09.08.2023 13:11:56
GELESEN
Von Johann von Arnsberg
„Die Große Rezession. Amerika und die Zukunft der Weltwirtschaft“ von Nikolas Piper |
as eigene Haus ist ein Ziel, das die amerikanische Nation eint. Ein Heim für die eigene Familie in einer Vorstadt zu besitzen, und sei es auch noch so klein, gilt als Inbegriff amerikanischer Werte, ‚Suburbia’ als Hort der Mittelschicht und des Konservatismus. Alte und neue Amerikaner unterscheiden sich diesbezüglich in keiner Weise.“
Das sind die idealen Voraussetzungen für Immobiliengeschäfte. Aber dieses große amerikanische Thema, diesen beständigen amerikanischen Traum haben schließlich skrupellose Finanzhaie bis zum Exzess ausgereizt und eine weltweite Krise damit heraufbeschworen, wie es sie noch nie gegeben hat.
Welcher Geschäftspraktiken sich die Finanzmafia in den USA bedient, wird in dem Buch von Nikolaus Piper schonungslos offen gelegt. Er zeigt es etwa am Schicksal der Witwe Mary Overton, die von einer Finanzmaklerin und der Bank Ameriquest „nach Strich und Faden“ ausgenommen wurde: der Kredit, den man ihr für die Renovierung und einen Ausbau ihres Hauses zum Zwecke der Vermietung aufschwatzte, zog eine Monatsbelastung von 2.291 Dollar nach sich – dreimal so viel, wie sie bis jetzt netto zum Leben hatte. Der Zinssatz war variabel und konnte von 8,99 auf 14,99 Prozent steigen. Von einer Hypothek über 285.000 Dollar gingen 13.624,15 Dollar an Gebühren ab, außerdem ein paar Hundert Dollar an einen Anwalt und einen Notar. Und bevor die Kreditnehmerin es sich versah, rückte schon eine Baufirma an, von der Bank beauftragt, und begann mit dem Ausbau – sie riss die Rückwand des Hauses ein. Ohne Baugenehmigung. Monatelang lebte die Witwe halb im Freien, bis sie endlich der schier unglaublichen Geschichte mit Hilfe einer Verbraucherschutzorganisation ein Ende machen konnte.
Mary Overton ahnte nicht, dass der „Suprime Loan“, dieses zweitklassige oder minderwertige Darlehen, das sie auf ihrem Haus lasten hatte, „Teil eines gigantischen Fianzgebäudes war, das kurz vor dem Zusammenbruch stand“. Und sie ahnte auch nicht, dass sie eines der ersten Opfer der Finanzkrise wurde, „noch ehe sie richtig begonnen hatte.“ – Aber so in etwa begann sie. Mary Overton war ein typischer Fall, einer von Hunderttausenden.
„Im ersten Quartal 2009 hatten 21,9 Prozent aller Hausbesitzer in den Vereinigten Staaten ein negatives Immobilienvermögen: Der Wert ihres Eigenheims ist niedriger als die Summe, die sie der Bank schulden. Sie befinden sich ‚unter Wasser’, wie man in den USA sagt“. Dass dies weitgehend vertuscht wird, ist Teil des Systems. Die verbrieften Kredite werden weltweit weiterverkauft. Sie sind Teil einer Blase aus nichts, deren heiße, giftige Luft nun unschuldige Steuerzahler auf dem gesamten Globus entsorgen müssen.
„Die Bank Ameriquest ist längst im Strudel der Krise untergegangen“ berichtet Nikolaus Piper. Sie wurde an die Bank an Citigroup verkauft und als eigenständige Einheit geschlossen. „Und irgendwo auf der Welt musste irgendeine Bank oder ein Investor ein Wertpapier abschreiben, in dem Mary Overstons Kredit steckte, als kleiner Beitrag zur großen Krise.“
Piper, früher Wirtschaftschef der „Süddeutschen Zeitung“, versteht es, die Rezession zu erklären, aufzuzeigen wie es zu der Krise kommen konnte. Dass es nicht von ungefähr so kam, oder aus der puren Gier, macht er auch klar. Gier hat es früher auch gegeben. Er lässt keinen Zweifel, dass wir es mit einem gerüttelt Maß an „Markt- und Staatsversagen“ zu tun haben, dass beides zu „gleichen Teilen zu der Katastrophe beigetragen“ habe.
Erhellend ist in diesem Zusammenhang die Schilderung der starken Ausschläge zwischen staatlicher Regulierung und Deregulierung, je nachdem welcher Präsident, welche Administration in den USA am Ruder war. Man versuchte immer wieder die Fehler der letzten Krise zu vermeiden und schuf damit nicht selten neue Probleme. Beispielhaft dafür ist der Versuch von Präsident Bill Clinton von 1993, die Managergehälter einzudämmen. Er ließ die steuerliche Absetzbarkeit der Grundgehälter auf eine Million Dollar begrenzen, und das führte dann zur Explosion der flexiblen Gehaltsanteile, der heute immer wieder zitierten „Boni“.
Der Wirtschaftsjournalist Nikolaus Piper war zur richtigen Zeit am richtigen Ort, um dieses Buch zu schreiben. Er arbeitet seit Anfang 2007 als Korrespondent der „Süddeutschen Zeitung“ in New York und hat somit als Zeitzeuge die Krise erlebt, die er nun beschreibt und analysiert. Für ihn ist klar, dass die Katastrophe noch weit größer hätte ausarten können. Er schreibt: „Der Einbruch wäre sogar schlimmer geworden als nach 1929, hätten nicht die Regierungen und Notenbanken der ganzen Welt in einer Weise in die Wirtschaft eingegriffen, die es zuvor in Friedenszeiten noch nie gegeben hat.“
Natürlich hat die Krise nicht 2007 oder 2008 begonnen. Piper greift weit in die merkantile Vergangenheit der amerikanischen Geschichte zurück. Schon hier sind die Sünden vorgezeichnet. Und er nennt einen der Hauptfaktoren der Gegenwart, der die Krise antreibt: die globalen Ungleichgewichte vor allem, jenes Missverhältnis zwischen der heraufziehenden Weltmacht China und der abdriftenden Weltmacht USA, das sich wie eine atmosphärische Störung in der Übergangszeit zwischen Sommer und Winter austobt: „Die reichste Nation der Erde wurde der mit Abstand größte Kapitalimporteur, das größte Schwellenland der größte Kapitalexporteur.“ Die Situation gleicht der Konstruktion einer Zeitbombe: „Es war klar, dass diese Ungleichgewichte nicht lange durchzuhalten waren."
Nikolaus Piper hat den mit 10 000 Euro dotierten Deutschen Wirtschaftsbuchpreis gewonnen, den die drei Partner Booz & Company, Handelsblatt und Frankfurter Buchmesse in diesem Jahr zum dritten Mal ausgelobt haben.
Was ist anders an diesem Buch – weshalb hat die Jury gerade Pipers Veröffentlichung ausgewählt? Die Veröffentlichungen zu seinem Thema sind schließlich Legion. Das ist richtig, und doch gehen die wenigsten in die Tiefe und an die Wurzeln des Übels. Piper tut es. Er macht klar, dass die Zeiten, in denen die Wall Street den Puls der Weltwirtschaft bestimmte, unwiderruflich vorbei sind. „Aber an der Wall Street tun einige so, als sei nichts passiert“.
Die zweite große Weltwirtschaftskrise, die am 15. September 2008 in New York ausgebrochen ist, hat die Ursache in den unverantwortlichen Exzessen an der Wall Street. Aber nicht allein. Ganz Amerika hat über seine Verhältnisse gelebt.
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Rezension zu: „Die Große Rezession. Amerika und die Zukunft der Weltwirtschaft“ von Nikolas Piper. Carl Hanser Verlag, München 2009, 300 Seiten, gebunden, 19,90 Euro, ISBN 978-3-446-41952-0
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