Die EU hat Kroatien die Tür gewiesen. Zu Recht?EU-OSTERWEITERUNG

Die EU hat Kroatien die Tür gewiesen. Zu Recht?

Hintergründe zu den gescheiterten EU-Beitrittsverhandlungen

Von Wolf Oschlies

Am 17. März 2005 sollte Kroatien (56.542 km 2, 4,4 Mio. Einwohner) Beitrittsverhandlungen mit der EU beginnen, bereits am Tag zuvor hat Brüssel diese „ohne neuen Termin vertagt“. Kroatiens Premier Ivo Sanader hatte einen noch schlimmeren Ausgang erwartet: Es mache ihm doch „Vergnügen“, daß nur der Beginn der Verhandlungen vertagt wurde, Kroatien aber nicht in die Nachhut jener Länder zurückgestuft wurde, „deren Beitrittsperspektive noch völlig offen ist“. „Dieser Gefahr sind wir entgangen“, bekundete der Regierungschef zufrieden.

Im Grunde konnte Sanader sagen, was er wollte, die Kroaten interessierte das Brüsseler Votum erstaunlich wenig. Wie eine Blitzumfrage der Agentur „Puls“ vom 16. März ergab, waren nur 35 Prozent „enttäuscht“, 31 Prozent „gleichgültig“ und 26 Prozent gar „glücklich“. Wer an dem Debakel schuld sei, fragte „Puls“ weiter. Die Antworten: Kroatien selber – 27 Prozent, die EU – 24 Prozent, das Haager Tribunal – 19 Prozent. Die Kroaten fühlten sich einmal mehr in einer Opferrolle: Die EU übe „ungerechtfertigt viel Druck auf Kroatien aus“, meinten stolze 60 Prozent. Die Hälfte der Kroaten sind der Ansicht, daß die jüngste Absage der EU keinen negativen Einfluß auf ihren Lebensstandard haben werde, neun Prozent denken sogar, dieser werde noch steigen. Unter solchen Umständen befürworteten nur noch 47 Prozent einen EU-Beitritt Kroatiens, 43 Prozent waren dagegen und 10 Prozent hatten keine Meinung dazu.

Kroatiens Weg zur EU

Es gab in Kroatien einmal weit höhere Zustimmungsraten für einen EU-Beitritt. Deren rapider Rückgang hat etwas mit der jüngsten Geschichte des Landes zu tun. Anfang 1992 erkannten die wichtigsten EU-Staaten, von Deutschland in nahezu erpresserischer Weise gedrängt, Kroatien diplomatisch an, obwohl dieses noch kurz zuvor von der „Badinter-Kommission“ ausdrücklich als nicht anerkennungswürdig bezeichnet worden war. Das war noch milde ausgedrückt, denn bereits am 25. März 1991 hatten die Kriegsherren Serbiens und Kroatiens, Slobodan Milosevic und Franjo Tudjman, in Titos Jagdschloß Karadjordjevo die Aufteilung Bosniens unter ihren Ländern beschlossen – was bekanntlich zu dem vierjährigen Krieg in Bosnien-Herzegowina führte. An diesem Krieg hat sich Kroatien von Anfang an mit eigenen regulären Truppen beteiligt und die Kroaten in der Herzegowina mit geheimen Zahlungen von rund einer Million Dollar täglich zur Kriegsführung befähigt. Diese Tatsachen hat Zagreb jedoch stets vor der EU bestritten. Der zungenfertigste Lügner war damals Tudjmans rechte Hand Ivo Sanader, seit 2003 Regierungschef Kroatiens.

Brüssel hat Kroatien, solange dieses von Tudjman diktatorisch regiert wurde, stets mißtraut, ihm aber auch manche Tür offen gehalten: 1992 nahm die EU diplomatische Beziehungen zu Kroatien auf, 1997 formulierte sie politische und ökonomische Bedingungen für Kroatien, die dessen Annäherung an die Union beschleunigen sollten. 1999 wurde Kroatien schließlich in den „Stabilisierungs- und Assoziierungsprozeß“ (SAP) für osteuropäische Länder aufgenommen. Im Mai 2000 urteilte die EU positiv über Kroatiens Reife für Beitrittsverhandlungen und im Oktober wurde mit ihm ein „Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen“ (SAA) unterzeichnet.

Am 21. Februar 2003 beantragte Kroatien offiziell seine EU-Mitgliedschaft. Das war ein großer Erfolg für die damalige sozialdemokratische Regierung unter Ivica Racan, dem aber so viele ökonomische Fehlschläge gegenüberstanden, daß im Herbst dieses Jahres die alte Tudjman-Bewegung „Kroatische Demokratische Union“ (HDZ) an die Macht zurückkehrte. Anfang 2000 war sie erdrutschartig abgewählt worden, wurde danach aber unter ihrem neuen Führer Ivo Sanader – angeblich – von Grund auf „reformiert“.

Die Beitrittsproblematik brachte es an den Tag, daß Kroatien allgemein und die HDZ im besonderen nicht viel von der EU hielten. Ende 2004 äußerten 56 Prozent der Befragten in den 25 EU-Staaten und den vier „Kandidatenländern“ in Umfragen eine positive Meinung zur EU – in Kroatien waren es nur 30 Prozent. Und im Februar 2005 erklärte HDZ-Veteran Djuro Perica, daß 90 Prozent der Mitglieder der kroatischen Regierungspartei gegen eine Aufnahme von Beitrittsverhandlungen seien.

Die im Grunde EU-feindliche Stimmung in Kroatien war in Brüssel natürlich bekannt, wurde aber unter den Teppich gekehrt. Ende 2001 billigte die EU-Kommission eine fünfjährige „Strategie“ für Kroatien, die diesem enorme Finanzmittel aus dem Programm „Community Assistance to Reconstruction, Development and Stability in the Balkans“ (CARDS) sicherte. Im Juni 2004 bekam Kroatien dann einen positiven „Avis“, d.h. ein Gesamturteil der EU zur politischen, ökonomischen etc. Entwicklung, dem überraschend schnell der Beschluß folgte, am 17. März 2005 mit Beitrittsverhandlungen zu beginnen. Dazu kam es, wie erwähnt, nicht, und seither fragen sich die Kroaten, was ihre nächsten Perspektiven sind: Werden sie in einen „Topf“ mit Serbien-Montenegro, Makedonien etc. geworfen, also irgendwann in den nächsten fünf oder sieben Jahren eventuell zum Beitritt anstehen? Oder wird die EU sie wie die Türkei behandeln, der zwar konkrete Zusagen, aber keine festen Ter­mine gegeben wurden, weil im Grunde kaum jemand sie in der EU haben möchte?

Der Fall Ante Gotovina

Die Verhandlungen mit Kroatien scheiterten an der Nichtauslieferung des ehemaligen Generals Ante Gotovina – den die Sanader-Regierung leicht hätte ausliefern können, da sie mehrfach in direktem Kontakt zu dem flüchtigen Gotovina gestanden hatte. Wollte sie nicht, oder fürchtete sie sich, wie die sozialdemokratische Vorgänger-Regierung, den Kriegsverbrecher Gotovina festzusetzen? Sollte oder konnte sie rigoroser durchgreifen als die internationale Gemeinschaft, die angeblich seit langen Jahren nach den serbischen Kriegsverbrechern Ratko Mladic und Radovan Karadzic fahndet, sie in Wahrheit aber nicht fangen will. Ist es für die EU ein Zeichen von Souveränität, wenn sie sich von der Chefanklägerin des Haager Kriegsverbrechertribunals, Carla del Ponte, diktieren läßt, welchen Neuling sie unter welchen Bedingungen aufnehmen darf? Und was macht Brüssel, wenn Frau del Ponte in ihrem nächsten Bericht im Juni 2005 zu dem Schluß kommt, daß Kroatien jetzt doch „vollauf“ mit dem Kriegsverbrechertribunal kooperiere?

Im Grunde ist es eine Groteske, die „Europareife“ eines Balkanlandes daran zu messen, ob dieses einen mutmaßlichen Kriegsverbrecher fängt und an das Haager Tribunal ausliefert - auch wenn es so explizit nicht gesagt wurde, da man stets nur von der „unzureichenden Zusammenarbeit Kroatiens mit Den Haag“ redete. In der verfahrenen Sache selber ändert sich nichts: Es darf nicht um einen oder mehrere Kriegsverbrecher gehen, weil der ganze Bürgerkrieg im ehemaligen Jugoslawien ein Verbrechen war – ein Verbrechen, das Milosevic und Tudjman, beide langjährige Spitzenfunktionäre in Titos „Bund der Kommunisten Jugoslawiens“ (SKJ), bewußt geplant und begangen haben. Warum sie es taten, bleibt letztlich ihr Geheimnis. Alle Erklärungsversuche beginnen und enden durchweg bei dem primitiven Chauvinismus von Kroaten und Serben und beider Streben nach einem ethnisch gereinigten „Groß-Kroatien“, bzw. „Groß-Serbien“. Diese reichen jedoch nicht aus, die immensen Aufwendungen und Verluste zu deuten, die Kroatien, Serbien (mit Montenegro in der Bundesrepublik Jugoslawien (SRJ) vereint) und ihre Separatstaaten in Bosnien und Kroatien (Kroatische Republik Herceg-Bosna (HRHB), Republika Srpska (RS), Republika Srpska Krajina (RSK)) bis 1995 tätigten und erlitten. Nach einer Aufstellung, die die in Split erscheinende Wochenzeitung „Feral Tribune“ am 28. Februar 1995 veröffentlichte, hatten die Aufwendungen und Verluste allein auf dem bosnischen Kriegsschauplatz folgende Größenordnung:

 

Soldaten
Schußwaffen
Kriegsausgaben (Mrd. $ pro Jahr)
Gefallene
(in 1.000)
Kroatien
110.000
300.000
4
12
HRHB
34.300
40.000
1
7
SRJ
195.000
1.700.000
3,5
26
RS
100.000
250.000
1,1
21
RSK
35.000
50.000
0,8
8

Hinzu kamen noch enorme Ausgaben für Panzer, Geschütze, Flugzeuge, Truppen in anderen Regionen, paramilitärische Verbände etc. Mit diesen Streitmächten wurde ein Krieg geführt, der an Brutalität und Zerstörungswillen Höchstmarken setzte und von rassistischen Feindbildern getragen wurde: Für die Kroaten waren alle Serben „Tschetniks“ und „genetische Feinde des Kroatentums“ (Tudjman), für die Serben waren alle Kroaten „Ustasche“ und „Völkermörder“, für beide waren alle Bosnier „Balije“ oder „Türken“. Jede Seite war bemüht, möglichst viele Menschen der Gegenseite zu töten und zu vertreiben, möglichst alle Kirchen und Siedlungen zu zerstören.

Gotovina: Kriegsverbrecher und Volksheld

In diesem Krieg sind Hunderttausende mobilisiert gewesen, und nur ein Minimum von ihnen dürfte keine Kriegsverbrechen begangen haben. Eben diese Natur des Kriegs hat das Haager Tribunal ja dazu gebracht, erstmals seit den Kriegsverbrecherprozessen von Nürnberg und Tokio rigorose Rechtsprinzipien anzuwenden: Schuld trägt, wer sich an einem „Joint criminal enterprise“ beteiligt, also an einem kriegerischen Unternehmen, das mit hoher Wahrscheinlichkeit verbrecherische Formen annehmen wird. Und wegen der „Commands responsibility“ wächst die strafrechtliche Verantwortung im Maße der politischen und/oder militärischen Funktion. Insofern ist es sinnlos, sich einzelne Befehlshaber herauszusuchen, diese in Den Haag vor Gericht zu stellen oder ein ganzes Land zu „bestrafen“, wenn man der Gesuchten nicht habhaft wird. Zudem ist aktenkundig, daß jemand wie der Kroate Ante Gotovina ohnehin ein Schwerver­brecher war, und zwar längst bevor er „General“ wurde: 1955 geboren, floh er als 18jähriger nach Frankreich, diente unter dem Namen Ivan Grabovac fünf Jahre in der Fremdenlegion und wurde 1979 französischer Staatsbürger. Danach beging er zahlreiche Verbrechen, die ihm langjährige Haftstrafen einbrachten. 1990 kehrte er nach Kroatien zurück und machte in Tudjmans „Kroatischer Armee“ (HV) eine Blitzkarriere bis hinauf zu höchsten Rängen. Was er außerdem noch tat, steht in der Anklage, die das Haager Tribunal am 21. Mai 2001 erstellte: Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Vergehen gehen die Genfer Konvention, Raub, Mord, Vertreibung, Deportation etc.

Seit 2001 ist Ante Gotovina flüchtig, dabei aber allgegenwärtig: Das ganze Land ist mit Großplakaten zugepflastert, auf denen er als „Held“ gepriesen wird, immer mehr kroatische Städte ernennen ihn zum Ehrenbürger, Hunderte kroatische Prominente unterzeichneten Sympathieerklärungen für Gotovina, im Internet ergehen sich eigene Netzseiten in Elogen über ihn etc. Wer diesen Mann fangen und ausliefern will, riskiert nationalistische Unruhen schwerster Art. Eine Auslieferung wird auch von Kroaten mehrheitlich abgelehnt. In der eingangs erwähnten „Puls“-Umfrage wurde auch gefragt, ob Gotovina verhaftet und ausgeliefert werden sollte. 56 Prozent der Befragten meinten, er sollte es nicht, weil das gewisse „Folgen“ haben werde.

Unterschiedlicher Umgang mit der jüngsten Vergangenheit bei Kroaten und Serben

Gotovina ist oft mit dem Serben Arkan und anderen serbischen Kriegsverbrechern verglichen worden, was zweifellos zutreffend ist: Serben und Kroaten haben in Sachen Kriegsverbrechen prall gefüllte Sündenregister. Dennoch gibt es einen gravierenden Unterschied: Die Serben wissen und bekennen, daß in ihrem Namen und mit ihrer Beteiligung schwere Verbrechen begangen wurden. Sie haben im Herbst 2000 für einen Sturz des Regimes von Milosevic und im Juni 2001 für Milosevics Auslieferung ans Haager Tribunal gesorgt. In Kroatien hingegen wird der Krieg bis heute als „Vaterländischer“, „Verteidigungs-„ und „Befreiungskrieg“ gefeiert, wird die eigene Rolle als „Opfer großserbischer Aggression“ betont, werden Tudjman-Denkmäler errichtet, sorgen nationalistische Veteranenverbände mit verbaler und realer Gewalt dafür, daß die „Würde des Vaterländischen Kriegs“ bewahrt wird. Mit diesen Verbänden haben sich rechte Parteien und die ohnehin nationalistischen Kroaten aus der Herzegowina verbündet – ein Bündnis, gegen das keine Regierung in Zagreb ankommt.

Franjo Tudjman hat das Land verelenden lassen, indem er dessen geringe Reichtümer per „Privatisierung“ an seine Günstlinge verteilte. Er hat 500.000 Arbeitsplätze und den gesamten Mittelstand vernichtet, was die wirtschaftliche Erholung Kroatiens unendlich verzögert. Er hat einstige „Goldgruben“, wie den Tourismus und den Schiffbau verfallen lassen und seinem kleinen Land mehr Geheimdienste als Deutschland unter den Nationalsozialisten aufgezwungen. Er hat nichtkroatische Staatsbürger durch die Einführung von Sonderausweisen („Domovnica“) zu Parias gemacht, dafür aber den Kroaten der Herzegowina, Staatsbürger Bosniens, die kroatische Staatsbürgerschaft gegeben und sie bei Wahlen in Kroatien mitstimmen lassen. Bis heute wurde dies nicht rückgängig gemacht.

Und Tudjman hat jene Ideologie des nationalen Selbstmitleids geschaffen, dessen momentaner Exponent der Kriegsverbrecher Gotovina ist („Heute Ante – morgen wir“) und jüngst den Beginn der Beitrittsverhandlungen verhinderte. Das eigentlich Schlimme daran ist, daß die EU diese Zusammenhänge – die ihr natürlich bewußt sind, schließlich hat sie sich an Tudjman lange genug die Zähne ausgebissen – nicht thematisiert und mit ihrem sinnlosen Insistieren auf der Auslieferung Gotovinas einen „Märtyrer“ schafft. Zagreb hat bis zuletzt darauf gehofft, in Brüssel an den Verhandlungstisch zu gelangen, ohne Gotovina ausliefern zu müssen. Schließlich sei Kroatien ein „Faktor der südosteuropäischen Stabilisierung“. Das war das Land nie, aber durch die verfehlte EU-Taktik könnte es ein Faktor südosteuropäischer Destabilisierung werden: Wer sich wie Kroatien ungerecht behandelt fühlt, wird in Zukunft keine Bedenken tragen, seine nationalistischen Interessen rücksichtslos zu verfolgen und etwa den unseligen Seegrenzen-Streit mit dem angrenzenden EU-Mitglied Slowenien eskalieren zu lassen.

Die Wirtschaftsruine Kroatien gehört nicht in die EU

Die EU sollte sich häufiger daran erinnern oder durch die Wirtschaftsentwicklung im eigenen Bereich zu der Erinnerung gezwungen werden, wie sie einmal begonnen hat. Sie sollte sich entsinnen, welches ihr Erfolgsgeheimnis war und ist, welche Kriterien sie für neue Mitglieder aufgestellt hat und was auch in Zukunft ihr Wesen vorrangig ausmachen sollte: ein europäisches Wirtschaftsbündnis zu sein! Es ist jetzt schon fatal genug, daß sie sich auf politische, militärische, Sicherheits- und andere Fragen kapriziert, die die Aufgabe von NATO, OSZE, UNO etc. sind.

Wäre die Wirtschaft der Hauptindikator für neue Mitglieder, dann wäre Kroatien nie auch nur in die Nähe eines EU-Beitritts gelangt. Dennoch hat die EU Kroatien im Juni 2004 eine „funktionierende Marktwirtschaft“ bescheinigt, in einzelnen Bereichen aber auch energische Reformen angemahnt – im Finanzsektor, im Gerichtswesen, in der Verwaltung und der Sozialversicherung. Zudem forderte Brüssel, die 300.000 vertriebenen Serben müßten zurückkehren dürfen. Das alles glaubte Kroatien ignorieren zu können, weil es überzeugt war, daß die EU es nötiger „brauche“ als umgekehrt. Unter Tudjman war es allgemeiner Glaube, daß Kroatien der erstrangige Partner der USA in Südosteuropa sei, jetzt scheint man diese „geostrategische“ Selbstüberschätzung auf die EU übertragen zu haben.

„Bitte doch jemand den General Gotovina, er möge sich nicht stellen! Wir haben sonst keine Chance, alle Anforderungen für die EU-Bewerbung fristgerecht fertig zu bekommen“  
„Bitte doch jemand den General Gotovina, er möge sich nicht stellen! Wir haben sonst keine Chance, alle Anforderungen für die EU-Bewerbung fristgerecht fertig zu bekommen“
Quelle: „Slobodna Dalmacija“ vom 03.02.2005
 

Am 3. Februar 2005 veröffentlichte die Tageszeitung „Slobodna Dalmacija“ die nebenstehende Karikatur. Eine entnervte Sekretärin ruft: „Bitte doch jemand den General Gotovina, er möge sich nicht stellen! Wir haben sonst keine Chance, alle Anforderungen für die EU-Bewerbung fristgerecht fertig zu bekommen“. Und rundherum liegen die unerle­digten Bereiche: Finanzen, Bildung, Gesundheit, Rechtswesen, Ökologie etc. So kann man es na­türlich auch sehen – daß Kroatien in keiner Weise „EU-reif“ ist und gerade froh sein muß, daß der hochgespielte Fall Gotovina alle Welt von der wahren Misere Kroatiens ablenkt.

Die Regierung von Ivo Sanader hat wirtschaftlich versagt

Kroatien geht nach 15 post-jugoslawischen Jahren ökonomisch „am Bettelstab“ – sagte am Wahlabend des 2. Januar 2005 Slaven Letica, unterlegener Kandidat bei den Präsidentenwahlen. Diese waren auch eine Absage an die regierende HDZ: Als sie am 23. November 2003 an die Macht zurückkehrte, versprach ihr Chef Ivo Sanader ein Ansteigen des Bruttoinlandprodukts, eine Hebung der Kaufkraft, eine Senkung der Arbeitslosigkeit etc. Darum wolle er sich vorrangig kümmern, obwohl es bei „EU – ja, NATO – ja“ bliebe. Ein Jahr später, Ende 2004, wurde errechnet: Sanader war 92 Tage außer Landes, beschäftigt mit Antichambrieren vor EU- und NATO-Türen. Dortige Mitgliedschaften sind die letzte Chance der HDZ, die wirtschaftlich versagt hat: Das Wirtschaftswachstum fiel von 4,3 auf 3,7 Prozent, die Kaufkraft um 5 Prozent. Sanaders Versuch, die Mehrwertsteuer von 22 Prozent zu senken, versandete. Die Regierung hob die Beschäftigtenzahl um 1,4 Prozent auf 1,4 Millionen, zumeist unterbezahlte Mini-Jobs ohne ökonomischen Effekt: Die minimalen Lebenskosten einer vierköpfigen Familie betrugen Ende 2004 5.472 Kuna (7,5 Kuna = 1 Euro) und konnten von einem kroatischen Durchschnittseinkommen nur zu 72 Prozent gedeckt werden.

Das ökonomische Versagen der HDZ illustriert beispielsweise der rasante Anstieg der kroatischen Auslandsverschuldung im Jahr 2004. Im Januar 2004 betrug sie 18,72 Mrd. US-Dollar, im Februar 2005 war sie auf 30,2 Mrd. US-Dollar angewachsen. Das sind 80,5 Prozent des Bruttoinlandprodukts – ein selbstmörderischer Schuldenberg für das Land. Nur mit größter Mühe sind die Schuldenzinsen aufzubringen, von Tilgung gar nicht zu reden. Die EU kann sich heute schon ausrechnen, wie viele Kredite sie dem Dauerversorgungsfall Kroatien geben muß, wenn sie dessen Staatsbankrott verhindern will.

Kroatien lebt seit Jahren weit über seinen Verhältnissen, auch sein permanentes Außenhandelsdefizit, derzeit rund acht Mrd. US-Dollar, beweist das. Das kroatische Bruttoinlandsprodukt per capita betrug im Jahr 2004 6.228 Euro, etwas mehr als ein Drittel der Rate Sloweniens (17.347 Euro), das in Größe und Einwohnerzahl (20.273 km 2, 1,99 Mio. Einwohner) nur knapp die Hälfte Kroatiens ausmacht.

Eine Besserung ist nicht in Sicht, zumal alle amtlichen Zahlen zur Arbeitslosigkeit (16 Prozent) „geschönt“ sind: Wie der „Verband unabhängiger Gewerkschaften Kroatiens“ Anfang Februar 2005 mitteilte, sind 3,3 Mio. Einwohner Kroatiens auf staatliche Hilfen angewiesen und im Lande „gingen durch schlechte Privatisierung und Restrukturierung 386.678 Arbeitsplätze verloren“. In ganz Kroatien gibt es nur drei Provinzen, in denen die Arbeitslosigkeit unter 15 Prozent liegt, während die größten Landesteile, etwa Split-Dalmatien, eine Rate von über 30 Prozent verzeichnen. Im ganzen Land beziehen knapp 70.000 Beschäftigte keinen Lohn, 97.000 weniger als den amtlichen Mindestlohn (1.950 Kuna) und rund 100.000 wurden aus der Arbeitslosen-Statistik gestrichen – um die politisch gefährliche Grenze von 400.000 Arbeitslosen nicht zu überschreiten. Tatsächlich wurde diese in den letzten Jahren niemals unterschritten, und was noch mehr ins Gewicht fällt, ist der Umstand, daß von allen Arbeitslosen „47 Prozent ohne jede Schulbildung oder nur mit Grundschulbildung dastehen“. Sollte Kroatien eines Tages EU-Mitglied sein, dann wird die Union mit einem Ansturm mehr oder minder analphabetischer kroatischer Hilfsarbeiter zu rechnen haben.

Dieser Wirtschaftsruine Kroatien hat die EU im Juni 2004 einen positiven Avis gegeben und wollte mit ihr im März 2005 Beitrittsverhandlungen beginnen. Dazu kam es nicht, womit Premier Sanader seinen einzigen „glänzenden Erfolg“ einbüßte. Außer diesem hatte er in einem TV-Gespräch am 5. Januar 2005 nur eine vage „Trendumkehr“ bei Auslandsverschuldung, Außenhandelsdefizit, Arbeitslosigkeit etc. zu bieten. Und nicht einmal dieser „Erfolg“ überzeugt die Kroaten: Zum Jahresende 2004 sagten 72 Prozent in einer Umfrage, daß nicht einmal ein EU-Beitritt der maroden Wirtschaft Kroatiens noch helfen könne.

Was bleibt?

Kroatien hat jahrelang alle Auflagen, Beanstandungen, Ratschläge und Forderungen der EU mehr oder minder ignoriert. Als jetzt die Beitrittsverhandlungen verschoben wurden, bekam es nur scheinbar eine Quittung für seine Leichtfertigkeit. Hätte sich der gesuchte General Gotovina beispielsweise aus Südamerika gemeldet, wäre alles im Lot gewesen: Der General bliebe frei, Kroatien hätte den Nachweis erbracht, daß er nicht im Lande ist und so seine Kooperation mit dem Haager Kriegsverbrechertribunal bewiesen. Die EU hätte daraufhin die Beitrittsverhandlungen mit Kroatien aufgenommen.

„Bitte doch jemand den General Gotovina, er möge sich nicht stellen! Wir haben sonst keine Chance, alle Anforderungen für die EU-Bewerbung fristgerecht fertig zu bekommen“  
„Erst wirst du mir den kleinen Gotovina geben, dann die Wäldchen, die Wiesen, die Inselchen und die Küste…“
Quelle: „Vecernji list“ vom 14.02.2005
 

Diese Verhandlungen hätten voraussichtlich dazu geführt, daß Kroatien 2007 EU-Mitglied geworden wäre: Ein faktisch bankrottes Balkanland, das sich mit selbstherrlicher Arroganz und aggressivem Nationalismus über seinen politischen und ökonomischen Niedergang hinweg täuscht. Die entsprechenden Daten sind in der Presse nachzulesen: 3,3 Mio. Kroaten leben von staatlicher Unterstützung (uzdrzavano stanovnistvo), das Wirtschaftswachstum fiel von 5,2 (2002) auf 3,6 Prozent (3. Quartal 2004), erstmals seit vier Jahren hat sich Arbeitslosigkeit wieder sprunghaft erhöht (nach offizieller Statistik von 316.000 Arbeitslosen im November 2003 auf 326.938 im Januar 2005). Außerdem fallen die Löhne, die Lebenshaltungskosten steigen, Außenhandelsdefizit und Auslandsverschuldung weisen Höchstraten auf, die technologische Rückständigkeit der gesamten Wirtschaft ist bedrohlich, zumal wegen des anschwellenden „brain drains“ immer mehr Fachleute das Land verlassen. Wirtschaftlich wäre dieses Kroatien eine Dauerbelastung für die EU-Kassen und eine Sperre für andere Beitrittskandidaten, die wirtschaftlich vielleicht nicht viel besser dastehen, dafür aber keine großen Illusionen von der eigenen Großartigkeit, Vorbildhaftigkeit, Unverzichtbarkeit und Unüberbietbarkeit hegen.

Kroatien weist genau diese Selbsteinschätzung auf, wie die nebenstehende Karikatur, veröffentlicht am 14. Februar 2005 im Zagreber „Vecernji list“, beweist. Die dicke EU hält das kleine Kroatien im Würgegriff und sagt ihm: „Erst wirst du mir den kleinen Gotovina geben, dann die Wäldchen, die Wiesen, die Inselchen und die Küste…“

Mit anderen Worten: Kroatien wird sich vorerst nicht wandeln und die EU kann ihre Reformauflagen nicht zurücknehmen – also wird in Kroatien die EU-Feindschaft so anwachsen, daß eines baldigen Tages weder in Zagreb noch in Brüssel jemand vom kroatischen EU-Beitritt reden mag.

*

Der Autor: Prof. Dr. Dr.h.c. Wolf Oschlies (geb. 1941) ist Osteuropa- und Balkanexperte und lehrt an der Universität Gießen. Unter dem Titel „Makedonien 2001-2004: Kriegstagebuch aus einem friedlichen Land“ veröffentlichte er 2004 im Berliner Xenomos-Verlag eine Sammlung von neun Analysen zu Politik, Wirtschaft, Kultur, Demographie, sowie innen- und außenpolitischen Konflikten der Balkan-Republik.

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