schon rund 947.000.
Das vorliegende Buch skizziert auch, wie der deutschen Minderheit in Zentralasien nach dem Tod Stalins in den 1950er und 1960er Jahren – besonders nach der politischen Rehabilitation der Rußlanddeutschen 1964 – wieder mehr Rechte eingeräumt wurden. Trotz der Diskrepanzen zwischen de jure und de facto gewährter Kulturautonomie verbesserte sich die Situation langsam aber kontinuierlich. Nach Auflösung der Trudarmija, der Arbeitslager und der Sondersiedlungen aus der Deportationszeit verbesserte sich auch die ökonomische Lage der Deutschen in Zentralasien. In den 1960er Jahren wurden den deutschsprachigen Minderheiten wieder eigene Medien zugestanden. In diese Zeit datiert beispielsweise die Gründung des deutschen Rundfunksenders „Radio Alma-Ata“ oder der Deutschen Allgemeinen Zeitung (DAZ) in Kasachstan.
Schließlich skizziert Hecker die Wende in der Politik Moskaus gegenüber den deutschen Minderheiten, die sich im Zuge der Perestroika vollzog. Hecker widmet den einzelnen europäischen Regionen, dem Kaukasus und der zentralasiatischen Region jeweils separate Kapitel. Es wird deutlich, wie die Situation der Deutschen in Zentralasien in der jüngeren Vergangenheit durch postsowjetische Transformationsprobleme und nationalstaatlichen Nachholbedarf geprägt war. Positiv hervorgehoben wird Kasachstan, dessen multiethnisches, eurasisches Bekenntnis zur offiziellen Anerkennung der deutschen Minderheit führte. Der kasachische Präsident Nursultan Nazarbajew sähe die Deutschen gerne weiter als tragendes Element seines Landes, so Hecker.
Damit wirft der Autor die Frage nach der zukünftigen Rolle der deutschen Minderheiten in Zentralasien auf. Wie sich die deutschen Minderheiten in Zukunft positionieren werden, wird maßgeblich von der politischen und wirtschaftlichen Stabilität der Region abhängen. Besonders Kasachstan befindet sich im Gegensatz zu anderen zentralasiatischen Staaten diesbezüglich auf einem positiven Pfad. Für die zukünftige Entwicklung wird entscheidend sein, wie sich die Abwanderung gestaltet, ob sich ein stabiles ethnisches, soziales und kulturelles Umfeld stabilisieren kann. Der Verbleib der deutschen Minderheiten in Zentralasien würde eine Stärkung des eurasischen Gedankens und der eurasischen Bindungen mit sich bringen. Insgesamt liefert Hans Hecker mit dem vorliegenden Buch einen interessanten, nicht zu detaillierten, aber auch nicht zu oberflächlichen Einblick in die Geschichte der Deutschen im Russischen Reich, der Sowjetunion und deren Nachfolgestaaten. Ergänzt wird der Geschichtsband nicht nur durch historische Fotographien, sondern auch durch zahlreiche demographische Daten, historische Karten, Kopien von Originaldokumenten und einer detaillierten Zeittafel.
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Der Autor berichtet auch regelmäßig für die Deutsche Allgemeine Zeitung in Kasachstan, das Bulgarische Wirtschaftsblatt und den in Sofia erscheinenden Südosteuropäischen Report.
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