Domino im Kaukasus – über „Filetstücke“ auf dem „eurasischen Schachbrett“EURASIEN

Domino im Kaukasus – über „Filetstücke“ auf dem „eurasischen Schachbrett“

Eine Analyse zum Konflikt um die politische Dominanz auf dem eurasischen Kontinent.

Von Kai Ehlers

Der Kaukasus und sein Umfeld werden immer offensichtlicher zum neuen Konfliktfeld zwischen Rußland, der GUS und dem Westen: Die „Rosenrevolution“ in Georgien, das tschetschenische Drama von Beslan, die „orangene Revolution“ in der Ukraine, um nur die letzten Vorgänge zu nennen, dazu viel beschworene zukünftige Unruhen in Weißrußland. Die Reihe dieser Vorgänge ist nur im geopolitischen Rahmen zu verstehen, insbesondere vor dem Hintergrund des US-Anspruchs auf die Weltherrschaft.

Die Eindämmung des Sowjeteinflusses war Hauptinhalt der US-Politik während des Kalten Krieges - die Einkreisung und Minimierung Rußlands als eurasische Hauptmacht ist das erklärte Ziel der US-Politik seit der Auflösung der UdSSR. Nachzulesen ist das in Zbigniew Brzezinskis „Die einzige Weltmacht“ (1999).

Ausgehend vom Zusammenbruch der Sowjetunion entwirft Brzezinski als Hauptaufgabe der „einzig verbliebenen Weltmacht“ die Herstellung der Kontrolle über den eurasischen Kontinent. Wer Eurasien beherrsche, beherrsche die Welt, so seine Grundthese. Erstmals werde heute der riesige Kontinent von einer außer-eurasischen Macht beherrscht, nämlich den USA. Eine „Hegemonie neuen Typs“ habe sich entwickelt, die auf der Überlegenheit der amerikanischen Kultur und der Überlegenheit der amerikanischen Machtentfaltung beruhe. Diese Hegemonie müsse jedoch durch Interventionen abgesichert werden, die geeignet seien, den „globalen Pluralismus“ zu fördern, um auf diese Weise „jedes Aufkommen eines Rivalen zu verhindern“.

Brzezinski: Rußland darf nicht wieder zum Imperium aufsteigen

Wichtigstes Objekt solcher Interventionen ist für Brzezinski das, was er das „schwarze Loch“ Eurasiens nennt, nämlich Rußland. Rußland, so Brzezinski, müsse unter allen Umständen daran gehindert werden, sich wieder zu einem eurasischen Imperium zu entwickeln. Das müsse und könne von drei „Brückenköpfen“ aus geschehen:

Der demokratischen und pluralistischen Floskeln entkleidet bedeutet diese neue Strategie nichts anderes als die systematische Anwendung des uralten imperialen Prinzips des Teile-und-Herrsche – jetzt allerdings erstmals in globalem Maßstabe. Die Reihe der Interventionen auf dieser Linie reißt seit dem Ende des Kalten Krieges nicht ab: Kosovo, Afghanistan, Irak, NATO-Stützpunkte im gesamten Kaukasus bis nach Usbekistan, „Revolutionen“ in Aserbeidschan, Georgien und der Ukraine, Aufrechterhaltung der koreanischen Spaltung. Hier ließen sich mühelos noch einige Positionen ergänzen.

Zwei Konzeptionen einer „neuen Weltordnung“

Im Kern geht es um die Neuordnung der globalen Kräfteverhältnisse nach der Auflösung der früheren bi- (genauer tri-) polaren Ordnung, also einer Ordnung, in der eine erste („freie“) und eine zweite („nicht freie“, nämlich kommunistische) Welt sich die Herrschaft über eine dritte, die Welt der ehemaligen Kolonien, teilten. Für die Neuordnung stehen sich zwei Konzeptionen gegenüber:

Die Anti-Terror-Allianz nach dem 11. September 2001, der auch Rußland beitrat, überdeckte nur vordergründig und nur zeitweilig die real existierenden strategischen Differenzen, die sich aus der Neuordnung Eurasiens und der daran geknüpften globalen Neuordnung ergaben. Tatsächlich taktierte schon Jelzin, sehr viel geschickter dann aber Putin zwischen Osten und Westen. Das ist unter anderem daran erkennbar, daß westliche Politiker - die den Kremlchef als Westler nutzen wollen - immer wieder dessen Treue zum Westen, sein Bekenntnis zur Demokratie vermissen und in letzter Zeit zunehmend aggressiver anmahnen.

Zu Putins Außenpolitik gibt es keine Alternative

Putins außenpolitischer Kurs, oft als konzeptloses Schwanken zwischen Ost und West gedeutet, ist keineswegs so konzeptionslos, wie er scheint. Tatsächlich ist er die einzig mögliche Position, die Rußland einnehmen kann im globalen Kräfteringen, dessen gegenwärtiges Zentrum Eurasien ist, in dem es aber eigentlich um die Neuaufteilung, die Neuordnung der Welt geht.

Entlang dieser von Putin vorgegebenen Linie eines „starken Rußlands“, das als Integrationsknoten einer multipolaren Weltordnung stabilisiert und reorganisiert werden müsse, sind sehr differenzierte politische Signale zu erkennen:

Daß alle drei Aspekte der Außenpolitik Rußlands sich in Auseinandersetzung mit dem US-Anspruch der „einzigen Weltmacht“ bewegen, muß ich hier nicht weiter ausführen. Denn alle diese Schritte sind auf die Gewinnung von Bündnispartnern im Rahmen einer multipolaren außenpolitischen Orientierung gerichtet. Es bleibt aber doch festzustellen, daß die US-Strategie der „einzigen Weltmacht“ einen Wladimir Putin auf den Plan brachte, der Gorbatschows und Jelzins Entimperialisierung und Entmilitarisierung, sowie die Orientierung auf eine zivile Transformation - nolens volens - in eine Abwehr der amerikanischen Intervention(en) und in einen Kampf um die innere und äußere Restauration Rußlands überführte, bzw. zu überführen im Begriffe ist.

Es droht ein neuer Kalter Krieg

Warum nolens volens? Damit meine ich, daß Rußlands historische Rolle als expansiver Imperialstaat objektiv ausgereizt ist. Mit dem Rückzug aus Afghanistan waren die Grenzen gesetzt. Die Notwendigkeit von Transformation und neuen Wegen intensiver Entwicklung ist für Rußland an die Stelle von Expansion getreten. Die seit 1991 stattfindende Einkreisung Rußlands durch USA und NATO, läuft auf eine Minimierung des Landes, eine von den USA bewußt und systematisch geschürte pluralistische Zersplitterung hinaus, statt auf eine notwendige konföderative Neugestaltung des eurasischen Herzlandes. Diese Einkreisungsbestrebungen der USA haben in Rußland restaurative Kräfte entstehen lassen, die darauf abzielen, den Staat wieder zu zentralisieren und autoritäre Strukturen zu stärken.

Faktisch sind die Beziehungen zwischen Rußland und dem Westen auf dem „besten Wege“ in eine neue Phase des Kalten Krieges überzugehen. Wenn dies verhindert werden soll, müssen die Hebel gründlich umgelegt werden.

Das „Große Spiel“ mit neuen Spielern und neuen Regeln

In dieser strategischen Konstellation kommt dem Kaukasus eine Schlüsselstellung zu. Ich will hier nicht im Detail wiederholen, was unter dem Stichwort Wiederkehr des „Great Game“ dazu in den letzten Jahren bereits erarbeitet wurde – also, daß es im Kaukasus um den Zugriff auf die kaspischen Ressourcen an Öl und Gas geht.

Ich möchte jedoch auf die neuste Ausarbeitung zu diesen Fragen verweisen, nämlich auf die Zeitschrift „Osteuropa“ (Heft 9/10, 2004). Dort wird neben dem, was Brzezinski den „eurasischen Balkan“ nennt, eine „strategische Ellipse“ beschrieben, auf die Europa seine volle Aufmerksamkeit richten müsse. Diese Ellipse ziehe sich von der arabischen Halbinsel über den Irak und den Iran, in die kaspische und kaukasische Region bis nach Zentralrußland hinein. Sie umfaßt die Gebiete mit den größten vorhandenen und vermuteten Vorräten an Öl, Gas und sonstigen Bodenschätzen auf dem Globus.

Bestens einzusehen sind in „Osteuropa“ auch die früheren Pipelines, sowie deren Umleitungen vom russischen (früher: sowjetischen) Territorium auf Transportwege und Endhäfen in der Türkei. Nach einem Blick auf diese Karten ist klar, wovon Brzezinski redet und was Rußland zurück zu erkämpfen versucht.

Aus Gründen der Aktualität möchte ich zudem darauf hinweisen, daß sich in dieser Ellipse nicht nur das klassische „Great Game“ zum x-ten Male wiederholt, sondern daß neue Spieler zu einem Spiel mit neuen Regeln angetreten sind. Beteiligt sind jetzt: die entwickelten Industriestaaten der USA und der EU ebenso wie die kommenden Industrieriesen China, Indien, der Iran, dazu die Türkei und Rußland.

Der Konflikt, der sich hier anbahnt, betrifft nicht nur den zukünftigen Zugriff auf die noch verbliebenen fossilen Ressourcen der Welt in einem schärfer werdenden Konkurrenzkampf, sondern auch die Frage, mit welchen Mitteln dieser Konkurrenzkampf ausgetragen wird – ob nach den Gesetzen imperialer Ausbeutung durch den Stärksten oder durch kooperative Völkervereinbarungen, wie z.B. dem Kyoto-Protokoll oder Vereinbarungen über die globale Entwicklung erneuerbarer Energien.

Tschetschenien ist ein strategischer Konflikt: Wo Rußland zurückweicht, ziehen morgen die Ausbilder der NATO ein.

Innerhalb des Kaukasus wuchs dem tschetschenischen Konflikt eine Rolle zu, die sich besonders für Interventionen der USA eignet. Die Gründe liegen in Tschetscheniens spezifischem Charakter:

Kurz: Tschetschenien war das schwächste Glied in der neu entstandenen Russischen Föderation. Der tschetschenische Konflikt wurde zum Stachel im Fleisch des ehemaligen russisch-sowjetischen Imperiums, der sich für dessen weitere Schwächung und verdeckte Zügelung geradezu anbot.

Von einer Unvermeidlichkeit des tschetschenischen Krieges zu sprechen oder zu behaupten, er sei insgesamt von außen gesteuert, wie das von russischen Offiziellen hin und wieder zu hören ist, trifft allerdings nicht die Realität. Die Auseinandersetzung begann mit der Auflösung der UdSSR als innerer Konflikt des neuen Rußlands, sie eskalierte in mehreren Phasen, von denen jede für sich – ungeachtet äußerer Interventionen – Möglichkeiten der Korrektur durch die russische Politik enthielt und auch heute noch enthält.

Nach dem Drama von Beslan im vergangenen September sprach Wladimir Putin von fremden Mächten, „die sich beste Filetstücke aus uns herausschneiden wollen“. Viele Beobachter wollten das als Hinweis auf bin Laden und Al-Kaida verstehen – ich sehe darin eine klare Anspielung auf Brzezinskis Formulierung von den Filetstücken, die sich die USA auf dem „eurasischen Balkan“ und im Kaukasus sichern müsse. Wer dies zurückweist, möge sich klar machen, daß Brzezinski heute als Chef des US-amerikanischen „Komitees für den Frieden in Tschetschenien“ fungiert, das unter der Vorgabe, den tschetschenischen Kampf um Freiheit und Unabhängigkeit zu unterstützen, offensiv in die russische Innenpolitik eingreift.

Brzezinskis Rolle im sowjetischen Afghanistan-Krieg

In diesem Zusammenhang ist es wohl auch angebracht, sich zu vergegenwärtigen, in welcher Weise Brzezinski sich für die Rolle rühmt, die er seinerzeit als Sicherheitsberater von US-Präsident Carter dabei spielte, die Sowjets in Afghanistan in die Falle des Djihads zu locken (Vgl.: Le Nouvel Observateur, Paris, Januar 1998).

Gefragt, ob die US-Hilfe für die Mujaheddin-Opposition 1979 auf eine bewußte Provokation eines sowjetischen Einmarsches nach Afghanistan gezielt habe, antwortet Brzezinski: „Nicht ganz. Wir haben sie nicht dazu getrieben zu intervenieren, aber wir haben wissentlich die Wahrscheinlichkeit erhöht, daß sie es tun würden.“

Auf die Frage, ob er das heute bedauere, antwortet er: „Bedauern? Was? Diese geheime Operation war eine ausgezeichnete Idee. Sie hatte den Effekt, die Sowjets in die afghanische Falle zu ziehen und Sie schlagen vor, das zu bedauern? An dem Tag, an dem die Sowjets offiziell die Grenze überquerten, schrieb ich an Präsident Carter: Wir haben jetzt die Möglichkeit, der UdSSR ihren Vietnamkrieg zu geben. In der Tat, für fast zehn Jahre mußte Moskau einen von der Regierung nicht tragbaren Krieg führen, einen Konflikt, der die Demoralisierung und den endgültigen Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums mit sich brachte.“

Die unterschiedliche Situation hinsichtlich des Islams ist eine der tiefsten Ursachen für die Differenzen zwischen Rußland und den USA

Wenn aus US-Sicht alles gut läuft, rennt Rußland heute zum zweiten Mal in die Djihad-Falle. Man kann dies nicht deutlich genug herausheben: Die Russen sind von der Kriegserklärung gegen den Terrorismus – was ja in Wirklichkeit nichts anderes ist als ein Krieg gegen den militanten Islam – um ein unvergleichlich Vielfaches mehr betroffen als die US-Amerikaner. Zu Rußland gehört nicht nur der muslimische Kaukasus, zu Rußland gehören auch muslimische Republiken in Zentralrußland. Insgesamt rund 25 Millionen Menschen, 17 Prozent der Bevölkerung der Russischen Föderation sind Muslime, bzw. Menschen, die im muslimischen Traditionsstrom leben und sich nach dem Zerfall des sowjetischen Weltbildes nun neu am Islam orientieren. Ganz zu schweigen von den muslimischen Nachbarstaaten der ehemaligen Sowjetunion: Afghanistan, Irak, Iran, Türkei.

Klar gesagt: Rußland kann keinerlei Interesse an einer irgendwie gearteten Eskalation seiner Vielvölkerkultur zu einem antiterroristischen Kulturkampf haben! Dieser Kulturkampf ist ein unerwünschter Import aus den USA, der den inneren Zusammenhalt der pluralen Gesellschaft Rußlands zu sprengen droht. U.a. wird dies an der bemerkenswerten Tatsache deutlich, daß es gerade die russischen Nationalisten sind, welche die stärkste Agitation gegen antimuslimische Propaganda entfalten und statt dessen zu einer gemeinsamen Front euroasiatischer Muslime und Christen gegen Amerika aufrufen. In der unterschiedlichen Situation von Rußland und den USA gegenüber dem Islam liegt eine der tiefsten Ursachen für die Differenzen zwischen beiden Staaten.

Neue Stellvertreterkriege: Die USA ‚pluralisieren’ und destabilisieren im Interesse einer unipolaren Ordnung.

Zur Lage in der Ukraine: Westliche Politiker und Medien schreien laut: Demokratie in Gefahr! Im Kern geht es darum, Rußland zurückzudrängen. „Rußland ohne die Ukraine ist kein Imperium mehr“, schrieb Brzezinski bereits 1994. Die Gefahr einer Spaltung des Landes, das heißt der weiteren Fragmentierung des Krisengebietes zwischen Rußland und der EU wird von der Mehrheit der westlichen Kritiker in Kauf genommen. Generell läßt sich sagen, daß sich eine Art neuer Stellvertreterkriege in Gestalt örtlicher „Revolutionen“ am Bauch Rußlands und seiner westlichen Grenze entwickelt hat: Aserbeidschan, Georgien, Ukraine, tendenziell Weißrußland. Die Rollen sind klar verteilt: Die USA interveniert und pluralisiert, die EU assistiert und moderiert aus dem Hintergrund, Rußland versucht zu stabilisieren. Begriffe wie „Pluralität“, „Demokratie“ oder „Revolution“ werden dabei fadenscheinig und verkehren sich ins Gegenteil. Paradox formuliert: Die USA „pluralisieren“ und destabilisieren im Interesse einer unipolaren, Rußland zentralisiert im Interesse einer pluralen, multipolaren Ordnung.

Eine verkehrte Welt könnte man das nennen, die beweist, daß nicht nur die globalen Machtverhältnisse, sondern in viel größerem Maße noch unsere Begriffe einer dringenden Neuordnung bedürfen, wenn wir nicht - wieder einmal - in Orwellscher Sprachverwirrung enden wollen.

Es gilt dem „revolutionären“ Zündeln der „einzigen Weltmacht“ und ihrer Parteigänger Einhalt zu gebieten.

Um die Lösung der örtlichen, historisch gewachsenen, ethnischen oder wirtschaftlichen Probleme geht es jedenfalls, wenn überhaupt, nur in zweiter Linie. Der tschetschenische Krieg, möchte ich behaupten, wird überhaupt nur noch aus der strategischen Konfliktlage heraus geführt: Wo Rußland zurückweicht, ziehen morgen die Ausbilder der NATO ein. Die örtliche Bevölkerung ist an diesem „Spiel“ nur noch als Opfer beteiligt, nicht mehr als handelndes Subjekt mit eigenen Zielen. Die große Mehrheit der noch lebenden Bevölkerung versucht, irgendwie ihr Überleben zu organisieren oder in der Diaspora den Krieg und die Vertreibung zu überdauern. Das wird solange so bleiben, wie die strategischen Interessen in dem Raum nicht entschieden sind. Und dies ist solange nicht der Fall, wie die letzten Entscheidungen über die Pipelineführung noch nicht gefallen sind.

Die entscheidende Frage dürfte sein, wie lange Rußland diese Entwicklung weiter durchhalten kann – und will. Objektiv ist die Situation herangereift, in der es der Einkreisung, dem „revolutionären“ Zündeln der „einzigen Weltmacht“ und ihrer Parteigänger Einhalt zu gebieten gilt. Zumal auch US- und EU-Interesse nicht mehr voll identisch sind, sondern sich vielmehr die Notwendigkeit ergibt, Möglichkeiten der besonderen Kooperation zwischen Rußland und der EU zu entwickeln. Weder Rußland noch die EU kann an einer neuen Teilung Eurasiens interessiert sein – dieses Mal vielleicht quer durch die Ukraine und den Kaukasus. Rußland wie auch die EU müssen handeln. Interessanterweise signalisiert der Konflikt um die Ukraine neben der Zündelei der „demokratischen Revolutionäre“ auch das Bemühen seitens der EU, die Entwicklung nicht aus dem Ruder laufen zu lassen. Langfristige Perspektiven einer für alle Seiten annehmbaren Lösung werden jedoch bisher nicht erkennbar.

Die unipolare „Revolutionsstrategie“ der USA

Damit kommen wir zur Frage der Alternativen: Kritiker des US-Kurses wie der britische Journalist John Laughland schlagen den Russen einen radikalen Schritt vor, nämlich, ihren Ölhandel von Dollar auf Euro-Basis umzustellen. „Das würde“, so Laughland, „eine massive geopolitische Verschiebung auslösen, da die gegenwärtige Funktionsweise des internationalen Finanzsystems mit der starken Bevorzugung des Dollars durch die Bindung an den Ölhandel eine der elementarsten Machtressourcen der USA darstellt.“ (Vgl. EM 11/04 „Rußland sollte sich endlich gegen die aggressive Penetration durch den Westen zur Wehr setzen.“) Der Gedanke klingt plausibel. Ein solcher Schritt – im Alleingang von Rußland unternommen – könnte jedoch katastrophale Reaktionen der USA auslösen. Ruhe zu bewahren ist geboten!

Einziger Weg aus der gegenwärtigen Sackgasse der unipolaren „Revolutionsstrategie“ der USA dürfte daher in einer reformierten, das heißt, einer auf die reale Vielfalt der heutigen Völkergemeinschaft begründeten UNO liegen. Sie könnte einen solchen Schritt, wie John Laughland ihn im Sinn hat, absichern, um damit jenen pluralen Rahmen zu schaffen, von dem die US-Strategen lediglich reden, während sie die Pluralisierung real benutzen, um ihr unipolares Interesse durchzusetzen. Aber es steht zu befürchten, daß selbst ein solches durch die Vereinten Nationen oder andere Partner abgesichertes Vorgehen Rußlands, einem Ritt über den Bodensee gleichkäme.

Vorzuziehen wäre natürlich eine Vorleistung Moskaus im Sinne seiner prinzipiellen multipolaren Orientierung, etwa die Einleitung von Gesprächen mit allen kaukasischen Beteiligten, einschließlich russischer und aufständischer Vertreter Tschetscheniens, sowie der unmittelbaren Anrainerstaaten im Kaukasus. Anzuknüpfen wäre an Vorstellungen einer kaukasischen Konföderation, die nach dem Zerfall der Sowjetunion im kaukasischen Raum aufkamen. Die Möglichkeit und die Bereitschaft Moskaus zu einem solchen kaukasischen Konfliktmanagement sinken jedoch mit jedem Offenen Brief westlicher Intellektueller (Vgl. EM 10/04 „Dummheit, Aggression oder beides?“) und mit jeder „revolutionären“ Intervention der Art, wie wir sie in den letzten Jahren erlebt haben. Anders gesagt: Die Hebel der Ost-Politik des Westens und damit der gesamten außenpolitischen Orientierung müssen herumgerissen werden. Aber nicht in Richtung verstärkter Interventionen, wie der „Offene Brief“ es fordert, sondern in Richtung einer Ersetzung des westlichen Interventionismus durch eine tatsächlich demokratische, das heißt pluralistisch und multipolar orientierte, globale Kooperation. Daß dies an die Entwicklung einer Utopie grenzt, muß ich nicht weiter ausführen, aber letztlich, das wissen wir alle, kommt die Kraft zum Handeln eben gerade aus der Utopie.

Kai Ehlers

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Der Text basiert auf einem Vortrag, den Kai Ehlers am 4./5.Dezember 2004 beim Friedensratschlag in Kassel hielt. Unter www.kai-ehlers.de finden Sie weitere Texte des Autors.

Aktuelle Veröffentlichungen des Autors zum Thema sind:

Kaukasus Russland USA

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