Draußen vor der Tür

Draußen vor der Tür

5000 Kinder leben in Georgiens Waisenhäusern. Die meisten haben Eltern. Viele sind krank. Wenige haben eine Zukunft.

Von Andrea Jeska

EM – Georgis Leben ist keines gewesen. Nur eine Hand voll Atemzüge, dann erfror er zwischen Plastikflaschen, Konservendosen und verfaulenden Lebensmitteln am Tag nach seiner Geburt. Er starb am letzten Tag des Jahres auf einer Müllkippe am Rande der georgischen Hauptstadt Tiflis, wo ihn jemand abgelegt hatte, der ihn nicht haben wollte. Er starb allein, wie auch Nino, die drei Tage nach Weihnachten in einem Heim für behinderte Mütter geboren wurde. Ihr Leben schien den Pflegekräften so wenig erhaltenswert, dass niemand dem kleinen Mädchen Wärme gab und es schon am folgenden Tag sein kaltes, kleines Dasein aufgab. Temur wurde immerhin zehn Jahre alt. Solange lebte er mit 67 anderen Kindern im staatlichen Waisenhaus Martkopi. Dann erschlug ihn die14jährige Pikria, um deren grenzenlose Wut sich niemand gekümmert hatte, mit einem Stein.

Georgi, Nino und Temur sind drei von mal zehn, mal zwanzig Kindern, die in Georgien jedes Jahr einen einsamen, qualvollen Tod erleiden, weil keiner sie schützt, füttert, warm hält. Für ihre Mütter bedeuten sie kein Glück, sondern soziale Ausgrenzung, moralische Schande, finanzielles Elend. Fast 5000 Kinder leben in Georgien in staatlichen Waisenhäusern, annähernd 0,1 Prozent der Gesamtbevölkerung. Fast alle haben mindestens einen Elternteil. Die Tatsache, dass diese Kinder nicht zu Hause groß werden dürfen, spiegelt den hoffnungslosen Zustand einer Gesellschaft wieder, in der die einst heilige Institution Familie durch Armut und staatliche Verantwortungslosigkeit schleichend zerstört wird.

Georgiens wirtschaftliche Lage ist desolat. Arbeitslosigkeit und Alkoholsucht auf der einen, staatliche Korruption und soziale Gleichgültigkeit der Regierung andererseits. Ein Land in kontrollierter Anarchie, stets irgendwie am Rande des Zusammenbruchs, mit Kriminalitäts- und Terrorismusproblemen, mit bürgerkriegsähnlichen Zuständen an seinen Grenzen und einem Pro-Kopf-Einkommen auf afrikanischem Niveau.

80 Cent für jedes Kind

Erklärt das, warum die Zahl der ausgesetzten oder in Heime abgeschobenen Kinder seit einigen Jahren so dramatisch zunimmt, dass Hilfsorganisationen Alarm schreien und einen großen Teil ihrer eigenen Gelder und Kräfte dafür aufwenden, georgische Babys und Kinder vor der Verwahrlosung und Hoffnungslosigkeit zu bewahren? „Überforderung und Alleinsein“ sind laut Rebecca Lymann von der Hilfsorganisation World Vision die Hauptgründe für den drastischen Rückgang elterlicher Liebe und Fürsorge. Meist würden jene Kinder fortgegeben, die behindert seien oder an einer schwierigen Krankheit leiden, die keinen Vater haben oder deren Mütter minderjährig sind. Es gebe keine fachliche Beratung oder Hilfe für die Eltern chronisch kranker Kinder, keine Krankenversicherung, die für die Kosten aufkommt. Mutter-Kind-Heime für ledige Mütter seien unbekannt, lediglich die Kirche unterhalte einige Säuglingsheime. In einem von ihnen seien im vergangenen Jahr 208 Kinder abgegeben worden, erzählt Lymann und bekennt, lieber nicht ausrechnen zu wollen, wie viel Prozent der in Tiflis geborenen Kinder das seien.

Nona Magradze ist die Leiterin des Ersten Waisenhauses von Tiflis, wie die Institution, die in der Sowjetzeit erbaut wurde, noch immer heißt. Magradze ist eine korpulente Frau mit einem müden Gesicht ohne Wärme. Schlurfend führt sie durch die Flure ihres Hauses, regungslos registriert sie das Entsetzen der Besucher. Sie wisse schon seit Jahren nicht mehr, wie sie mit ihrem Budget auskommen solle, sagt sie schließlich. 80 Cent pro Kind am Tag, und das schon seit einigen Jahren, dabei seien die Preise gestiegen. Nein, das sei nicht mehr erträglich. Deshalb gäbe es für die Kinder nur noch drei, statt vier Mahlzeiten am Tag, Fleisch nur noch einmal in der Woche, Obst gar nicht mehr. Auch die Lehrerinnen, ja sogar sie selbst, erhielten manchmal keine Bezahlung, in diesem Jahr zum Beispiel schon seit drei Monaten nicht. Seit 15 Jahren habe sie keine neuen Möbel, keine Kleidung für das Waisenhaus mehr kaufen können. Die Heizung, von einem mildtätigen Privatier im vergangenen Jahr gespendet, blieb den ganzen bitteren und langen Winter außer Betrieb, weil die Waisenhausleitung die Rechnungen nicht hätte bezahlen können. Und als sei das alles nicht schlimm genug, lamentiert sie, müsse sie auch noch die Kinder der Flüchtlinge aus Abchasien mit durchfüttern, die man im Westflügel des Heimes einquartiert hat. „Einmal im Jahr kommen Vertreter der Regierung. Jedes Mal versprechen sie, alles wird besser, Hilfe werde kommen. Kaum sind sie zur Tür heraus, haben sie die Worte schon wieder vergessen.“

In den Schlafräumen stinkt es nach Urin, Schweiß, Schimmel und Ausdünstungen.

Das erste Waisenhaus von Tiflis ist eine Anstalt, als sei sie von Charles Dickens erfunden. Von feuchten Decken fällt der Putz, ein Teil der Fenster ist ohne Glas, in den Fluren und Zimmern ist es bitter kalt. Nicht einmal die Krankenstation oder das Zimmer der Leiterin ist geheizt. Im Zahnarztzimmer, einem schäbigen Raum mit einem uralten Dentalstuhl und einigen Bohrern, die mehr nach Folterinstrumenten als nach medizinischem Gerät aussehen, arbeitet die Ärztin in dicker Wolljacke und Gamaschen. 20 bis 30 Betten stehen in den Schlafräumen, es stinkt nach Urin, Schweiß, Schimmel und Ausdünstungen. Alles Private ist hier öffentlich, jedes Luftholen wird mit anderen geteilt, kein Raum für Entfaltung. Jeder Gedanke, Traum muss dicht am eigenen Leib gehalten werden, zwanzig Zentimeter weiter beginnt der Lebensraum des anderen.

An den Wänden sind die feuchten Flecken groß wie Wagenräder. Dünne Wolldecken liegen auf den Betten. Es gibt keine Bilder, keine Poster, keine Bücher, nicht einmal Schränke für persönliche Gegenstände. Schläuche, nackter Boden in den Duschräumen, der Fäkaliengeruch ist stechend. Nur kaltes Wasser. Oft gar kein Wasser, sagt die Leiterin.

Auf der Schulbank mit Mänteln und Handschuhen

Es ist ein Ort, an dem man glaubt, schweigen zu müssen. Am späten Morgen ist die Stille auf den Fluren bedrückend. Nur in den Ecken, an denen primitive Heizstrahler aus blanken Kupferdrähten stehen, wird gekämpft. Wer dort einen Platz zum Händewärmen gefunden hat, verteidigt ihn gegen die anderen. Auch in den Klassenzimmern ist es still, Kerzen erhellen die Räume. Die Kinder sitzen mit Mänteln und Handschuhen in den Bänken.

Zusammen mit UNICEF und der Organisation Every Child hat World Vision (WV) ein Projekt mit dem trockenen bürokratischen Namen „Verhinderung von Säuglingsaussetzung und Deinstitutionalisierung“ ins Leben gerufen. „Leave no child out“ lautet das Motto dieser Kampagne, mit der UNICEF auch in Afrika wirbt, wo Aids Kinder zu Tausenden zu Waisen macht.

In Georgien ist es das Ziel, den Frauen soweit Hilfe anzubieten, dass sie willens und fähig sind, ihre Kinder zu behalten oder zur Adoption freizugeben, und ihnen somit ein Leben außerhalb der staatlichen Institutionen zu ermöglichen. Ostern dieses Jahres wurde das erste Mutter-Kind-Haus eröffnet. In farbenfrohen Einzelzimmern mit Wiegen und Wickeltischen haben die Mütter bis zu drei Monaten Zeit, frei von Existenznöten eine Zukunftsperspektive für sich und ihr Kind zu finden.

Ein weiteres Anliegen ist es, Familien so zu unterstützen, dass sie gewillt sind, ihre Kinder aus den Heimen wieder nach Hause zu holen oder, wenn das nicht möglich ist, einer Adoption, alternativ einer Pflegefamilie zuzustimmen. Immer öfter gelänge es, so Lymann, die Familien zu überreden, ihre Kinder aus den Institutionen nach Hause zu holen.

Eine deutliche Verbesserung der Lage der Kinder wird indes durch die soziale Misere begrenzt. Im Heim für ausgesetzte oder abgegebene Säuglinge liegen weinende Kinder in nassen Betten, manche sind gerade ein paar Tage alt. Erst das Eintreffen der WV-Vertreter bringt die Säuglingsschwestern dazu, die Babys mit deutlichem Unwillen zu wickeln. Für Zärtlichkeit bleibt keine Zeit. Ein Frühchen liegt bewegungslos in seinem Bett, die Augen wie die eines Greises, die winzigen Hände sind blau vor Kälte.

Ein Stockwerk tiefer sind die Kleinkinder untergebracht: In einem riesigen Laufstall, an dessen Gittern sie sich eifrig hochziehen, als die Besucher den Raum betreten. Die meisten der Kleinen leiden am Down-Syndrom, einige sind deutlich verhaltensauffällig, andere weinen ständig. Spezielle Betreuung gibt es für sie nicht, Förderung schon gar nicht. Das von Hilfsorganisationen gespendete Spielzeug hängt an der Decke, weit außerhalb der Reichweite der Kinder. Im Vergleich zu ihren Altersgenossen in anderen Heimen ginge es diesen Kleinen richtig gut, sagt Lymann. „Als wir vor ein paar Jahren begannen, uns für Georgiens Waisenkinder zu engagieren, haben wir die schrecklichsten Dinge gesehen: Wundgelegene Kinder, die an Betten gefesselt waren, die dringend ärztliche Versorgung brauchten, die manchmal mit dem Tod rangen.“

Nach dem Waisenhaus folgt meist Prostitution oder Kriminalität

Für die meisten dieser Kinder ist die Waisenhauszeit nicht mit der Volljährigkeit beendet. Aus der verlorenen Kindheit wird eine Jugend ohne Perspektiven. Mehr als die Hälfte, schätzt Nona Magradze, bleiben im Waisenhaus bis sie über 20 Jahre alt sind, manche ihr Leben lang. „Sie arbeiten dann als Lehrerin oder in der Küche, putzen, machen den Garten. Alles für regelmäßige Mahlzeiten und ein bisschen Geld.“ Im Waisenhaus gelebt zu haben, sei in Georgien ein Stigma, „dort draußen“ bleiben den Kindern deshalb wenig Alternativen: Prostitution für Mädchen, Kriminalität für die Jungen.

Madonna, die weder singen kann, noch ein Gesicht hat, das man in Öl verklären möchte, ist eine von denen, die nicht wissen, wohin. Sie ist 22 Jahre alt, ihr ganzes Leben hat sie im Waisenhaus verbracht. Ihr Körper ist mager, die Haare struppig, die Unterlippe eine zerkaute Linie. Den Namen hat sie sich selbst ausgesucht. Aus Großmäuligkeit oder als winzigen Rest einer Hoffnung, dem muffigen Elend zu entkommen und – wenn nicht zu einem Star –zumindest zu einem Menschen zu werden. Wie sie wirklich heißt? Ach, das habe sie längst vergessen. „Da war niemand, der mir einen Namen gab.“

Kaukasus

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