„Erotik des Informellen“ von Kai EhlersGELESEN

„Erotik des Informellen“ von Kai Ehlers

Edition 8-Verlag, Zurich 2004, 192 Seiten, ISBN 3-85990-049-8.

Von Ludwig Renner

„Erotik des Informellen“ von Kai Ehlers 
„Erotik des Informellen“ von Kai Ehlers 

EM – Der Transformationsforscher Kai Ehlers macht es seinen Lesern nicht leicht zu verstehen, was er mit „Erotik des Informellen“ meint. Auch der wortreiche Untertitel des Buches sorgt hier nicht unbedingt für den erhofften Aha-Effekt: „Impulse für eine andere Globalisierung aus der russischen Welt jenseits des Kapitalismus. Von der Not der Selbstversorgung zur Tugend der Selbstorganisation.“

Was will Kai Ehlers? Der Autor möchte mit der Analyse der nachsowjetischen Transformation zur Behebung der „globalen Krise“ beitragen. Evident sei die Krise erstmals mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion im Jahr 1991 geworden. Was damals noch wie eine räumlich begrenzte Krise ausgesehen habe, hätte sich inzwischen längst zu einer „globalen Krise“ ausgewachsen, die auch den Westen erreicht habe. Dies hätten die Anschläge des 11. Septembers 2001 nur allzu deutlich gemacht. Um einen Weg aus der Krise zu finden, sei es notwendig, die Erfahrungen zu berücksichtigen, die im postsowjetischen Raum gemacht wurden, als das sozialistische Wirtschaftssystem in ein kapitalistisches transformiert wurde. Letztlich engagiert sich Ehlers dafür, den Osten und den Westen Eurasiens, ja die ganze Welt nach dem Ende des Kalten Krieges, zu einem friedlichen Miteinander zu bringen. Zu diesem Zweck hat er gemeinsam mit Gleichgesinnten den Verein für Ost-West-Dialog „Nowostroika e.V.“ gegründet.

Globale Krise

Als die wesentlichen Merkmale der „globalen Krise“ benennt Ehlers die folgenden: „Die Zahl der Menschen auf unserem Planeten wächst, die Zahl der bezahlten Arbeitsplätze jedoch nicht. Der Verbrauch an Energie steigt, die natürlichen Ressourcen nehmen ab.“ Weitere Krisensymptome seien der Bedeutungsrückgang traditioneller Werte und der Glaubwürdigkeitsverlust sozialer Gerechtigkeitsutopien. Aber auch die imperialen Ambitionen der USA, die zur Aufrecherhaltung ihrer weltumspannenden Vorherrschaft und Privilegien auch vor „präventiver Verteidigung“ nicht zurückschreckten, seien Teil des Problems. Die Grundlage von Ehlers Ausführungen bilden eine Reihe von Interviews, die der Autor in den vergangenen Jahren mit russischen Hochschuldozenten geführt hat.

Ehlers fordert den drei zentralen Elementen der Französischen Revolution – Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit – auch auf internationaler Ebene zum Durchbruch zu verhelfen. Besonders wichtig ist ihm die Brüderlichkeit, die bisher vernachlässigt werde. Sie sei unabdingbar, da der Welt sonst „Terror und Antiterror als zeitgemäße Form eines dritten Weltkriegs“ bzw. „ein Krieg aller gegen alle“ drohe. Doch ganz offensichtlich ist Ehlers Blick in die Zukunft durchaus von Optimismus geprägt. Seine Ausführungen über die „globale Krise“ schließt er mit den Worten: „Nicht Huntingtons Krieg der Kulturen, sondern deren gegenseitige Achtung und Förderung wird die Welt von morgen gestalten.“

Freiheit und Gleichheit durch Brüderlichkeit

Ehlers These ist es, die Dreifaltigkeit aus Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit könne nur komplett oder gar nicht realisiert werden. Er interpretiert den Kalten Krieg als Konflikt zwischen Freiheit, vertreten durch die USA, und Gleichheit, repräsentiert durch die UdSSR. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion sei die Möglichkeit zur Symbiose beider Begriffe gekommen. Das Bindeglied solle die Brüderlichkeit sein. Freiheit und Gleichheit durch Brüderlichkeit, lautet das erklärte Ziel des Autors.

Auf die Wirtschaft übertragen sieht das Ehlersche Gedankenkonstrukt folgendermaßen aus: Mittels der Brüderlichkeit soll sich der Kapitalismus (Freiheit) mit dem Sozialismus (Gleichheit) zu einem gemeinsamen Alternativsystem verschmelzen. Als ein Sinnbild für dieses Alternativsystem führt Ehlers die informelle bzw. extrapolare Wirtschaftsweise an, die er als „ursprüngliche Form des Wirtschaftens überhaupt betrachtet“.

Als Mittel gegen die „globale Krise“ schlägt Ehlers also Brüderlichkeit und informelle Ökonomie vor. Er plädiert für eine Produktions- und Wirtschaftsweise, die teils kollektiver teils privater, teils dirgistische, teils selbstbestimmter, teils sozialistischer und teils marktwirtschaftlicher Art ist. Ehlers idealisiert das brüderliche Zusammenwirken von kollektiven Großbetrieben und privater Kleingartenproduktion. Die meistens durch bargeldlose Tauschgeschäfte miteinander in Geschäftsbeziehungen stehenden „Not- und Überlebensgemeinschaften“ von Menschen, die sich im postsowjetischen Rußland etabliert haben, stuft der Autor nicht als Folgeerscheinung einer Krise ein, sondern als Voraussetzung für deren Bewältigung. Ehlers schwärmt von einer künftigen Rückwendung des Städters zur Natur, von einer Verknüpfung traditioneller Lebensweisen mit Industrie und globalem Markt. Symbolisch hierfür stehe die „Jurte mit Sonnenkollektor“.

Ehlers Buch liefert viele wichtige Anregungen, wie die weitere Entwicklung unseres Planeten in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft verlaufen könnte bzw. sollte. Teilweise würde man sich aber eine noch zielgerichtetere Argumentation sowie größere Bodenhaftung wünschen. Beispielsweise wenn Ehlers die drei Sphären nennt, in denen er mehr Brüderlichkeit anmahnt: die gesellschaftliche, die gesamtplanetarische und die kosmische. Die Erotik des informellen Wirtschaftens ist zwar an manchen Stellen spürbar, jedoch wird man den Gedanken nicht los, daß eine solche Wirtschaftsweise doch eher eine Not- denn eine Dauerlösung ist.

Globalisierung Rezension

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