09.08.2023 13:11:56
EUROPA
Von Eberhart Wagenknecht
o zeigt der demografische Wandel am meisten Folgen? Weshalb ist die Jugendarbeitslosigkeit in bestimmten Regionen besonders hoch? Wo ist das Angebot an Arbeitsplätzen so schlecht, dass die Menschen abwandern? Das Berlin-Institut hat die Zukunftsfähigkeit von 285 europäischen Regionen anhand von 24 Indikatoren analysiert und bewertet. Eine Karte bildet die Ergebnisse farbig ab. Grün bedeutet gute Aussichten, je rötlicher die Farbe, desto problematischer wird es für die Gebiete. Schon auf den ersten Blick wird ein deutliches Ost-West-, aber auch ein Nord-Süd-Gefälle deutlich.“ – Das in etwa sind die in der Zusammenfassung der Berliner Untersuchung genannten Nutzanwendungen, die der Leser ziehen kann.
Wo Europa Zukunft hat, das will man natürlich wissen, wenn man jung ist und sich Ziele steckt. Bislang wurden Bücher weitgehend von Politikwissenschaftlern geschrieben mit dem Ergebnis, wie Steffen Kröhnert ausführt, „dass die meisten Bürger des Kontinents ‚europäische Integration’ mit Konferenzen und Verordnungen aus Brüssel assoziieren. Kurzum mit etwas, das bürokratisch, bürgerfern und unspannend ist.“
Die Autoren der brandneuen Studie aus Berlin wollen Europa und sein Zusammenwachsen begreifbar machen: Wo ziehen Menschen fort und wohin gehen sie? Wo entstehen neue Jobs? Was tut sich im lange abgeschotteten Osteuropa oder in den einst armen Staaten des südlichen oder westlichen Europas? „Für (fast) jedes Problem des sozialen, demografischen und ökonomischen Wandels hat irgendeine Region eine gute Lösung gefunden. Die Vielfalt ist ein großes Plus von Europa, die europäischen Staaten können viel voneinander lernen“, so Steffen Kröhnert.
Tatsache ist, Deutschland, Europa und viele andere Länder und Nationen werden grau und schrumpfen. In Osteuropa grassiert die Auswanderung. Dennoch hängen manche Ost-Regionen den Westen bereits ab. Die Hauptstadtregion Berlin fällt deutlich zurück.
Wie gut gewappnet für den demografischen Wandel sind die 285 Regionen der 27 EU-Länder, sowie jene Islands, Norwegens und der Schweiz? Dazu hat das Berlin-Institut 24 Indikatoren aus den Bereichen Demografie, Wirtschaft, Arbeitsmarkt, Bildung, Forschung, Klima und Gesundheit bewertet. Die beste vergebene Note auf einer Skala von 1 bis 6 war 1,9 und die schlechteste 4,9. Entsprechend steht Dunkelgrün für die verheißungsvollsten Regionen, Sattrot für die künftigen Krisengebiete.
Betrachtet werden alle EU-Staaten, sowie die Nicht-EU-Nationen Island, Norwegen und die Schweiz. Die Vielfalt der in die Wertung einfließenden demografischen, ökonomischen, sozialen und Umwelt-Daten sorgt für ein differenziertes Bild: Es zählen nicht nur die Wirtschaftsleistung, sondern zum Beispiel auch die Alterszusammensetzung der Bevölkerung, der Beschäftigungsgrad von jungen Menschen, Frauen und Älteren, die Investitionen in Forschung und Entwicklung, aber auch die Belastung der Atmosphäre mit dem Klimagas Kohlendioxid. Von all diesen Faktoren hängt die Zukunftsfähigkeit der Regionen ab.
Die Studie verdeutlicht die Folgen des demografischen Wandels und zeigt, dass die einzelnen Staaten nicht nur sehr verschieden von den Veränderungen betroffen sind, sondern auch ganz unterschiedlich mit den Herausforderungen umgehen. Alle Staaten haben Probleme zu lösen. Viele haben gute Ideen. Aber keiner hat eine Patentlösung. Das macht Europa mit seinen vielen Kulturen und Befindlichkeiten zu einem Marktplatz der Ideen, der Erfolge und Misserfolge, auf dem sich alle umschauen sollten.
Die besten Bewertungen erhalten Regionen im Norden Europas, wo obendrein viele Kinder geboren werden, allen voraus das kleine, ungemein wohlhabende und hoch entwickelte Island. Vor allem die Hauptstädte Stockholm und Oslo schneiden hervorragend ab. Die Schweiz findet sich mit sechs ihrer sieben Regionen unter den ersten zehn Plätzen. All diese Gebiete zeichnen sich durch eine relativ stabile demografische Struktur aus, durch hohe Wertschöpfung, guten Bildungsstand und beeindruckende Beschäftigungsquoten – auch bei älteren Menschen. Vergleichsweise gut stehen darüber hinaus Irland und Großbritannien da, die Benelux-Staaten, Frankreich, der südliche Teil Deutschlands, Österreich und einige wenige nördliche Gebiete in Italien und im Nordosten Spaniens.
Am unteren Ende der Wertung finden sich durchwegs entlegene, ländliche Regionen etwa in Süditalien oder Griechenland, sowie vom radikalen Strukturwandel betroffene Gebiete in Bulgarien, Rumänien und Polen. Sie sind von einem Bündel negativer demografischer Erscheinungen betroffen: Von sehr niedrigen Kinderzahlen, einer massiven Abwanderung junger Menschen und einer entsprechend starken Überalterung der verbleibenden Bevölkerung. Diese ist zudem sozial nicht sonderlich gut gestellt.
Und Island, der Superstar, der jetzt am Bettelstab geht und Geld von Russland und vom IWF erbitten muss? Dazu Steffen Kröhnert im EM-Interview: „Zugegeben, die globale Finanzkrise haben auch wir nicht vorhergesehen. Was wir in der Studie „Die demografische Zukunft von Europa“ tun, ist ein Vergleich europäischer Regionen anhand von demografischen und sozioökonomischen Indikatoren. Und da ist Island tatsächlich Spitze. Binnen kurzem hat das kleine Land den Sprung von einer Fischerinsel zu einem der wohlhabendsten und modernsten Länder der Welt geschafft. Island hat eines der höchsten Pro-Kopf-Einkommen aller 285 untersuchten europäischen Regionen und mit 81,2 Jahren die dritthöchste Lebenserwartung der 30 untersuchten Länder. Etwa 85 Prozent aller Menschen zwischen 15 und 65 Jahren sind dort erwerbstätig – Spitze in Europa und ein Wert, der auch bei den 55- bis 65-Jährigen kaum geringer ist. In diesem Alter ist in Deutschland bereits die Hälfte der Menschen im Vorruhestand. Bei aller wirtschaftlicher Modernisierung erweist sich das Land auch demografisch als nachhaltig. Die durchschnittliche Kinderzahl je Frau liegt knapp über zwei und wird in Europa nur von einer finnischen Region übertroffen. All diese Faktoren, von der Familienfreundlichkeit bis zum Bildungsstand bleiben dem Land erhalten – trotz Finanzkrise, die im Übrigen auch andere Länder gewaltig erfasst hat. Finanzmanagement kann man von den Isländern möglicherweise nicht lernen, aber bei vielen anderen Dingen können sich andere europäische Nationen eine Scheibe abschneiden.
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Lesen Sie dazu auch unser Interview: „Italien wird möglicherweise eines Tages Einwanderungsstationen in Nordafrika errichten“
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„Die demografische Zukunft von Europa – wie sich die Regionen verändern“ von Steffen Kröhnert, Iris Hoßmann, Reiner Klingholz, Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung |
„Die demografische Zukunft von Europa – wie sich die Regionen verändern“ von Steffen Kröhnert, Iris Hoßmann, Reiner Klingholz, Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung, Deutscher Taschenbuch Verlag 2008, 368 Seiten, viele vierfarbige Karten, Grafiken, Tabellen, 19,90 Euro, ISBN-10: 3423345098, ISBN-13: 978-3423345095.
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