09.08.2023 13:11:56
SPRACHEN
Von Wolf Oschlies
as Jahr 2006 hat uns auf dem Balkan einmal mehr einen Staat beschert: Montenegro, 13.812 Quadratkilometer, 620.000 Einwohner. Also etwas kleiner als das Bundesland Schleswig-Holstein und fast genau so bevölkert wie das Bundesland Bremen. Aber um Größe und Bevölkerungszahl geht es auf dem Balkan nicht, sondern es geht um Identitäten und Sprachen.
Montenegro war in den späten 1990-er Jahren Liebling der internationalen Gemeinschaft, da diese sonst nichts gegen den Belgrader Diktator Slobodan Miloševic in der Hand hatte. Wäre es nach den Montenegrinern gegangen, dann hätte diese für sie so einträgliche Situation ewig bestehen können, weswegen sie auch nie die Opposition gegen Miloševic unterstützt haben. Denn sie wussten, wenn die siegt, dann interessiert sich niemand mehr für sie, aber viele werden sich an Montenegros Rolle bei Schmuggel und anderen mediterranen Gaunereien erinnern. Da erschien die Eigenstaatlichkeit als der goldene Weg, und den hat das Land konsequent beschritten – von der Einführung der D-Mark als nationale Währung im Jahr 2000 bis zur Unabhängigkeitserklärung im Juni 2006.
Rechtlich ist Montenegro ein vollgültiger Staat, seinem Wesen nach jedoch eine jener Balkan-Karikaturen, über die in der deutschen Publizistik bereits vor 90 Jahren abfällig geurteilt wurde: Staaten werden von Nationen gebildet, die im Besitz aller Attribute sind, die eine Nation nun einmal ausmachen – gemeinsame Sprache, Identität, Geschichte, Territorium etc. Auf dem Balkan schaffen oder verlangen ethnische Gruppen eigene Staaten – in der Hoffnung, mit der Schubkraft der Eigenstaatlichkeit endlich zu der Nation zu werden, die sie nie waren oder sein können.
Montenegriner hat es seit dem späten Mittelalter gegeben, allerdings nur als Teil des serbischen Ethnikums. Sie sind und bleiben Serben – die sich von anderen Serben nur dadurch unterscheiden, dass sie in 400 Jahren osmanischer Fremdherrschaft nie völlig erobert wurden. Wo die Osmanen nicht hinreiten konnten, dort ließen sie sich auch nicht sehen, und so konnte das „Land der schwarzen Berge“ (wie der italienische Landesname Montenegro bzw. der slavische Crna Gora in deutscher Übersetzung heißt) in relativer Unabhängigkeit leben. Bei den Serben war für Montenegro auch der ironische Begriff Zemlja Bogu za ledima im Umlauf: Land hinter Gottes Rücken.
Eine montenegrinische Identität, geschweige denn eine montenegrinische Sprache hat sich nie herausgebildet – im Gegenteil: Der montenegrinische Fürst-Bischof Petar Njegoš (1813-1851) machte sich 1847 in seinem Gedicht „Pozdrav rodu iz Beca“ (Wiener Gruß an die Landsleute) über gewisse dialektale Unterschiede bei den Serben lustig: „Lipo, ljepo, lepo, lijepo – listici su jednoga cvijeta“. Was deutsch etwa so wiederzugeben wäre: „Schön, scheen, scheun – sind doch Blätter derselben Blume“. Eben dieser souveräne Umgang mit Sprache hat Njegoš befähigt, zu einem der größten Dichter der Serben zu werden, dessen Versepos „Gorski vijenac“ (Der Bergkranz) zum Pantheon der südslavischen Literatur gehört.
Heute erscheint in der montenegrinischen Hauptstadt Podgorica ein Literaturblatt „in montenegrinischer Sprache“, von der niemand sagen kann, was sie ist. Angeblich hat das Montenegrinische zwei Buchstaben mehr als das Serbische, die auch niemand kennt. Und derselbe Krampf herrscht in allen Bereichen, in denen Montenegriner die Einmaligkeit ihrer Nation und Nationalkultur belegen wollen. Selbst eine eigene Kirche haben sie und berufen sich auf kirchliche Autokephalie in der Vergangenheit, was bestenfalls halbrichtig ist: Die Serbische Orthodoxe Kirche bestand bis 1921 aus vier oder fünf autokephalen Kirchen, darunter auch eine montenegrinische, die sich dann freiwillig zu der einen serbischen Kirche vereinigten. Bei einem Vortrag in Bonn sagte 1997 der damalige Präsident, spätere Premierminister Montenegros, dass fast alle „Montenegriner Verwandtschaftsbeziehungen ersten Grades zu Serbien“ hätten – später wurde er der härteste Verfechter montenegrinischer Eigenstaatlichkeit, da nur diese ihn, den Haupt-„Paten“ des mediterranen Zigarettenschmuggels, vor italienischen Strafverfolgern retten kann.
Diese ethno-linguale Gemengelage auf dem Balkan hat Deutschen manchmal gefallen, da sie in Deutschland ähnlich bestand: Die Deutschen sind keine Nation, die sich im Grad ihrer Binnenkohäsion mit Franzosen, Engländern, Russen vergleichen könnte – es gab nie ein deutsches Paris, London, Sank Petersburg. Was es bei Deutschen gab, war ein Ensemble von verwandten Stämmen auf der Basis einer gemeinsamen Sprache, wobei jeder Stamm sein eigenes Zentrum als Kristallisationspunkt seiner kreativen Energien besaß: Weimar bei den Thüringern, Dresden bei den Sachsen, München bei den Bayern etc.
So ähnlich stellten sich Deutsche vor 100, 200 Jahren die Südslaven vor. Sie alle sind „ein einziges Volk von der nämlichen Sprache“, urteilte 1829 Leopold von Ranke und knapp 100 Jahre später schrieb der deutsche Reichstagsabgeordnete und Balkankenner Hermann Wendel: „Serben, Kroaten und alle anderen sind ein Volk. Wenn sie es nicht sind, sind die Deutschen auch keins“. Diese Auffassung teilten auch die Südslaven. Im März 1850 schlossen Serben und Kroaten in Wien einen „Schriftsprachenvertrag“, der mit den Worten begann: „Wir sehen ein, dass ein Volk eine Literatur und Sprache braucht“, letztere nach deutschem oder italienischem Vorbild, wo man auch keine künstliche Gemeinsprache erfand, sondern einen Dialekt zur gemeinsamen Hoch- und Standardsprache erhob.
Natürlich hat die romantische deutsche Auffassung von der ethnischen und lingualen Einheit aller Südslaven nie ganz zugetroffen, und inzwischen musste ganz Europa schmerzlich erfahren, wie recht Milovan Djilas hatte, als er grimmig urteilte: „Wenn man auf dem Balkan über Sprachen diskutiert, werden auch schon Messer gewetzt!“
Die politisch motivierte Sprachendifferenzierung ist Gradmesser schwindender ethnischer Toleranz: Ethnische Spannungen kündigen sich an und vertiefen sich durch rückläufige sprachliche Toleranz. Wir haben es also mit einem politisch konfliktträchtigen Thema zu tun, was zu theoretischer Klärung zwingt:
o Sprache ist menschlich (aber wohl nicht immer human).
o Sie ist ein Zeichensystem (das regional nur für den inner circle gilt).
o Sie ist ein Medium des Gedankenaustauschs (wenn man denn den Dialog will).
o Sie ist die kommunikative Hülle des Denkens (oder der gedanklichen Primitivität).
Einzelsprachen unterscheiden sich durch variierende Grammatiken, d.h. strukturelle Regelhaftigkeiten des kommunikativen Objekts Sprache. Die Betonung liegt auf Strukturen, denn erst variierende Strukturen konstituieren neue „Sprachen“, während Veränderungen im Wortbestand keine Rolle spielen. Jeden Tag taucht etwa ein Dutzend neuer Wörter im Deutschen auf, ohne dass sich die deutsche Sprache dadurch veränderte – weswegen auch die DDR mit ihren die ganzen 1970er Jahre über betriebenen Versuchen, der „sozialistischen deutschen Nation“ eine „eigene Sprache“ zu geben, scheitern musste.
Auch in der gemeinsamen Sprache der Serben, Kroaten, Bosnier und Montenegriner gab es wunderschöne, urslavische Regionalismen – z.B. kroatische brzojav für Telegramm, oporba für Opposition etc. -, aber es ist natürlich völlig verfehlt, diese minimalen lexikalischen Differenzen zur Basis einer eigenen „kroatischen“ Sprache zu machen. Frühere Deutsche haben den slavischen Balkan immer als eine Einheit gesehen, in der die „illyrische“ Sprache gesprochen wurde, für die es bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts deutsche Lehrbücher gab.
Später kam die Überzeugung auf, per politischer Willensentscheidung neue Sprachen konstituieren zu können, was auch immer wieder versucht wird, aber noch nie erfolgreich war: Nicht in Österreich 1946, nicht in der DDR nach 1970, auch nicht in Ex-Jugoslawien nach 1991. Ein Teilerfolg war nur den Österreichern in Bosnien gelungen, das sie 1878 von den Osmanen übernahmen und durch rücksichtsvollsten Umgang mit der Bevölkerung in die Höhe brachten. Um die Bosnier gegen serbischen Nationalismus zu immunisieren, forcierte man auch eine „bosnische“ Sprache – was angesichts von 90 oder mehr Prozent Analphabeten in Bosnien kaum mehr als ein politischer Trick war.
Der im März 2003 ermordete serbische Ministerpräsident Zoran Ðindic hatte in jungen Jahren in Deutschland studiert und sprach fließend Deutsch – was hinreichte, ihn (eigenem Eingeständnis zufolge) beinahe allen Landsleuten als „deutschen Spion“ erscheinen zu lassen. Ðindic hat sich immer darüber amüsiert und daran erinnert, dass der große serbische Sprachreformer Vuk Stefanovic Karadic (1787-1864) offiziell als „deutscher Spion“ diffamiert wurde, weil er – der Schüler Herders, Freund Goethes, Briefpartner der Gebrüder Grimm – fließend Deutsch sprach.
Es sei der „Orient“ in den Südslaven, hatte Ðindic abfällig geurteilt, der sie so urteilen lasse. Auf dem Balkan spricht man in der Regel mehrere Sprachen – viersprachige Analphabeten sind dort keine Seltenheit. Man spricht fremde Sprachen, weil man sie unter Fremdherren können musste oder sie zum Selbstschutz in ethnisch gemischten Regionen benötigt. Ein Serbe im Kosovo, der kein Albanisch konnte, hatte auch früher kein leichtes Leben – von jetzigen Zuständen nicht zu reden. Fremde Sprachen wurden also als Zwang oder Notwendigkeit empfunden, was sich in einer tief verwurzelten Aversion gegen Fremdsprachen überhaupt niederschlug: Wer fremd ist und das auch noch durch ein fremdes Idiom hören lässt, ist mit Vorsicht zu genießen – und vollends verdächtig ist, wer fremd ist und dennoch die Landessprache spricht. - Ich weiß, wovon ich rede, nachdem ich auf zahlreichen Einsätzen als Wahlbeobachter in Makedonien, Bosnien, Kroatien etc. oftmals als „Spion“ beargwöhnt wurde.
Bis zu Karadic haben die Serben Serbisch gesprochen und eine Art kirchliches Mittelrussisch geschrieben. Karadic riet ihnen „Schreibe, wie du sprichst, und lies, wie es geschrieben ist“. So bekam das Serbische seine leichte, weil phonetische Orthographie, aber die „orientalische“ Entfremdung von der eigenen Schriftkultur wirkt nach. In vielen Balkanslavinen ist „Buchschreiben“ immer noch ein Synonym für „Briefschreiben“ – was erklärt, warum man mit Südslaven kaum brieflich kommunizieren kann.
Aber das ist nur eine Seite der Medaille. Die andere Seite ist, dass den Südslaven und ihren nichtslavischen Nachbarvölkern durch politische Umstände die eigene Muttersprache entfremdet wurde. Das gilt z.B. für das Bulgarische, eine sehr alte und schöne Sprache. Der deutsche Slavist August Leskien sah sie gar als die erste unter den Slavinen an, weswegen er 1871 ein „Lehrbuch der altbulgarischen Sprache“ veröffentlichte, das heute noch verwendet wird – natürlich als Lehrbuch des Altkirchenslavischen.
1393 fiel Bulgarien unter osmanische Herrschaft, unter der das Bulgarische fast vom Aussterben bedroht war. Gerettet wurde es durch die „Slavo-Bulgarische Geschichte“, eine patriotische Donnerrede gegen die „Väterverächter“, die der bulgarische Mönch Paisij Chilendarski 1762 veröffentlichte. Mit ihr begann die kulturelle „Wiedergeburt“ der Bulgaren, die 1877 zu ihrer Befreiung führte.
Immer hat es in Bulgarien zwei große sprachliche Binnenregionen gegeben, das Jakane im Osten mit seinen stark betonten A- und Ja-Lauten, und das Ekane im Westen, wo alles mehr auf E hin gesprochen wird. Das machte nichts, solange es im Alphabet den alten Buchstaben er-goljam gab, der alle Sprechweisen graphisch wieder unifizierte.
Ausgerechnet der wurde durch die bulgarische Orthographiereform vom März 1945 getilgt. Diese Reform war von den neuen kommunistischen Herren durchgesetzt worden, um das Bulgarische dem Russischen anzunähern, was durch die Erhebung des Jakane zur standardsprachlichen Norm auch in etwa erreicht wurde. Die Regeln von 1945 gelten bis heute, obwohl ihre Folgen verheerend waren: Durch das ganze bulgarische Schrifttum geht ein Kulturbruch, jeder neuen Generation müssen die Orthographieregeln neu eingepaukt werden, die Kulturausstrahlung der Hauptstadt Sofia ist stark gemindert, da sie tief im Ekane-Gebiet liegt, der graphisch-phonetische Gegensatz zum verwandten Makedonischen wurde maximal vertieft etc.
Verrückter geht’s immer: Die Bulgaren schreiben seit 1.100 Jahren Kyrillisch, das ihr Herrscher Simeon I., einer der gebildetsten Männer des damaligen Europas, im Jahre 893 aus der unhandlichen Glagoliza entwickelte, die die „Slavenapostel“ Kyrill und Method um 860 als erstes Alphabet der Slaven geschaffen hatte. Von den Bulgaren kam die Kyrilliza zu Russen, Ukrainern, Weißrussen, Serben etc., sogar bei Rumänen war sie bis 1860 in Gebrauch. Und dieses graphische Medium Osteuropas wollte Stalin um 1930 abschaffen, da es ihn zu sehr an Zarentum, Orthodoxie und Reaktion erinnerte. Mit Hilfe des lateinischen Alphabets wollte er die Westausdehnung von russischer Sprache und kommunistischer Ideologie fördern, was den Bulgaren schon damals als Horrorvision erschien. Stalins Plan scheiterte, auch der von SS-Führer Heinrich Himmler, der den Bulgaren 1943 riet, das lateinische Alphabet einzuführen.
Anders aber kaum weniger abenteuerlich verlief die Geschichte des Makedonischen, das nach Ansicht des deutschen Slavisten Reinhold Trautmann die Muttersprache von Kyrill und Method war. Spätestens im 15. Jahrhundert hatte das Makedonische alle jene Eigenheiten ausgebildet, die es bis heute im Kreis der Slavinen auszeichnen, aber seine hoch- und standardsprachliche Normierung konnte erst nach 1903 einsetzen, als der große Visionär Krst Petkov Misirkov in einem Buch vorschlug, die westmakedonischen Dialekte als Basis der neuen makedonischen „Literatursprache“ zu nutzen. Bis dahin war Makedonisch ein Ensemble regionaler Dialekte, das aber im Partisanenkampf des Zweiten Weltkriegs seine kommunikative Tauglichkeit vollauf unter Beweis gestellt hatte. Insofern war es nur eine Selbstverständlichkeit, als die Partisanen am 2. August 1944 beschlossen, innerhalb der jugoslawischen Föderation eine Republik Makedonien zu schaffen, in der die „makedonische Volkssprache Amtssprache“ sein werde.
Ein eigenes Alphabet hatte diese Sprache nicht, das bulgarische wollten sie nicht übernehmen, das serbische auch nicht, und so entwarfen und verwarfen sie bis Mai 1945 drei Entwürfe, bis das neue Alphabet fertig war, das bis heute gilt.
Stürmische Entwicklungen haben nicht nur die slavischen Sprachen hinter sich, auch das Rumänische hat als „romanische Insel im slavischen Meer“ bewegte Zeiten erlebt. Wie die urbalkanischen Daker und Geten, die doch nur von 106 bis 271 n. Chr. von Rom besetzt waren, zu Romanen wurden, ist bis heute „enigma si miracol istoriei“ (Rätsel und Wunder der Geschichte), wie der Historiker Gheorghe Bratianu 1929 in einem berühmt gewordenen Buchtitel befand. Man nimmt an, dass römischer Wehrdienst, Mischehen, Verbreitung des Christentums etc. dazu verhalfen, das späte Vulgärlatein zum Rumänischen zu transformieren. Wie das genau war und wie es mit der rumänischen Ethnogenese zusammenhängt, weiß natürlich niemand – weswegen die charmante These wohl zutrifft, dass anderswo Nationen viele Dialekte bildeten, während sich um den Karpatenbogen auf der Basis eines „römischen“ Dialekts die eine rumänische Nation bildete.
In der Tat ist die dialektale Binnengliederung des Rumänischen zu vernachlässigen: Es gibt die Dacoramana im Norden der Donau, die von über 80 Prozent aller Rumänen gesprochen wird. Daneben bestehen Aromana (in Makedonien), Meglenoromana (im Norden Griechenlands) und Istroromana (in Istrien), von der Rumänen sagen, sie sei disparuta astazi (heute ausgestorben), was aber zum Glück nicht zutrifft.
Östlich des Grenzflusses Prut liegt die Republik Moldova, das ehemalige rumänische Bessarabien, das die Russen 1944 endgültig annektierten. Seit fast 15 Jahren ist es ein souveräner Staat, der aber seine rumänische Identität verleugnen muss. Bereits am 31. August 1989 bekundete das Parlament der damaligen Sowjetrepublik Moldova, das Moldover Rumänen seien und Moldovisch gleich Rumänisch. So ist es ja auch, denn eine „moldovische“ Sprache hat es so wenig geben wie eine eigene „DDR-Sprache“. Die Konsequenz daraus, nämlich die Wiedervereinigung Moldovas mit Rumänien, missfällt Russland, das seit 15 Jahren die abtrünnige Republik Transnistrien im Osten Moldovas unterstützt und Moldova mit Handelsembargos zwingt, von seiner nationalen und sprachlichen Bestimmung vorläufig Abschied zu nehmen.
Was in Moldova – Transnistrien eingangs der 1990er Jahre ein aus Russland importierter Sezessionskrieg war, verlief gleichzeitig in Jugoslawien als veritabler Bürgerkrieg. Besonders die Kroaten fühlten sich vom „großserbischen Aggressor“ bedroht und als Beweis präsentierten sie stets die scheinbare Unterdrückung der „kroatischen Sprache“. Was ein Unsinn war: In Jugoslawien gab es nur drei Sprachen, im Norden das Slowenische, im Süden das Makedonische, in den übrigen Regionen die einheitliche Muttersprache von 80 Prozent aller Bürger Jugoslawiens, „die die Serben Serbisch und die Kroaten Kroatisch nennen“, wie der weltbekannte kroatische Lyriker Miroslav Krleža gelassen urteilte. In der internationalen Wissenschaft hat man 100 Jahre lang nur von „Serbokroatisch“ gesprochen, bis die kroatischen Faschisten, die Ustaše, im April1941 durch Hitlers Krieg gegen Jugoslawien zur Macht in ihrem „Unabhängigen Staat Kroatien“ (NDH) gelangt, das änderten. Ihr buchstäblich erstes Gesetz betraf die „Reinheit der kroatischen Sprache“ – ein Ziel, das nach dem Krieg über Jahrzehnte von der nationalistischen kroatischen Emigration in Westeuropa und Südamerika lautstark propagiert wurde. In Jugoslawien hatte dieser sprachliche Nationalismus anfangs keine Chance: Im „Vertrag von Novi Sad“ beschworen Serben und Kroaten die Einheit ihrer gemeinsamen Sprache – mit den zwei Sekundär-Varietäten Serbokroatisch und Kroatoserbisch.
Der Idiotismus begann 1967 mit der Deklaration über Benennung und Lage der kroatischen Literatursprache, der weitere Provokationen folgten: Die Kroaten zogen ihre Unterschrift unter den Vertrag von Novi Sad zurück und forderten offiziell, jugoslawische Bundesgesetze in vier Sprachen zu veröffentlichen: slowenisch, kroatisch, serbisch und makedonisch. Die Bundesregierung in Belgrad sah, wie sich eine Büchse der Pandora öffnete, denn nach diesem ethnischen Prinzip müsste man noch weitere Sprachen zulassen, darunter eine muslimische für Bosnien, da es nach der Logik der Kroaten keine gemeinsame bosnisch-hercegovinische Sprache geben könne.
Inzwischen ist alles noch viel schlimmer geworden. In Kroatien gelten Kontroll- und Strafbestimmungen zur „kroatischen Sprache“, die denen des NDH ähneln, aber dennoch wirkungslos sind: Im Sommer 2006 fiel an der Theaterhochschule Split das gesamte erste Studienjahr bei Prüfungen in dem Fach „kroatische Sprache“ durch – die jungen Leute wussten so wenig wie irgendwer sonst, was „Kroatisch“ sein könnte.
Es ist ja auch nichts, wie die lächerlichen Versuche beweisen, serbische Filme in Kroatien mit „kroatischen“ Untertiteln zu versehen: Die Zuschauer lachen sich kringelig, weil es ein und dieselbe Sprache ist, abzüglich einiger kroatischer Neologismen - „zrakomlat“ (Luftdrescher) statt Helikopter -, die längst die Phantasie der Witzbolde zu Höchstleistungen trieben.
Am 1. Januar 2007 werden Rumänien und Bulgarien EU-Mitglieder. Brüssel so viel Weitsicht zuzutrauen, dass es die beiden Staaten auch als sprachliche „Pioniere“ aufnimmt, wäre wohl verfehlt, aber genau das ist die große Hoffnung für den physisch zerstörten und mental lädierten Balkan. Mit Bulgariens Beitritt wird die kyrillische Schrift EU-offiziell, was auch Serben und Makedonen zugute kommt und überhaupt ein neues Verständnis für balkanische Geschichte und Kultur eröffnen könnte. Mit Rumänien tritt faktisch auch Moldova der EU bei, wenigstens mit Blick auf Sprache und Ethnos seiner Bürger. Die EU kann Rumänien nicht allein lassen, wenn dieses sich um „Rumänen zu beiden Ufern des Prut“ kümmern wird und kümmern muss.
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