Ein Land und sein UrtypBULGARIEN

Ein Land und sein Urtyp

Bulgarien ist Balkan, gewiss. Aber es ist auch seit jeher europäisches Kulturland, mit einer bislang ungestillten Europa-Sehnsucht. Und mit deutschen Bezügen, von denen die wenigsten wissen: Am Vorabend des Zweiten Weltkriegs war die Deutsche Schule Sofia mit ca. 1.700 Schülern, darunter nur knapp 80 Deutsche, die größte deutsche Auslandsschule der Welt. Na ja, und in beiden Weltkriegen war Bulgarien Deutschlands Verbündeter, also auch Weggefährte in die Niederlage. Jetzt kehrt es heim.

Von Wolf Oschlies

B G, das steht für Bulgarien, seit Jahresbeginn 2007 EU-Mitglied, und für Baj Ganjo – ein Bulgare, aber was für einer! Eigentlich ist er eine jener literarischen Figuren, mit denen in Osteuropa ganze Generationen aufwachsen: Polen mit „König Hänschen“ von Janusz Korczak, Tschechen mit dem „Großmütterchen“ von Boshena Nemcova, Russen mit den Sagen um Ilja Muromez, Südslaven mit den Legenden um den Königssohn Marko (der in Wirklichkeit ein versoffener Feigling aus dem 14. Jahrhundert war) und so weiter bis zu den Bulgaren. Die lachen seit 110 Jahren über Baj Ganjo und werden es weiter tun, solange es Bulgaren gibt.

Aleko Konstantinov und Baj Ganjo

Der literarische „Vater“ von Baj Ganjo prangt auf jedem 100-Leva-Schein: Aleko Konstatinov (1863-1897). Da er ein angesehener und vielbeschäftigter Jurist war, als Liberaler auch politisch engagiert, veröffentlichte er seine Feuilletons oft unter dem Pseudonym „Schtastliveza“, was „der Glückliche“ heißt.

„Schtastliveza“ ist auch der Hausberg der bulgarischen Hauptstadt Sofia benannt – Hommage an den großen Aleko Konstantinov, der als leidenschaftlicher Weltenbummler seinen Bulgaren Wege in alle Himmelsrichtungen wies, der seine Landsleute auf die Schönheit der heimischen Natur verwies und sie als Begründer der bulgarischen „touristischen“ Bewegung auf deren Schutz vergatterte, der mit Baj Ganjo einen wunderbaren und erzkomischen Zyklus von Geschichten um einen bulgarischen Urtyp schrieb. Man sagt, Aleko habe seine Baj Ganjo-Stories erst im Kreise seiner Freunde lachgetestet, bevor er sie veröffentlichte. Vermutlich war es nicht so. Der Dichter stand vielmehr dem Intellektuellenzirkel „Vesela Balgarija“ (Fröhliches Bulgarien) vor, deren Mitglieder er je eine Begebenheit mit Baj Ganjo erzählen lässt: Der klassische „Plot“ eines Rundum-Fabulierens: Bulgarische Intellektuelle aus dem späten 19. Jahrhundert geraten auf ihren Reisen in die Gesellschaft des ambulanten Rosenöl-Händlers Baj Ganjo und müssen so einen besonderen Clash of civilisations erleben und überleben. Der in Kleidung, Manieren, Sprache und Gehabe so archetypische Bulgare bricht wie ein Naturereignis in Budapester Opernabende, Wiener Bäder, Dresdener Trauerfeiern, Prager Ausstellungen und weitere Veranstaltungen ein, stellt alles auf den Kopf und wundert sich dann, wie verrückt seine Umgebung aussieht.

Bulgarisches Europa – einst und jetzt

Wer heute, ein gutes Jahrhundert später, Alekos Baj Ganjo-Stories wieder liest, der staunt zunächst über die Gleichheit der bulgarischen Emotionen: „Europa“ damals wie heute. Aber wenn für Bulgaren heute „Europa“ die Chiffre für kühle Prüfung eigener Perspektiven, rationale Erwägung eigener Möglichkeiten und radikale Anpassung an Brüsseler Standards ist, so war es vor Zeiten nur der mehr oder minder misslungene Versuch, geografische Zugehörigkeit in mentale Nähe und entwicklungspolitischen Gleichschritt zu verwandeln.

Wenn Baj Ganjo vor 120 Jahren nach „Europa“ reiste, dann startete er voller Stolz in einem bulgarischen Zug mit bulgarischer Lokomotive, überzeugt davon, dass „Europa sehen wird, dass Bulgarien nicht schläft“. Aber dann wird es Abend, im ganzen Zug gibt es kein Licht – „das haben wieder die verdammten Ausländer getan“ – und am Ende bestätigt die ganze Reisegesellschaft die alte Erkenntnis, dass der „Balkan“ dort beginnt, wo die Toiletten der Fernzüge eine Stunde nach Grenzübertritt zum Davonlaufen aussehen.

Wie anders ist das moderne Bulgarien. Die EU ist sich ja immer noch nicht ganz gewiss, ob sie mit der Aufnahme Bulgariens richtig gehandelt hat. Sie sollte sich gewiss sein. Eine Union, die bekennende Antieuropäer (wie Briten) und notorische Bilanzfälscher (wie Griechen) verkraftet, kann durch den kühlen Realismus der „Preußen des Balkans“ (wie sich die Bulgaren stolz nennen) nur gewinnen. Ministerpräsident Sergej Stanischeff hat es bei den großen Feiern zum EU-Beitritt unmissverständlich gesagt: Die Bulgaren sind weder Euroskeptiker noch Euroillusionisten – sie sind Eurorealisten, und wenn die EU-Mitgliedschaft „schockartige Preiserhöhungen“, „Firmenzusammenbrüche“ und andere Misshelligkeiten bringt, dann wird das in Bulgarien niemanden groß aufregen, da alle Bulgaren es als unvermeidlichen, vorübergehenden „Tribut“ an die endlich erreichte Zugehörigkeit zur europäischen Familie ansehen. „Denn“, so Stanischeff, „es gibt keinen Staat, der durch die EU-Mitgliedschaft nicht seine wirtschaftliche und soziale Entwicklung beschleunigt hat, alle Gesellschaften und Volkswirtschaften verzeichneten größere Erfolge“.

Bulgariens europäische Kulturmission

Mit Bulgariens EU-Beitritt am 1. Januar 2007 wurde auch Bulgariens kyrillische Schrift europäisch. Und was nun? Wird es den Europäern wie jenen Touristen ergehen, die sich in Sofia über die vielen Ladenschilder PECTOPAH wunderten – weil sie nicht wussten, dass sie vor einem kyrillisch geschriebenen „Restoran“ standen. Russen, Ukrainer, Belarussen, Bulgaren, Serben, Makedonen schreiben seit rund 1150 Jahren kyrillisch. Die Brüder Kyrill und Method - Mönche aus Thessaloniki und seit 1985 Schutzpatrone Europas – schufen im Sommer 862 das erste slavische Alphabet, die Glagolica, die erst 30 Jahre danach vereinfacht und nach dem Heiligen Kyrill benannt wurde. So beschrieb ein Augenzeuge, der Deutsche Reginon von Prüm, die Anfänge slavischer Schriftkultur.

Später haben viele die Kyrillica weiter verändert, am nachhaltigsten der große Russen-Zar Peter im frühen 18. Jahrhundert, der serbische Sprachreformer Vuk Karadic um 1830 und Lenin nach 1919. Um 1930 wollte Stalin sie abschaffen, weil sie ihn zu sehr an Zarentum, Orthodoxie und Reaktion erinnerte. Derzeit existiert über ein Dutzend Varianten der kyrillischen Schrift, die bis 1870 auch Rumänen schrieben und im frühen 20. Jahrhundert viele nicht-slavische Völker der Sowjetunion als Schriftnorm annahmen.

Bei Westeuropäern gilt die kyrillische Schrift als höllisch schwierig, ist jedoch in Wahrheit kinderleicht. Vor 45 Jahren, als in Deutschland der Übergang von der Grund- zur Oberschule noch an Aufnahmeprüfungen gebunden war, hatte ein Hamburger Lehrer stets die besten Prüfungsergebnisse. Er ließ die Kinder spielen – mit seiner „Geheimschrift OMATEK“. Der Pädagoge war nämlich Russischlehrer und seine „Geheimschrift“ war das kyrillische Alphabet, in dem O-M-A-T-E-K mit lateinischen Buchstaben identisch sind.

Jüngster Zweig am kyrillischen Stamm ist das im Mai 1945 gebildete makedonische Kyrillisch. Am unglücklichsten sind die Bulgaren dran, die im März 1945 aus ihrem Kyrillisch einige archaische Zeichen tilgen mussten – ausgerechnet die, welche ost- und westbulgarische Dialekte schriftlich vereinigten und deren Fehlen seither einen Bruch in bulgarischer Kultur markiert. Jetzt bringen die Bulgaren das Kyrillische in die EU und haben bei der Europäischen Zentralbank schon angefragt, ob der Euro demnächst auch als kyrillischer „Evro“ ausgewiesen werden könnte – auf die Gefahr hin, dass die Europäer ihn als EBPO lesen.

Deutscher Partner Bulgarien

Zieht vom europäischen Osten den deutschen Beitrag zu Geschichte, Kultur, Ökonomie etc ab, und er wird ziemlich „gerupft“ aussehen! Über Jahrhunderte hinweg waren die Deutschen Brücke und Wegweiser, Förderer und Dolmetscher, Partner und Freund ihrer östlichen Nachbarn. Seit König Ludwig der Deutsche mit Bulgaren-Chan Boris I. Mitte des 9. Jahrhunderts die Christianisierung aller Bulgaren vereinbarte, hat noch jedes Jahrhundert seinen Beitrag zur bulgarisch-deutschen Wechselseitigkeit geliefert. Ausgenommen zwei „deutsche“ Dörfer im Balkan-Gebirge, Endshe und Bardarski Geran mit zusammen ca. 1.100 „Seelen“, gab es in Bulgarien nie eine nennenswerte deutsche Minderheit. Das hat das Land nicht gehindert, zum osteuropäischen Pionierland von Schulen mit deutscher Unterrichtssprache zu werden.

Ende des 19. Jahrhunderts entstanden sie in Plovdiv, Sofia, Ruse, Varna und Burgas. Am Vorabend des Zweiten Weltkriegs war die Deutsche Schule Sofia mit ca. 1.700 Schülern, darunter nur knapp 80 Deutsche, die größte deutsche Auslandsschule der Welt. Bereits im März 1952, also noch zu Lebzeiten Stalins, nahm Bulgarien diese gute Tradition wieder auf, und schon wenige Jahre später „arbeiteten“ die alten Schulen wieder, begleitet von zahlreichen „Parallelklassen mit deutscher Unterrichtssprache“ an anderen Schulen.

In beiden Weltkriegen war Bulgarien Deutschlands Verbündeter, also auch Weggefährte in die Niederlage. Nach der zweiten dieser Niederlagen erinnerten sich die Bulgaren wieder an ihre klassische Russophilie und versuchten es mit Moskau – sehr erfolgreich, denn sowjetische Rohstoffe verhalfen dem Land zu einem relativ hohen Wohlstand. „Ihr Engländer seid blöd, habt eure Kolonien aufgegeben“, sagte Staats- und Parteichef Todor Shivkov in den 1970er Jahren einmal zum britischen Botschafter, „wir haben unsere Kolonie noch: die Sowjetunion“. Das brachte ihm gewaltigen Ärger in Moskau ein – und höchste Reputation bei seinen Bulgaren.

Bulgarien hatte immer viele Freunde in Deutschland

Bulgarien hat stets das Kunststück fertiggebracht, im Umgang mit der Bundesrepublik Deutschland zwar Vorgaben aus Moskau und Ost-Berlin zu beachten, diese vor heimischem Ort aber so lässig zu handhaben, dass Deutsche allgegenwärtig waren – auf den Messen in Plodiv, mit Kulturwochen in Sofia, mit Versandläden im ganzen Land etc. Das aufstrebende Touristikland litt unter DDR-Störmanövern und Honeckers „Abgrenzung“. Als Doktrin 1971 provokativ in Bulgarien verkündet, wurde ihm von den  Bulgaren nie verziehen. Und die Weltkongresse für Bulgaristik, 1981 und 1986 mit größtem Erfolg in Sofia inszeniert, waren stets so etwas wie ein westdeutsches „Heimspiel“.

Umgekehrt hatte Bulgarien in Deutschland stets so viele Freunde, dass z.B. Bismarcks ausgeklügelte Russland-Politik in Gefahr geriet. Darum donnerte der „Eiserne Kanzler“ am 11. Januar 1887 im Reichstag: „Was ist uns denn Bulgarien? Es ist uns vollständig gleichgültig, wer in Bulgarien regiert und was aus Bulgarien überhaupt wird. Die Freundschaft von Russland ist uns viel wichtiger als die von Bulgarien und allen Bulgarenfreunden, die wir hier bei uns im Lande haben“. Vor solche „Alternativen“ ist das gegenwärtige Deutschland zum Glück nicht mehr gestellt.

Aber gibt es noch „Bulgarenfreunde im Lande“? Als Bundespräsident Richard v. Weizsäcker im Herbst 1988 zum Staatsbesuch in Bulgarien war, sprach er begeistert von der „Wiederentdeckung einer alten Freundschaft“.

Baj Ganjo und die Deutschen

Was dem „bulgarischen Leibniz“ Peter Beron (um 1795-1871) – der um 1830 in Deutschland Medizin studierte und später manche seiner großen Werke in Deutsch veröffentlichte – recht war, konnte Baj Ganjo nur billig sein. Alekos Geschichten über ihn sind, eine wie die andere, liebevoll ausgestrichelte Miniaturen. Etwa die von Baj Ganjos Badeausflug in Wien: Erst findet er in der Kabine keinen Platz für seine Wertsachen, nimmt sie also im Taschentuch verknotet ins Wasser mit. Dann betritt er, die Beine von bunten Balkan-Strümpfen verfärbt, das Bassin, jumpt über die Abgrenzung mit gewaltiger Bugwelle ins Damenbecken, schockt die „versteinerten Deutschen“ mit abenteuerlichen Schwimmstilen „auf Matrosenart“ und steht schließlich auf dem Sprungturm, wie King Kong auf die Brust trommelnd und brüllend: „Ich bin Bulgare, Bulgaaaare!“

Aleko Konstantinov war Bulgare – klüger und gewitzter als das Gros seiner Landsleute, aber ihnen ehrlich zugetan. Er kannte sie, hat ihre archaischen, turko-slavischen Sprachkonventionen im Ohr gehabt, ihre bäuerische Souveränität geschätzt, ihren Witz geliebt und sie mit Baj Ganjo in die unmöglichsten Situationen geführt, aus denen sie aber immer wieder freikamen. Vielleicht mit ein paar blauen Flecken, aber das machte ihnen nichts: Na sveki kilometar na sveta stoi pone edin Balgarin, sagen sie seit Jahrhunderten: Auf jedem Kilometer der Welt steht mindestens ein Bulgare.

Dobre doschli – herzlich willkommen!

Und darum ist auch die Begegnung der beiden berühmtesten Bulgaren das Kronjuwel von Alekos Geschichten: Baj Ganjo kommt nach Prag und findet, nach heftigem Gezänk mit Droschkenkutschern, das Haus von Jirecek. Prof. Dr. Konstantin Jirecek (1854-1918), Tscheche aus Wien und der größte Balkanologe seiner Zeit. In den Jahren 1879 bis 1882 war er Bildungsminister in Bulgarien gewesen (solche Karrieren waren damals in Bulgarien möglich) und hat darüber ein Tagebuch hinterlassen, das die zwerchfellerschütterndste Sammlung europäischer Flüche und Schimpfwörter ist. Und die beiden treffen nun auf einander, der in Europa hochgeehrte Intellektuelle Jirecek.und der primitive Rosenöl-Höker Baj Ganjo, der sich („Du kennst mich, wir sind doch Bulgaren“) bei Jirecek einquartieren möchte. Daraus wird natürlich nichts, was Baj Ganjo nicht weiter verstimmt („ach ja, diese Gelehrten“).

Sagen wir es so: Das Bulgarien von heute hat zwar mit dem Bulgarien von Baj Ganjo kaum noch etwas gemein. Aber wenn Bulgarien jetzt in die EU kommt, dann steht unsichtbar Aleko Konstantinov an der Brüsseler Pforte und sagt mit warnendem Lächeln: Dobre doschli – herzlich willkommen! Wer sonst sollte da stehen? 

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