Die Freundschaft ist eine HöhleGEORGIEN

Die Freundschaft ist eine Höhle

Vom Leben in der georgischen Hauptstadt Tiflis. Von dem Wunsch nach Europa und der fragilen Schönheit georgischer Gastfreundschaft.

Von Andrea Jeska

EM – Tanzen? In einem schäbigen Zimmer ohne Sonnenlicht? Mit dem Geruch von Tomaten in Essig und billigem Wodka in der Luft? In den Rauchschwaden von Iraklis bröckelndem, stinkendem Tabak? Unter dem Gelächter von Otis. Viktor, wie albern.
Wie schön. Sieh her, ich binde mir auch einen Schlips um, willst du den roten oder den gelben. Hier ist meine Smokingjacke. In dieser Jacke führte ich die Frauen aus. Sie dankten es mir nicht. Vielleicht lag es an der Jacke. Uuuh, ich bin nicht rasiert, ich werde deine Wangen zerkratzen. Madame, reichen Sie mir die Hand. Für einen, wenigstens einen Tanz.

Viktor tanzt. Der Plattenspieler will die Platte nicht spielen, das Radio ist längst kaputt. Nur im Fernsehen gibt es auf einem Kanal Musik, doch diese Musik kommt aus einer Zeit, die nicht mehr Viktors ist. Was soll ein alter Mann wie er in der Gegenwart? Also singt er, singt mit hoher Stimme ein Klagelied vom jungen Mann, der zurückkam in die Heimat und die Liebste dort nicht mehr fand. Verloren hängt sein magerer Körper in der alten Smokingjacke, die Arme schwanken wie brüchige Halme über seinem Kopf. Am Ende dieser Halme hängen Hände, die sind groß wie Schaufeln und so knochig, als habe sich der Tod ihrer schon bemächtigt.

Doch Viktors Hände halten eine Welt. Sie halten das Zimmer mit den faden Möbeln, dem Duft nach altem Mann und gerupfter Seele. Sie halten die zu langen Ärmel des Anzugs. Sie halten Irakli, den Müden, der in besseren Tagen Archäologe am Nationalmuseum war und von den Gräbern der Pharaonen träumt, die er nie gesehen. Jetzt ist er arbeitslos und schleicht nur abends manchmal zurück in sein Museum.

Sie halten Otis, der außerhalb der Stadt einen Kleingarten hat und den Wind der kaukasischen Berge in die muffige Wohnung trägt. Der mit Kartoffeln und Weintrauben Viktors Hunger stillt, und Viktor mit einem Gemisch aus Spiritus und Vanilleextrakt Otis’ Durst.
Sie halten die Ecken eines winkelzügigen Lebens, pressen sie zu einem Raum zusammen, zu einer Küchentisch-Wodkaflaschen-Heimat, durch die das Elend Georgiens hineinfließt. Viktors Hände halten jeden, der durch seine Tür am Tschawtschawadse Prospekt in Tiflis tritt. Sie packen des anderen Schultern, schieben ihn auf einen Stuhl. Der Tag wird zur Nacht und die Nacht zum Tag werden, aber die Schaufelhände sind noch immer da, umfassen, bitten, geben. Trink doch. Iß doch. Bleib doch.

Die georgische Freundschaft ist voller Poesie

Zugehörigkeit. In Georgien fällt sie leicht. Der Gast im Haus: eine Ehre. Da wird nichts gehütet, versteckt. Keiner sagt: wir haben nichts, und was wir haben, behalten wir für uns. Der Tisch muß voll sein, die Gläser überlaufen. Bringt Licht und Wärme und Musik für den Gast! Hebt das Erwachen für morgen auf, den schalen Geschmack nach dem Rausch, den abgegessenen Tisch, die Stromrechnung, die niemand mehr bezahlen kann, und auch die Morgenzeitung, in der steht, wer die Nacht wieder nicht überlebt hat, wer ausgeraubt und hinterrücks ermordet wurde. Laßt uns später um die Toten trauern. Um jene, die noch immer für Abchasien kämpfen und um jene, die im Pankisi-Tal Opfer der russischen Propaganda werden. Morgen früh, wenn die alten Männer kommen, die für ein paar Lari die Straße fegen, wenn sich Nieselregen über Tiflis legt und die Mauern der Häuser nach Moder und altem Staub riechen, wollen wir fragen, ob sich das Leben, dieses Leben, noch lohnt. Dann erst wollen wir das kaukasische Haus zu Grabe tragen, wollen wir um die Heimat, die darbende, weinen. Heute aber trink: Auf die Liebe, die Freundschaft, das Vaterland und auf die Tränen, die wir im Rausch vergießen.

Die georgische Freundschaft ist voller Poesie. Selbst in kleinster Runde wird ein Tamada, ein Trinkspruch-Vortragender bestimmt. Niemand hebt sein Glas, ohne nicht die tiefen Werte des Lebens zu preisen. Wie glänzende Kulissen oder wie Schutzengel werden die blumigen Worte um die Tische drapiert. Die biegen sich schon lange nicht mehr unter der Last der Schüsseln. Für Besucher wird trotzdem das letzte aus den Schränken gekramt, laufen die Gastgeber los, um beim Nachbarn, beim Freund noch Wodka aufzutreiben, Käse, Kekse, Obst. Sie leben als Flüchtlinge in engen Zimmern, sie hausen in feuchten Kellerwohnungen, sie schlafen auf der Straße, den Gast aber lassen sie nicht ohne Gaben gehen. Wer nichts hat, leiht sich Geld, um den Gast ins Restaurant einladen zu können. Eine Bettlerin, mit einer für westliche Verhältnisse lächerlichen Summe beschenkt, zieht aus der Tasche eine winzige Stoffpuppe als Gegengabe.

Das Unvollkommene wird mit traurigen Entschuldigungen fortgewischt. Nie ist etwas gut genug, immer gibt es Erzählungen von anderen Zeiten, in denen es auch dem Gast besser ging. Das Glück ist stets ein Damals, ist ein verschlossener Raum, zu dem es keinen Schlüssel mehr gibt. „Georgier leben im Gestern, fürchten das Heute und glauben nicht an das Morgen.“ Solche Sätze hört man oft.

Solange man sich aneinander wärmt und tröstet, auf dem Grund der Gläser den Glauben an Nächstenliebe findet, ist auch das größte Elend zu ertragen

Verzeih! Auch Viktor geht das Wort leicht über die Lippen. Du hast recht. Wie armselig in diesem Zimmer zu tanzen. Beim nächsten Mal stehe ich am Flughafen, mit Blumen und dem roten Schlips. Beim nächsten Mal gehen wir in eine Bar, trinken richtigen Wodka und tanzen, bis die Stühle umfallen und die Tische brechen. Verzeih, daß der Plattenspieler nicht funktioniert. Verzeih, daß ich selber singe, meine Stimme ist ein alter müder Vogel, verzeih, daß ich Dir nicht mehr geben kann, nur Tomaten und den Käse, das Brot. Iß, Mädchen, blond und schön, wirst Du an meinem Grabe steh’n? Verzeih mir altem Knopf. Ich dichte eben gern. Ja, lach nur, sei fröhlich. Nimm noch ein Glas. Nimm die Kartoffeln von Otis mit, nimm hier die Blätter von dem Tabak, den ich in Kachetien pflückte, vor vielen Jahren, als ich noch nach Kachetien fuhr. Verzeih, daß wir nicht feiern und essen, wie es sein sollte. Dies ist ein verfluchtes Land.

Die Freundschaft ist wie ein Höhle. Solange man sich aneinander wärmt und tröstet, auf dem Grund der Gläser den Glauben an Nächstenliebe findet, ist auch das größte Elend zu ertragen. Dieser Glaube hat viele Kleinvölker des Kaukasus durch Kriege und Katastrophen getragen, hat sie stark gemacht, um Leid, Hunger, Verfolgung und versuchte Ausrottung zu erdulden. Mit endloser Geduld werden die Risse um das Private täglich wieder übertüncht. Auf sie zu starren, hielte keiner aus. Die politische Situation ist jede Woche erneut bedrohlich. Ziehen die Russen neue Militäreinheiten an den Grenzen zusammen? Werfen sie Bomben? Werden sie aus Pankisi ein neues Tschetschenien machen, kurzerhand jeden Mann zum Terroristen erklären, töten, verschleppen? Wird es in Tiflis wieder Attentate geben? Werden mehr Menschen entführt? Die Medien stellen diese Fragen, die Bewohner vermeiden sie. Keine Stadt hat so viele Zeitungen wie Tiflis, jeden Tag aufgeblasene Schlagzeilen, jeden Tag Sensationen. In Tiflis runzelt man darüber die Stirn. „Was wird man im Westen von uns denken? Georgien ist doch mehr, ist doch noch anderes als nur Krisen.“ Betont geht man seinen ruhigen Gang und erzählt sich Witze: Über Schewardnadse und seine korrupte Gefolgschaft, man lästert über die Deutschen, die glaubten, jener Schewardnadse hätte ihnen umsonst zur Einheit verholfen. Es gibt Pointen, in denen sind die Russen so dumm und verschlagen wie in deutschen Witzen die Polen. Die alltäglichen Probleme sind groß genug, für Angst vor Krieg und Terrorismus bleibt wenig Zeit. Und wenn die Angst doch kommt, wird sie in sichere Bahnen umgeleitet, wird zum Gejammer über Widrigkeiten. Das Brot wird teurer, die Bars schließen früher. Die Stromversorgung, die seit Jahren nicht funktioniert und jetzt, wo eine russische Firma das Netz übernommen hat, noch weniger funktionieren wird. Ein neuer kalter Winter wird das. Wieder stellt man in jedes Zimmer griffbereit die Kerzen und macht sich darauf gefaßt, in Handschuhen und Jacken am Tisch zu sitzen. Mit Mantel und Decken geht man auch in die Oper, ins Theater, die Kulturbesessenheit kapituliert nicht vor Kälte und nicht vor Geldmangel, soviel zumindest ist aus der sozialistischen Zeit gerettet und immerhin in diesem Punkt ist man dem Westen überlegen. Die Bescheidenheit ist eine Tugend, man braucht keine Abendgarderobe, um Ibsen zu sehen, keine Diskotheken, um zu tanzen, für Partys reicht ein muffiger Kellerraum.

Gehören wir nicht auch zu Europa?

Natürlich heißt das nicht, die Bescheidenheit sei gewählt. Der wirtschaftliche Niedergang des Landes hat sie dem georgischen Stolz wie ein Sack übergestülpt. Wer kann, der geht lieber. Eine Million Georgier studieren im Ausland, die meisten davon in Deutschland. Die Sehnsucht nach dem Westen wird trotzig verteidigt, wird als berechtigter Anspruch und Kompensation für ein Jahrhundert unter Fremdherrschaft gesehen. Gehören wir nicht auch zu Europa? Nur aufgrund einer historischen Laune, die an unsere Grenzen muslimische Nachbarn setzte, sind wir von Euch getrennt. Ist unsere Kultur nicht mit Eurer verwoben? Hilflos klingen diese Fragen. Als könnte die Entfernung zu Europa überbrückt, die eigene Position aufgewertet werden, greift man zu den Legenden des Kaukasus. In den Erzählungen sind diese auf dem Zeitstrahl näher als der gerade vergangene Sowjetimperialismus, der Georgien nur demütigte und entmündigte. Kolchis, das Goldene Vlies, Prometheus am Kasbek angekettet. König David und Königin Tamara, Regenten des Mittelalters. Man bemüht die Dichter, die Georgiens Schönheit priesen: Ossip Mandelstam, Michael Lermontow, Alexander Puschkin.

Erbittert registrieren die Georgier, daß jener Westen, nach dem sie sich so sehnen, wenig Notiz von ihnen nimmt

Vor dem tapfer präsentierten Stolz auf die Vergangenheit wird die Wirklichkeit doppelt unerträglich. In Tiflis verfallen die Häuser, in den Straßenunterführungen sitzen die Bettler. Auf jeden dritten Bewohner der Stadt kommt ein Flüchtling. Die Arbeitslosigkeit ist vor allem in Tiflis hoch. Wer Anstellung sucht, muß dafür zahlen – auf dem freien Markt jedenfalls sind nur wenige Jobs verfügbar. Die Fetische des Kapitalismus – Mode, Kosmetik, High-Tech-Elektronik – sind den wenigen zugänglich, die trotz, nicht selten durch Krisen reich geworden sind. Früher, erzählt Essma Kundschuria, Herausgeberin des ersten georgischen Männermagazins „Pirveli“, hätten die Frauen aus Tiflis Pariser Mode getragen. „Heute tragen wir Second-Hand-Kleidung, die jemand aus dem Westen bringt und auf dem Markt verkauft.“ Erbittert registrieren die Georgier, daß jener Westen, nach dem sie sich so sehnen, wenig Notiz von ihnen nimmt, und schnell wird aus dem eigenen Minderwertigkeitsgefühl der Vorwurf westlicher Arroganz geboren. Daß es in Tiflis fast so viele Hilfsorganisationen gibt wie in Afrika, beschämt, daß deren Mitarbeiter in dem teuren Stadtteil Vake residieren, erbittert, und daß alle Bemühungen der UN an dem Dilemma Georgiens nichts haben ändern können, ruft Wut hervor. „Nicht United Nations Organisation, sondern United Nations Establishment sollte es heißen“, spottet ein georgischer Journalist.

Nachts ist Tiflis dunkel. Nur die großen Straßen haben Beleuchtung, in den kleinen stolpert man über unregelmäßige Pflastersteine, verrenkt sich die Knöchel in Schlaglöchern. Am Tschawtschawadse 2, ein Mietsblock aus Graubeton, gibt es im Treppenhaus kein Licht. Nutzlose Kabel liegen über dem Putz. Die Fenster im Erdgeschoß sind vergittert, die Türen aus Eisen. Nachts kreischen halbverhungerte streunende Katzen im Hof. Wer ein Auto besitzt, schließt es in käfigähnliche Verschläge ein.

Außer Otis und Irakli wohnen in Viktors Block noch zwei Familien, ein Verrückter, drei Säufer, eine Frau mit Hund und Marina, deren Tochter in New York lebt und Modedesignerin ist. Wenn sie kann, vermietet Marina ihre Wohnung und zieht zu ihrer Mutter. Dort schläft sie auf einem schmalen Feldbett, während andere unter ihren sorgsam geputzten Kronleuchtern sitzen, die verstimmten Klaviertasten anschlagen, die Familienbilder beschauen, die Spitzendecke morgens über das Doppelbett ziehen, sich in die Intimität einer geborgten Existenz eingraben. Manchmal kommt Marina wie ein Dieb zurückgeschlichen, tauscht die Kleider gegen andere aus ihrem Schrank, füllt die Zuckerdose auf, stellt frisches Brot hin, schließt den Klavierdeckel. Irgendwann, hofft sie, reichen die Dollars, um ihre Tochter in New York zu besuchen.

„Trink, trink doch.“

Viktor hält nichts von Amerika. Nur Rußland, „diese Hure, diese Schlampe“ liebt er und haßt er. Er liebt es, weil er es kennt. Er haßt es, weil die Russen seinen Vater erschossen und seine Mutter ins Gefängnis steckten. Dort gebar sie Viktor, der, kaum den Kinderjahren entwachsen, sich im Entkommen übte. Als „Eisenbahningenieur“ reist er bis nach Sibirien. Weiterziehen, nie verweilen, aufstehen und gleich fort. Frauen an jeder Station. Rote, blonde, schwarze hielt er mit seinen riesigen Händen für ein paar Nächte, dann Aus. So vermied Viktor das Erwachsenwerden, blieb ein Kind im Körper eines kaukasischen Machos.

In diesem Herbst ließ sich Viktor von Nadja wärmen, die einmal in der Woche zum Saubermachen kam und die blutjunge Tochter eines Freundes war, der Viktor einen Gefallen schuldet. Also putzte Nadja die Wohnung. Sie spülte die Tassen, rauchte Viktors Zigaretten, kochte Tee und legte ihre Brüste beim Einschenken an Viktors Kopf. Dann verschwand sie. Auf Nimmerwiedersehen. Viktor spielt Otis und Irakli eine hysterisch heulende Frau vor. Er habe ihr nur leicht auf den Hintern geklapst, aber sie nahm es als Schlagen und war fort. Den warmen Busen werde er vermissen, sagt Viktor. Als Alternative dreht er den Gasherd an. Im Licht der Kerze tanzen die blauen Flammen wie wildgewordene Elfen. Otis holt aus seiner Plastiktüte eine Flasche besten georgischen Rotweins. Wasch die Gläser, sagt Viktor, den guten Wein, den wollen wir aus gewaschenen Gläsern trinken. Und dann erzählt er wieder die alten Geschichten: Von Sibirien und dem Schwarzen Meer, von den prächtigen Hotels, die heute heruntergekommen sind, von seiner Kindheitsstadt Batumi, in deren Kureinrichtungen niemand mehr kurt. Verzeih, sagt er, daß wir nicht mit dir nach Batumi fahren. Wenn du das nächste Mal kommst, dann bestimmt. Von diesem Versprechen über den Verlust weiblichen Fleisches getröstet, schenkt er die Gläser voll. „Trink, trink doch.“

Kaukasus

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