Eine gerechtere Welt fur einen Euro am Tag

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Kinderpatenschaften sind das Fundament langfristiger Entwicklungshilfe-Projekte

Von Andrea Jeska

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Kinderpatenschaften sind das Fundament langfristigerEntwicklungshilfe-Projekte 

EM – Das Orchester ist nach Hause gegangen. Die Künstlereilen zur nächsten Veranstaltung. Die Lichter sind aus, die Bühneist leer. Ein schöner Abend, sagen die Zuschauer im Saal und vor dem Fernseher.So niedlich, diese Kindergesichter. So rührend, ihr Schicksal. Zum Weinen.Zum Glücklich-Sein, daß man es besser hat. Mit Dach über demKopf und genügend zu essen. Ohne Krieg, ohne Vertreibung, ohne Naturkatastrophen,die das bißchen Ernte vernichten.

Am Anfang der meisten Patenschaften für ein Kind aus einem Entwicklungslandsteht ein Fernsehabend mit humanitärem Hintergrund. Da werden im Großformatbittende Kinderaugen gezeigt, rührende Schicksale erzählt, Spendennummerneingeblendet, Patenschaftskontakte vermittelt. Dann ist die Show zu Ende. Somancher, der sich aus reinem Gefühl hinreißen ließ, siehtsich wenig später mit der Realität der Entwicklungshilfe konfrontiert.Das erste Foto des neuen Patenkindes liegt auf dem Tisch, dazu ein Bericht überdie Lebensumstände des Kindes und Einzelheiten über das Projekt,welches der Pate mit seinem Geld mitfinanziert. Aus dem Zuschauer, der im Schutzseiner eigenen Welt gerührt sein kann, ist ein Teilnehmer am Streben nachbesseren und gerechteren Lebensbedingungen geworden.

„Malawi?“

Sofia Makhaza aus Kunyinda in Malawi (Südost-Afrika) hat keine Ahnung,was eine Fernsehshow ist. Mit Glück wird es in ihrer Schule irgendwanneine Weltkarte geben, auf der sie sehen kann, wo Deutschland liegt. Daß dorteine Familie staunend ihre Fotos betrachtet, weiß sie nicht. Monate istes her, daß Mitarbeiter der Hilfsorganisation World Vision in ihr Dorfkamen, und mit den Ältesten und den Müttern berieten, wer in dasProjekt MWI-11-17032 – Regionalentwicklungsprojekt zur Ernährungssicherung,Trinkwasserversorgung, Impfkampagnen und Verbesserung der Bildungschancen vonKindern und Erwachsenen, Laufzeit bis 2013 – aufgenommen werden soll.Sofia wurde als eines von 1000 Kindern ausgewählt.

Sofia wird an Familie C. aus Kassel vermittelt. Sie haben eine Tochter, einenHamster und ein Reihenhaus. Von Patenschaften hatten sie schon vorher gehört,manchmal das Thema angedacht, immer wieder vergessen. Die Fernsehshow hatteden Anstoß gegeben, der ihnen noch fehlte. Weil die Eltern als Studenteneinmal durch Afrika gereist waren, entschieden sie sich für ein Kind vondort. Eines im Alter von Tochter Anne. Wegen des kulturellen Austausches. DiePatenschaft kostet sie dreißig Euro im Moment, einen Euro am Tag.

Einige Wochen später halten sie das Foto von Sofia und die Beschreibungdes Projektes in den Händen. „Malawi?“ hatte Anne fragendgesagt. „Nie gehört.“ Ein ernstes Kind in einem staubigenblauen Kleid schaut Familie C. entgegen. „Wie zwölf sieht sie nichtaus“, sagt Anne. „Wahrscheinlich unterernährt“, meintder Vater.

Sofias Gesundheitszustand sei zufriedenstellend, erfährt Familie C.Zu ihren täglichen Pflichten gehöre das Fegen der Hütte undHilfe bei der Feldarbeit. Am liebsten spielt sie Hüpfspiele. Darübermuß Anne lachen. Hüpfspiele mit 12! Erst viele weitere Briefe späterwird Familie C. klar, daß Sofia Hüpfspiele mag, weil sie nichtsanderes kennt. Und hat. Nur Stöcke, um Quadrate in den Sand zu malen.Nur Steine, um diese in die Quadrate zu werfen.

Sofia komme aus ärmlichen Verhältnissen, wird Familie C. mitgeteilt.Die Einkünfte der Eltern seien sehr gering. Um die Familie zu unterstützen,wurde Sofia als Patenkind ausgewählt . Mit ihrem Patenschaftsgeld hilftFamilie C. nicht nur Sofia, sondern unterstützt zugleich die Regionalentwicklung.

Ähnlich staunend betrachtet Sofia Wochen später die Fotos der FamilieC. Ein Haus aus Stein. Daß Anne in ihrem Alter ist, kann auch Sofia nichtglauben. Für sie sieht das Mädchen wie eine erwachsene Frau aus.Kopfschütteln auch über das Foto des Hamsters und über Annesenthusiastische Beschreibung des Haustiers. Anne schreibt von Sommerferien,von Freiheit und Schwimmen. Sofia schreibt von Sommerferien, von Arbeit undWassermangel.

Von der ersten World-Vision-Patenschaft bis zur Zusammenführung vonFamilie C. und Sofia waren viele Hürden und Hilflosigkeiten zu überwinden.Den Grundstein legte 1947 der amerikanische Journalist Bob Pierce, der währenddes Korea-Krieges zwei traumatisierte, verwahrloste Kinder auflas und in einWaisenhaus brachte. Dort wurde er abgewiesen, das Heim war bereits überfüllt.Auf Pierce’ Beschwerde hielt die Oberin ihm vor, er selber würdeschließlich auch nichts tun. Pierce war betroffen. Er brachte die beidenKinder in ein Dorf und bezahlte eine Familie dafür, sie aufzunehmen.

Kein Star, aber eine Idee war geboren. Aus der Idee wurde eine Organisation,zunächst unter amerikanischer Leitung. Paten spendeten jeden Monat einenbestimmten Betrag, um einzelnen Kinder bessere Ernährung, medizinischeVersorgung und Schulbildung zu ermöglichen. Zum größten Teilwaren diese Kinder Waisen, die in Heimen lebten. Bereits 1966 unterstützteWorld Vision 22.500 Waisenkinder in 19 Ländern.

1979 wurde World Vision Deutschland gegründet. Es war die Zeit der Entwicklungshilfemit Überlegenheitsanspruch. Die erste Welt gab, die dritte Welt hattedankbar zu sein. Bis zur heutigen Erkenntnis, daß von den Betroffenenselbst getragene, organisierte und ausgeführte Entwicklungshilfe der besteWeg zur Armutsbekämpfung ist, vergingen noch einige Jahre.

Der Siegeszug der Nachhaltigkeit

Mit den Konzepten der Entwicklungshilfe veränderten sich auch die Patenschaftsprogramme.Dem anfänglichen „Wir helfen einigen Kindern“ folgte die Einsicht,die Ursachen des Hungers und ungerechte Strukturen damit nicht bekämpfenzu können. Die Kinder, die von Patenschaften profitierten, sahen sichbald aus der Gemeinschaft ausgegrenzt.

Das Wort „Nachhaltigkeit“ begann seinen Siegeszug durch die Organisationen.Nachhaltige Ernährungssicherung, nachhaltige Entwicklung, nachhaltigeFörderung sollte die Betroffenen in die Lage zu versetzen, nach einigenJahren auch ohne Entwicklungshilfe klar zu kommen. Nachhaltige Entwicklungshilfeverzichtet auf das Verteilen von Gütern in Massen. Die großen Weizenlastertauchen heute nur noch bei humanitären Notfällen auf.

Heute wird den klimatischen Verhältnissen angepaßtes Saatgut verteiltund den Bauern das Wissen darüber vermittelt, wie man richtig anbaut,wässert und düngt. Die Kinderpatenschaften wurden mit ADPs (AreaDevelopment Progams, Programme zur territorialen Entwicklung) verknüpft,die heute einen festen Platz in der Entwicklungspolitik haben.

In Deutschland gibt es inzwischen mehr als 100.000 Paten, weltweit unterstützenmehr als eine Million Menschen ein Kind in Entwicklungsländern. Zu denlangjährigen Schwerpunkten Ernährungssicherung, Gesundheit und Trinkwasserversorgungsind neue hinzugekommen. In vielen Projekten geht es heute um die Rechte derKinder, Bildungschancen für Mädchen, ein Ende der sexuellen Ausbeutungund der Kinderarbeit. Der Erkenntnis, daß der Samen kriegerischer Auseinandersetzungenlange vor Ausbruch der Kämpfe gesät wird, folgte eine intensivereBeschäftigung mit den Konfliktursachen. Auch Umweltschutz ist in vielenProjekten heute ein Thema.

Drei Jahre sind seit dem Beginn der Patenschaft zwischen Familie C. und Sofiavergangen. Sofia, deren Eltern sich mit Beginn des Patenschaftsprogramms verpflichtethatten, das Kind regelmäßig zur Schule zu schicken, hat die achteKlasse der Mittelschule erreicht. Sie ist gewachsen, dank der besseren Ernährung,die sie erhält. Sie ist gegen Typhus und Hepatitis geimpft, wird regelmäßigeiner Gesundheitsüberprüfung unterzogen und mit Vitaminen versorgt.Sie ist besser gekleidet als andere Kinder in ihrem Dorf.

Das Regionalprojekt Kunyinda hat ebenfalls Fortschritte gemacht. Mit einemTeil der Patenschaftsgelder von Familie C. und anderer Paten, die Kinder imGebiet von Kunyinda unterstützen, wurden Brunnen gebaut. Die Frauen, auchSofias Mutter, haben sich zu bäuerlichen Gemeinschaften zusammengeschlossen.Von World Vision erhielten sie Saatgut. Dieses haben sie auf einem Gemeinschaftsfeldgepflanzt und den Ertrag geteilt. Die neuen Samen säten sie auf den eigenenFeldern aus. Nach drei Jahren reichte der Überschuß, um einen Teilder Ernte auf dem Markt verkaufen zu können. Von ihrem ersten selbstverdientenGeld hat Sofias Mutter der Tochter eine Bluse gekauft. So eine, wie Anne aufden Fotos trägt.

Zur Verbesserung der Unterrichtssituation für die Kinder im Projektgebietwurden neue Klassenräume und Unterkünfte für die Lehrer gebaut.Seitdem sind mehr Lehrer bereit, im abgelegenen Süden des Landes zu unterrichten.Zu Sofias Vergnügen müssen auch die Eltern lernen. Sie sind Teileiner Alphabetisierungskampagne, die ebenfalls aus den Patenschaftsgeldernfinanziert wird.

Für Sofia war das Patenkindsdasein nicht immer ein Segen. Daß siebesser ernährt, besser gekleidet ist und besseres Schulmaterial hat alsdie anderen Kinder, hat ihr Neid eingebracht. Diese Nachteile einer Kinderpatenschaftsind auch den Hilfsorganisationen bekannt. Paten für alle Kinder zu vermitteln,ist jedoch nicht möglich. Für Kurt Bangert, Pressesprecher von WorldVision Deutschland, ist das Modell des integrierten Regionalprojekts der fairsteWeg. „Wenn Kinderpatenschaften mit der Entwicklung der gesamten Regionkombiniert werden, helfen wir vielen Kindern. Gesundheitsvorsorge, sauberesTrinkwasser, Steigerung der Ernteerträge, neue Schulen, das kommt ja allenFamilien zu Gute.“

Afrika bekommt ein Gesicht

Für World Vision und andere Organisationen, die Patenschaften vermitteln,bedeutet die Verknüpfung von individueller und regionaler Hilfe einengrößeren Handlungsspielraum. Anders als Projekte, die von Geber-Institutionenwie der Europäischen Union oder dem Auswärtigen Amt unterstütztwerden, laufen die ADPs über einen längeren Zeitraum. Weil Patendie Kinder oft mehr als ein Jahrzehnt unterstützen, kann auch das Projektmit einer langen Laufzeit geplant, die Schwerpunkte nach Ermessen der Organisationgelegt werden.

Ein wenig hat auch Anne von der Patenschaft ihrer Familie für Sofiaprofitiert. Zweimal im Jahr schreiben sich die Mädchen. Es sind holprige,ein wenig hilflose Briefe. Trotz gegenseitiger Versuche des Verstehens, sindsich die beiden fremd geblieben. Die Kluft zwischen Annes Problemen mit ihrenFreundinnen oder dem Erwachsenwerden und Sofias entbehrungsreichem Alltag istzu groß, um mit Briefen überbrückt werden zu können. Trotzdemsind Sofias Briefe für Anne das Fenster zu einer Welt, die ihr sonst verschlossengeblieben wäre und an der sie wahrscheinlich auch kein Interesse gehabthätte. Die persönliche Beziehung zu Sofia ließ Anne begreifen,wie Entwicklungshilfe funktioniert und warum sie notwenig ist. Afrika hat fürAnne ein Gesicht, ist nicht bloß ein Thema des Erdkundeunterrichts.

In noch einmal drei Jahren werden Sofia und Anne 18. Manchmal hat Anne denWunsch, Sofia zu besuchen und wird es vielleicht eines Tages tun. FürSofia endet mit 18 die Unterstützung durch ihre Paten, es sei denn, FamilieC. aus Kassel wünscht, sie weiter zu unterstützen. In Sofias Dorfwerden bis dahin die schlimmsten Probleme bekämpft sein. Wenn alles gutläuft und die Dorfbewohner enthusiastisch kooperieren, wird es eine Krankenstationgeben, ordentliche Klassenzimmer, genügend Ernte für alle. MittelsTheaterstücken werden die Bewohner über Aids aufgeklärt seinund darüber, daß Bildung für Mädchen wichtig ist. Auchdie Eltern werden lesen und schreiben können, durch die landwirtschaftlichenKooperativen haben sich die Frauen finanziell ein wenig unabhängig gemacht.Vielleicht wird Sofia die Chance genutzt haben, dank ihrer Paten die Oberschulebesuchen zu können.

Informationen über Patenschaften unter www.worldvision.de.

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