Eurasien Pro und ContraEURASIEN IN ANDEREN MEDIEN

Eurasien Pro und Contra

Die Zeitschrift „Sezession“ druckte in ihrer Ausgabe Nr. 2 vom Juli 2003 zwei Beiträge zum Thema Eurasien: „Eurasien pro“ und „Eurasien contra“. Der Pro-Part stammt von Eberhard Straub. Er trägt den Titel „Kontinantalblock Eurasien“. Die Gegenposition vertritt Karlheinz Weißmann unter dem Titel „Delikatesse gegenuber dem Hegemon“.

Von EM Redaktion

Die Zeitschrift „Sezession“ druckte in ihrer Ausgabe Nr. 2 vom Juli 2003 zwei Beiträge zum Thema Eurasien: „Eurasien pro“ und „Eurasien contra“. Der Pro-Part stammt von Eberhard Straub. Er trägt den Titel „Kontinantalblock Eurasien“. Die Gegenposition vertritt Karlheinz Weißmann unter dem Titel „Delikatesse gegenüber dem Hegemon“. Mit freundlicher Genehmigung der Redaktion von „Sezession“ veröffentlichen wir hier die beiden Beiträge.

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Eurasien pro:

Kontinentalblock Eurasien

von Eberhard Straub

Wer heute eine Emanzipation Europas von den USA wünscht, unterstützt nicht sogenannte anti-amerikanische Stimmungen. Er befindet sich in völliger Übereinstimmung mit Überlegungen führender US - Amerikaner aus der Zeit, als die NATO gegründet wurde. George F. Kennan, Robert Taft oder George Marshall erwarteten, daß der wirtschaftliche Aufschwung es den Europäern bald erlauben werde, ihre Verteidigung selbst zu organisieren. Sie dachten nicht daran, die USA dauernd in Europa zu verpflichten. Ihnen genügte ein möglichst informelles Bündnis, im Grunde ein ausdrückliches Versprechen, im Falle eines Angriffes durch die Sowjetunion den Europäern zu Hilfe zu kommen. Das sollte die Europäer nicht zuletzt dazu nötigen, von nun an in europäischen Kategorien und nicht weiter in denen nationaler Konkurrenz zu denken. Eine lockere Allianz war in solcher Absicht durchaus mit einem Erziehungsprogramm verbunden. Jede Erziehung führt zu Selbständigkeit und Emanzipation vom Erzieher, zumindest ist das ihr Ziel.

George F. Kennan wollte die USA als sorgfältigen Hegemon und ehrlichen Makler

In der Scheu vor allzu festen Strukturen äußerte sich eine weitere pädagogische Überlegung: Gewöhnen sich die hoffentlich bald wieder prosperierenden westeuropäischen Staaten daran, daß die USA ihren militärischen Schutz übernehmen, dann werden sie ihre eigenen Anstrengungen vernachlässigen, die ihre Sicherheit erfordert. Außerdem fürchtete gerade George F. Kennan, vertraut mit der Sowjetunion, daß eine enge transatlantische Gemeinschaft, statt die Gefahren abzuschwächen, diese vermehren würde. Die Russen müßten erst recht mißtrauisch, gereizt und ungeduldig reagieren, was die Spannungen in Europa nur erhöhen und einen schwer zu beruhigenden Rüstungswettbewerb verursachen würde. Beides zöge unvermeidlich die US-Amerikaner immer tiefer in europäisch-russische Auseinandersetzungen hinein, aus denen sie sich möglichst heraushalten sollten. Gerade um als sorgfältiger Hegemon, als „ehrlicher Makler“ bei Gegensätzen zu vermitteln und die Abwesenheit des Krieges geduldig einer tatsächlich freundschaftlichen Verständigung unter den Mächten anzunähern, also einem friedlichen Zustand.

George F. Kennan, der Historiker und praktische Diplomat, hatte stets einen großen Respekt vor Bismarck. Die Politik des Reichskanzlers galt ihm als Beispiel vernünftiger Selbstbeschränkung einer Großmacht, die ihre Hegemonie in einem kunstvollen System direkter und indirekter Bündnisbeziehungen verbarg, um Europa und die Welt an das neue Reich zu gewöhnen. Aber auch um die Hegemonie, die stets als lästiger Druck empfunden wird, abzumildern, sie als eine der Sicherheit aller dienenden Kraft auch dem Widerstrebenden verständlich zu machen. Bismarck hütete sich, das Reich in Affairen zu verwickeln, die jenseits deutscher Interessen lagen. „Jede Großmacht, die außerhalb ihrer Interessensphäre auf die Politik der anderen Länder zu drücken und einzuwirken sucht und die Dinge zu leiten sucht, die periklitiert außerhalb des Gebietes, welches Gott ihr angewiesen hat, die treibt Machtpolitik und nicht Interessenpolitik, die wirtschaftet auf Prestige hin.“

Als praktischer Staatsmann ließ er sich nicht von den großen Worten einschüchtern: die Menschheit, Europa, der Weltfrieden, die Zivilisation. Er kümmerte sich um das nächstliegende: die großen Mächte davor zu bewahren, den leidlich gesicherten Frieden aufzugeben, um im Krieg die letzte Auskunft zu suchen und rechtzubehalten, irgendeinen Eigensinn durchzusetzen. Der Eigensinn muß seine Grenzen im Privatleben kennen, nicht minder im Zusammenleben der Staaten. Das wußte Bismarck in der Tradition Metternichs oder Talleyrands. Sie alle jonglierten mit vielen Bällen, um ein System kollektiver Sicherheit, je nach den Umständen, zu schaffen oder zu erhalten. In solchen Bündnissystemen, die möglichst ganz Europa umfassen und von dieser Mitte der Welt alle Kontinente einer „europäischen Ordnung“ einfügen sollten, gab es immer Hegemone. Aber keiner wollte sich im 19. Jahrhundert als solcher zu erkennen geben. Das imponierte George F. Kennan, der eine Hegemonie der USA nach 1945 für alle übrigen „praktikabel“ machen wollte.

Ihm erschien es angemessen, in diesem Sinne mit Bismarck den USA zu raten, von keinem Staat Gefälligkeiten oder Handlungen aufgrund eines allgemeinen Rechtsgefühls zu erwarten, aber die eigene Politik so zu führen, daß die anderen ein solches Verhalten bei den USA voraussetzen dürfen. Bismarck kannte die militärische Stärke des Reiches. Das Bewußtsein der Stärke nicht die Furcht stimmte das Reich friedlich, wie er beteuerte. „Das Bewußtsein, auch dann, wenn wir in einem minder günstigen Augenblick angegriffen werden, stark genug zu sein zur Abwehr und doch die Möglichkeit zu haben, der göttlichen Vorsehung es zu überlassen, ob sie nicht in der Zwischenzeit doch noch die Notwendigkeit eines Krieges aus dem Wege räumen wird“.

Deshalb konnte er selbstsicher verkünden: „Wir Deutsche fürchten Gott, aber sonst nichts in der Welt; und die Gottesfurcht ist es schon, die uns den Frieden lieben und pflegen läßt“. Präventivkriege ließen sich mit solchen Überzeugungen nicht verbinden, da man der Vorsehung nicht so leicht in die Karten sehen kann, um der geschichtlichen Entwicklung nach eigener Berechnung vorzugreifen. In Anlehnung an derartige Ideen vernünftigter Selbstbeschränkung wollte George F.Kennan, daß die USA, um den Ehrgeiz der Sowjetunion einzudämmen, nicht ununterbrochen und überall intervenieren und sich als Gensdarmes der Welt unbeliebt oder lächerlich machen. Nur von Fall zu Fall, sofern der Anlaß dazu zwang, sollte sich die mächtigste Großmacht als solche zu erkennen geben. Aber auch dann möglichst in Übereinstimmung mit anderen Mächten, die ihre Interessen am besten im Einverständnis mit der führenden Macht gesichert sahen.

“Alle werden sich ruhig verhalten, wenn sie wissen, daß eine solche Macht existiert, die den Schwachen und Überfallenen zu Hilfe kommt“.

Das Wort Führung schreckte George F. Kennan nicht. Denn ein Hegemon, wie er von den griechischen Philosophen wußte, sollte Staaten um sich scharen, sie anführen, als Führer auftreten, der im Dienst an der Gemeinschaft Vertrauen stiftet und erhält. Führerschaft ist das Gegenteil von Willkürherrschaft In freiem Entschluß und klarer Einsicht, aber nicht unter Zwang vertrauen sich Schutzbedürftige der Führung durch die stärkste Macht an. Ihr bloßes Dasein wirkt schon einschüchternd, wie Isokrates vermutete: “Alle werden sich ruhig verhalten, wenn sie wissen, daß eine solche Macht existiert, die den Schwachen und Überfallenen zu Hilfe kommt“. Eine Macht, die in ethischer Vorbildlichkeit der Gerechtigkeit dient, Unrecht abwehrt und selbst nicht nach fremden Besitz strebt, zumindest nicht unter zivilisierten Menschen, höchstens unter den Barbaren.

George F. Kennan lehnte für die USA hegemoniale Aufgaben nicht ab. Er hoffte nur, daß die USA sie nicht einseitig übte, sondern in Zusammenarbeit mit anderen, selbständigen Kräften, die entsprehend ihrer Möglichkeiten von ihrer Bewegungsfreiheit Gebrauch machten, durchaus auch zum Vorteil der USA, die sich auf das jeweils wichtigste konzentrierten. Doch Pluralisten in alteuropäischer Tradition wie George F. Kennan unterschätzten die Angst der Europäer vor dem Kommunismus und der Sowjetunion. Es waren die Europäer, die die US-Amerikaner zu immer gründlicheren Sicherheitsvorkehrungen in Europa nötigten, die förmlich danach verlangten, sich unter das Protektorat der USA zu begeben. Mit den Folgen, die Kennan vorhergesehen hatte. Der Kalte Krieg wurde intensiver und die indessen wohlhabenden Europäer gewöhnten sich daran, den USA die Kosten ihrer Verteidigung aufzubürden, während sie Handel trieben selbst mit den Kommunisten und endlich unter amerikanischen Schutz und Schirm Geschäfte mit den Kommunisten machten, eine allgemeine Entspannung zu ihnen suchten.

Allianzen setzen ein Motiv, einen bestimmten Zweck voraus, der eine gewisse Konformität der Interessen erhält. Der Sinn der Nato lag im Antikommunismus. Ihre Auflösung war programmiert. Das Bündnis verlor seine Daseinsberechtigung, sobald die Furcht vor dem Kommunismus und der Sowjetunion nachließ. Schon vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion hielten US-Amerikaner wie David P. Calleo 1987 die Nato für eine überholte Konstruktion, was bedeutete, den transatlantischen Beziehungen eine neue Interpretation zu geben. Calleo, auch ein europäisch-historischer Kopf, beklagte, daß die USA nicht zuletzt von den Europäern in eine hegemoniale Rolle gedrängt worden waren, die eben nicht mehr in freier Partnerschaft sich äußerte, sondern zunehmend in einseitiger Dominanz. Die USA hätten die Welt nach dem Kriege pluralistisch erneuert und dann nach und nach ein Verständnis für dies Pluriversum verloren, das sie immer entschiedener mit ihrem Willen harmonisieren, gleichschalten wollten. Das überforderte endlich ihre Möglichkeiten. Jenseits von einer unverhohlenen Hegemonie im Beziehungsgeflecht mehrerer Großmächte oder Staatenvereinigungen, die, wie Europa, zum Rang einer Weltmacht aufsteigen, müßten die USA zu neuen Übereinkünften gelangen, nicht unähnlich dem früheren Konzert der Mächte, jetzt einem Ensemble der Weltmächte, die über den Weltfrieden wachen. Der Kalte Krieg und der Rüstungswettlauf hatten, wie alsbald auch Paul Kennedy zu bedenken gab, die USA überanstrengt. Calleo sprach nicht vom Rückgang amerikanischer Macht. Er verwies darauf, daß andere aufstiegen, sich den amerikanischen Möglichkeiten näherten, daß die Welt sich nicht in ein Universum unter amerikanischer Führung wandele, sondern als Pluriversum zu einer neuen „Verfassung“ fände. Diese Entwicklung werde es den US-Amerikanern gerade leichter machen, ihren Einfluß wohltätig zur Geltung zu bringen. Die USA müßten es nur lernen, sich in der multipolaren Welt, die sie selber geschaffen hatten, wieder einzuleben.

Die USA fühlten sich als Sieger im Kalten Krieg – glaubten an das Ende der Geschichte

Das waren sehr vernünftige Überlegungen, nicht zuletzt zum Vorteil der USA, deren ökonomische Basis nicht mehr stabil genug war, um die Hegemonie, die Anführung eines Bundesgenossenverbandes, gar zu effektiver Weltherrschaft, zu imperialer Weltdurchdringung zu erweitern. Der Zusammenbruch der Sowjetunion wurde nicht als Warnung verstanden, die eigenen Überanstrengungen zu bedenken. Die USA verstanden sich als Sieger im Kalten Krieg und glaubten kurzfristig sogar daran, das Ende der Geschichte sei erreicht in einer Welt, die nur noch ein Ziel kennt, in alle Ewigkeit mit den USA zu verschmelzen. Ein Triumphalismus überwältigte selbst klug-zurückhaltende US-Amerikaner. Die USA, die einzige Super - oder Hypermacht, ließen sich nach und nach von den Verfechtern ihres imperialen Auftrages suggerieren, die unentbehrlichen Nation zu sein, die überall für Ordnung zu sorgen hat. Die einzige Nation, die zu den Waffen greifen darf, weil sie genau weiß, wann die Stunde gekommen ist, wann alles schweigen muß, um den Waffen als Argument Gehör und Überzeugungskraft zu verleihen.

Das Ende der Geschichte ist nicht erreicht. Ganz im Gegenteil, der unbefangene Imperialismus der USA weckt diffuseste Tendenzen, sich US- amerikanischer Begehrlichkeiten oder Verworrenheiten zu erwehren, was die Geschichte als unbestimmte Summe mannigfacher Bestrebungen und Tätlichkeiten ungemein belebt. Zu den großen Lebenslügen der Gegenwart gehört die Legende vom Niedergang der Nationen. Die USA, die unentbehrliche Nation, um mit Madeleine Albright zu reden, veranschaulichen überschwenglich die Selbstgenügsamkeit der Nation und des Nationalen Gedankens, die pralle Gegenwart des Nationalismus. Die USA beschäftigen sich mit der Welt nur insoweit, als es notwendig ist, die eigene Sicherheit und Unverletzlichkeit vor jeder Bedrohung zu schützen. Die USA verhalten sich nicht, wie George F.Kennan es hoffte, im Bewußtsein ihrer Stärke überlegt und überlegen. So stark und unverletzlich wie sie sind, zeigen diese „göttlichsten Götter“, um mit Wagners Loge zu reden, Angst und Furcht. Sie wollen absolut sicher auf ihrer „glücklichen Insel“ sein. Allein ihre Sicherheit interessiert diese Weltmacht, die es mittlerweile als selbstverständlich voraussetzt, daß sich die Welt insgesamt unsicher fühlen muß, sobald ein Schweißausbruch aus Angst die USA überfällt.

Alle Weltmächte, von den Römern bis zu den Spaniern und selbst zu den Sowjets verkündeten eine Botschaft, die unabhängig von ihren ureigensten Interessen als imperialer Bewegung Frieden, Gerechtigkeit und Ordnung gerade denen in Aussicht stellten, die besiegt wurden. Die USA sind die erste imperiale Macht, die darauf verzichtet, außer ihrem eigenen Sicherheitsbedürfnis eine andere Rechtfertigung ihrer ausgreifenen Politik vorzutragen. Wer sich gegen die unentbehrliche Nation richtet, ist ein Schurke und gehört dem Reich der Finsternis an. Die USA sind das erste Imperium, das unverhohlen zugibt, Angst zu haben und aus Furcht die Welt dominieren will. Das kann nicht gut gehen. Ein Hegemon, dem die Knie schlottern, eine imperiale Macht, die sofort antiamerikanische Umtriebe wittert, wenn sich auch nur zaghafte Opposition gegen ihre unberechenbaren „Aktivitäten“ regt, verdient eher Mitleid als besondere Aufmerksamkeit. Gerade weil die US-Amerikaner extrem furchtsam sind, verlassen sie sich auf ihre Waffen, auf deren „chirurgischen Eingriffe“ möglichst gegenüber entwaffneten, ausgehungerten, durch Boykotts entnervte Feinde. Gegen ohnehin geschwächte „Feinde des Menschengeschlechts“ lassen sich dann medienwirksame „reality-shows“ inszenieren, die zumindest jeden in einem bildersüchtigen Saeculum davor warnen sollen, mit den USA in Gegensatz zu geraten.

„Warum sollen ausgerechnet Europäer ihre wichtigste Verpflichtung darin erkennen, den USA dazu zu verhelfen, sich behaglich und ungestört zu fühlen?“

Wer nicht dem Sicherheitsbestreben der USA dient, der nähert sich dem Status eines Schurken und muß mit den entsprechenden Erziehungsmaßnahmen rechnen. Die reichen von Liebesentzug bis zum Flächenbombardement. Es empfiehlt sich nicht Gastfreund US-amerikanischer Staatssekretäre oder Präsidenten zu sein. Irgendwann, ob Bin Laden oder Saddam Hussein, sind sie Inkarnationen des Bösen. Listigerweise werden die erklärten Umholde nicht gefunden,obwohl die USA die ganze Welt in Bewegung setzen, um nicht nur die Bösewichte, sondern das Böse überhaupt auszurotten. Böse ist, was US-Amerika bedroht. Das ist allerdings eine Botschaft, die nicht einmal US-Amerikaner, ob Norman Mailer oder Susan Sontag, ernst nehmen. Warum sollen ausgerechnet Europäer ihre wichtigste Verpflichtung darin erkennen, den USA dazu zu verhelfen, sich behaglich und ungestört zu fühlen?

Das Bedürfnis der USA nach absoluter Sicherheit stürzt ROW, the rest of the world, in tausend Verlegenheiten und vollständige Unsicherheit. ROW hat ganz andere Interessen als die verunsicherten USA, der die Welt nur als Mittel für ureigenste nationale Begehrlichkeiten taugt. Es war eine unüberlegte, sentimentale Aufwallung, nach dem 11. September zu bekennen: Wir sind alle Amerikaner. Europäer ahnen mittlerweile, daß sie keine „Amerikaner“ sind, daß sie ihr Verhältnis zu den USA neu bestimmen müssen. Sie müssen, was George F.Kennan hoffte, was David P. Calleo erwartete, selbständig werden.

Das fällt schwer, wie bei Kindern, die allzu lange unter der Obhut ihrer Eltern lebten. Im Zusammenhang mit dem Irak-Krieg fanden sich Frankreich, Deutschland und Rußland zusammen in dem Widerstand gegen rein nationale Ziele der USA. Sie fanden zufälligerweise zusammen, es gab kein europäisches Programm der drei Staaten oder Mächte. Dennoch deutet sich in dieser improvisierten Zusammenarbeit eine künftige Konstellation an, die auch schon in der Vergangenheit Russen, Deutsche und Franzosen beschäftigte: eine kontinentale Einigung, die Europa, bis zum Ural vebindet und über Rußland hinaus auf die eurasischen Zusammenhänge verweist, in die Europa seit eh und je eingebunden ist. Es sind die Vorstellungen des General de Gaulle, die wiederbelebt werden. De Gaulle hielt die Allianz mit den USA für eine vorübergehende, den Zeitumständen geschuldete Lösung. Löst sich der Kommunismus auf, dann erübrigt sich eine weitere militärische Verbindung mit den USA. Rußland ist unter veränderten Bedingungen das, was es immer war: eine europäische Großmacht, die nicht isoliert oder vom übrigen Europa abgedrängt werden darf. Die vielmehr, gerade um sie vor dummen Gedanken zu bewahren, in das Spiel der europäischen Staaten hineingezogen werden muß.

„Europa kann nur zusammen mit Rußland zu einem neuen Selbstbewußtsein finden, zu einer Großmacht werden, die den Mut hat, eine solche zu sein“.

Europa kann nur zusammen mit Rußland zu einem neuen Selbstbewußtsein finden, zu einer Großmacht werden, die den Mut hat, eine solche zu sein. Hier aber ergeben sich sofort Schwierigkeiten. Die USA wünschen keinen handlungsfähigen, selbständigen europäischen Rivalen, einen Kontinentalblock unter Einschluß Rußlands. Befangen in ihrem Nationalismus fürchten sie ein Wiedererwachen des russischen Nationalismus, den sie wie jeden Nationalismus als Gefahr einschätzen. Die USA wollen, wie im Kalten Krieg, Rußland möglichst „eindämmen“, eingekreist, in seiner Bewegungsfreiheit eingeengt wissen. Für die Europäer hingegen eröffnet Rußland wieder Räume, von denen sie zeitweise abgeschnitten waren, und die mit Europa zusammen einem Großraum bilden, wie ihn die Geschichte als Geographie in Bewegung, um mit J.G.Herder zu sprechen, vorbereitet hat.

Geopolitik und das Denken in Großräumen gewinnt unter dem Eindruck der Mondialisierung, der Weltzusammenfassung als Beziehung von Räumen, eine neue Bedeutung. Die Europäer sind darauf insofern unzulänglich vorbereitet, als sie über eine Freihandelszone hinaus kaum eine Idee von Europa als geistigem Raum besitzen, der sich historisch vertieft als eine politische Einheit zu erkennen gibt. Die militärische und außenpolitische Uneinigkeit und Konzeptionslosigkeit der Europäer ist ihnen während den angelsächsischen Vorbereitungen zum Irakkriege besonders deutlich geworden. Ein uneiniges Europa behindert allerdings den Weg zu Emanzipation und Selbständigkeit, das Ziel sämtlicher Bemühungen um Europäische Einigkeit und Eintracht.

„Eine enge Übereinstimmung zwischen Paris und Berlin entwickelt wie eh und je eine Sogkraft, der sich allmählich auch die Widerstrebenden nicht werden entziehen können.“

Die Verständigung zwischen Paris, Berlin und Moskau war zuerst einmal ungewohnt für viele Europäer. Außerdem bewirkt sie unweigerlich die Sorge, unter die Hegemonie der drei großen Mächte innerhalb Europas zu geraten. Dieser Verdacht ist, ungeachtet einiger Taktlosigkeiten Chiracs, nicht unbegründet. Denn es ist, bei dem Mangel an europäischer Koordination, unvermeidlich, daß die wichtigsten Staaten Europas sich verabreden und zusammenwirken. Entsprechend ihrer Bedeutung innerhalb Europas wird ihr Beispiel die anderen nach und nach beeinflussen. Im Deutschen Bund des 19. Jahrhunderts, einer Konstruktion nicht unähnlich der EU, blieb den übrigen deutschen Staaten wenig anderes übrig, als sich in die Ratschläge Preußens und Österreichs zu fügen, sobald beide einig waren.

Deutschland und Frankreich sind der Kern Europas. Widerwillg wird das von den übrigen Europäern anerkannt. Ein Kerneuropa ist seit Otto Hinze in der verfassungs - und sozialgeschichtlichen Diskussion ein geläufiger Begriff. In dem Raum, den das fränkische Reich der Karolinger umfaßte, machten sich über mehr als ein Jahrtausend bis heute immer wieder die verändernden, die dynamischen Kräfte bemerkbar. Eine enge Übereinstimmung zwischen Paris und Berlin entwickelt wie eh und je eine Sogkraft, der sich allmählich auch die Widerstrebenden nicht werden entziehen können. Es gilt alle Absichten, die einmal mit dem Elysée-Vertrag verknüpft waren, zu revitalisieren, tatsächlich eine deutsch-französische Einigkeit herzustellen, die gar keiner umständlich oganisierten Einheit bedarf. Einmütigkeit genügt, um zumindest den Kern Europas zu einer selbständigen Kraft auszubilden. Rußland von Randeuropa her, kann diese Entwicklung am nachhaltigsten unterstützen. Rußland sucht den Wiederanschluß an Europa, die „Eingemeindung“ in unterbrochene Zusammenhänge. Es bedarf bei dem ungewissen Ehrgeiz der Völker und Mächte im asiatischen Raum unbedingt freundlicher Beziehungen zu Europa. Zusammen mit Europa kann die wichtigste Atommmacht nach den USA wieder ihrer Funktion als Weltmacht gerecht werden, gerade zum Vorteil Europas bei Konflikten im eurasischen Raum oder bei der Bemühung, sie erst gar nicht aufkommen zu lassen.

„Die künftigen Entscheidungen fallen in Eurasien“.

Rußland ist der natürliche Verbündete. Übrigens vermag der russische Einfluß unter Umständen etwaige Unausgewogenheiten zwischen Frankreich und Deutschland auszubalancieren. Denn Frankreich sieht selbstverständlich in solchen Wechselbeziehungen die Chance, französische Eigenwilligkeiten zur Geltung zu bringen, nicht zuletzt um deutsche Gemütsergötzlichkeiten um ihre Wirkung zu bringen. Den unpraktischen Deutschen könnten wiederum Franzosen und Russen den Zugang zur Realität ebnen. Alle drei zusammen können Europa aus seiner Bequemlichkeit befreien, zu räsonnieren, die Moraltrompeten zu blasen und ansonsten Geschäfte zu machen.

Berlin, Paris, Moskau weist hinüber in die Zukunft und gibt Europa in ihr ein besonderes Gewicht. Die künftigen Entscheidungen fallen in Eurasien. Kluge amerikanische Imperialisten wie Zbigniew Brzezinski sehen die Schwierigkeiten für die USA, eine raumfremde Macht in Eurasien. Nur wenn es ihnen gelingt, in Eurasien Brückenköpfe oder Protektorate zu behalten oder neue zu bilden, können die USA die einzige Weltmacht bleiben. Seine äußerste Sorge ist, daß die USA auf ihre „glückliche Insel“ zurückgeworfen und aus der Ferne zum Beobachter des Geschehens am Rande von ROW wird. Der „Kampf gegen den Terror“ ist der dramatische Vorwand, um die USA in Eurasien in Stellung zu bringen. Brzezinski vermag sich alle möglichen Konstellationen in der Zukunft vorzustellen, eine Annäherung, ja dauerhafte Verbindung von Franzosen, Deutschen und Russen gehört nicht dazu. Ein Kontinentalblock in Eurasien versetzt als bloße Idee US-Amerikaner in Schrecken wie früher die Briten. Verständlicherweise. Verbündet sich Europa mit Rußland, geht nicht nur das Protektorat Europa verloren. Dann werden auch die Japaner sich endlich aus der Vormundschaft der USA lösen. Dann wird die Welt, was George F. Kennan ehedem hoffte, zu einem Pluriversum stets neu auszugleichender Rivalitäten.

In diesem Pluriversum werden die USA nur eine Stimme neben anderen führen. In dieser neuen, in der Entstehung begriffenen Welt wird sich herausstellen, daß auch die USA den Kalten Krieg nicht gewonnen haben. Nicht nur die inneren Spannungen und Überspannungen, die hypertrophe Rüstung und die wirtschaftlichen Schwierigkeiten weisen auf ein Amerika jenseits von Hegemonie oder Vorherrschaft. Die eine Welt, zu der sich die gesamte Welt als vergrößerte USA zusammenschließen sollten, bleibt eine Fiktion wie die Hoffnung auf die sowjetische Weltgemeinschaft. Die Europäer zögern noch. Aber eines ist gewiß: in der Abhängigkeit von den USA wollen die Europäer nicht mehr bleiben. Ihr Verhältnis zu den USA bedarf anderer Deutungen und Anknüpfungspunkte als der gewohnten. Das wird einige Zeit in Anspruch nehmen, vor allem um Kerneuropa als Handlungsgruppe zu schaffen. Aber zwischen den USA und Europa hat der Irakkrieg eine Wende eingeleitet. Die Beziehungen werden sich auf jeden Fall verändern. Es ist Aufgabe der Europäer, den Wandel zum Vorteil ihrer Handlungsfreiheit und Souveränität zu nutzen.

Eberhard Straub, geboren 1940, studierte Geschichte, Kunstgeschichte und Archäologie. Der habilitierte Historiker war bis 1986 Feuilletonredakteur der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ und bis 1997 Pressereferent des Stifterverbandes für die Deutsche Wissenschaft.

Literatur:

Eberhard Straub: Griechische Hegemonie und Römisches Imperium. In: Regeneratio Imperii. Darmstadt 1972
David P. Calleo: Die Zukunft der Westlichen Allianz. Die Nato nach dem Zeitalter der amerikanischen Hegemonie, Bonn 1989

Paul Kennedy: Aufstieg und Fall der großen Mächte. Frankfurt a, M. 1989

Henri de Grossouvre : Paris, Berlin, Moscou. La voie de l’indépendance et de la paux. Lausanne 2002

Zbigniew Brzezinski: Die einzige Weltmacht. Amerikas Strategie der
Vorherrschaft. Frankfurt a M. 1999

Emmanuel Todd: Weltmacht USA. Ein Nachruf. München 2003

Michael Mitterauer: Warum Europa? Mittelalterliche Grundlagen eines Sonderweges. München

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Eurasien contra:

Delikatesse gegenüber dem Hegemon

Von Karlheinz Weißmann


Seit einiger Zeit strahlt das ZDF an späteren Abenden das „Philosophische Quartett“ aus. Die Sendung vom 30. März widmete sich dem Thema „Weltherrschaft“. Man kann von dem „Format“ halten, was man will – weder Rüdiger Safranski noch Peter Sloterdijk sind als Moderatoren geeignet, letzterer trägt seinen Ruf als Meisterdenker sicher zu Unrecht -, dieser Ausgabe war eine gewisse symptomatische Bedeutung unbestreitbar. Den geladenen Gästen, Egon Bahr und Horst Teltschik, wurden insgesamt drei Thesen vorgestellt, die mit der aktuellen Diskussion über einen Perspektivwechsel deutscher Außenpolitik eng zusammenhingen:

1. „Das Verhältnis Westeuropas, insbesondere Westdeutschlands, zur USA war das eines Protektorats zu seiner Schutzmacht, und das war gut so.
2. Das ändert sich ... Europa muß sich darauf vorbereiten, sicherheitspolitisch, vielleicht auch geopolitisch, eigene Wege zu gehen.
3. Die Supermacht USA ist weniger stark als es den Anschein hat. Der riesige eurasische Komplex läßt sich auf Dauer von der amerikanischen Strategie nicht kontrollieren.“

Ohne Zweifel wären schlüssige Stellungnahmen zu diesen Thesen wichtig gewesen, aber dazu hätte es in der Runde eines höheren Maßes an Kompetenz und an Bereitschaft zur Kontroverse bedurft. Die Beteiligten stimmten aber in allen Grundpositionen überein: Die Politik der Vereinigten Staaten gegenüber dem Irak sei verfehlt und von politischem Egoismus bestimmt; die UNO müsse gestärkt werden, um vergleichbare militärische Alleingänge zu verhindern; Europa sollte unter der Führung von Frankreich und Deutschland ein Gegengewicht zu den USA bilden.

Obwohl man den Epochenwechsel beschwor, prägte die ganze Diskussion bundesrepublikanischer Unernst: altes Denken, kaum geeignet, Fragen der staatlichen Souveränität und der Entscheidung über Krieg und Frieden zu klären, gipfelnd in Safranskis kokettem Hinweis, daß man dem Machtstandpunkt Washingtons den Rechtsstandpunkt vorziehe, weil man etwas „dekadent“ sei. Auch die Sympathie der Beteiligten für den Ausbau der „Achse“ Paris – Berlin – Moskau blieb ganz ungefähr. Immerhin bezog man sich auf– gleichwohl als heikel betrachtete – Konstanten der „Geopolitik“.

„Die Annahme, daß die Lage eines Staates im Raum dessen Schicksal ganz wesentlich bestimme, gehörte in Deutschland nach 1945 zu den sukzessive verdrängten Postulaten.“

Die Geopolitik hat in den letzten Jahren eine Renaissance erlebt wie kein anderes der in der Nachkriegszeit tabuierten Deutungsmuster von Geschichte und Politik. Die Annahme, daß die Lage eines Staates im Raum dessen Schicksal ganz wesentlich bestimme, gehörte in Deutschland nach 1945 zu den sukzessive verdrängten Postulaten. Die Ursache dafür lag nur zum Teil im Mißbrauch geopolitischer Theorien durch das NS-Regime, eine wichtigere Rolle spielte, daß jede geopolitisch orientierte Betrachtung der deutschen Vergangenheit und der deutschen Gegenwart zu heterodoxen Ansichten führen mußte: die Mittellage ließ bestimmte Tendenzen der deutschen Außenpolitik seit der Reichsgründung als fast naturgegeben erscheinen und reduzierte die Plausibilität der Sonderwegtheorie, die Stellung des geteilten Restgebietes zwischen den Lagern des Kalten Krieges machte unwahrscheinlich, daß die Lösung der nationalen Kernfrage in Richtung auf eine Blockbindung zu finden sein würde.

Trotz einer gewissen Rehabilitierung der Geopolitik in den frühen achtziger Jahren – angestoßen durch die linke Hérodote-Schule in Frankreich –, blieb die Zurückweisung in der Bundesrepublik bestehen. Das war besonders deutlich erkennbar an der heftigen und erfolgreichen Polemik gegen das „geopolitische Tamtam“ (Jürgen Habermas) im sogenannten Historikerstreit.

Zuletzt hat das die Wiederkehr der Geopolitik aber nicht verhindern können. Interessanter Weise werden ihre Kategorien jetzt aber nicht zur Interpretation der Vergangenheit genutzt, sondern zur Deutung der Gegenwart und zur Prognose zukünftiger Entwicklungen. Immer unbekümmerter orientiert man sich an der sowieso ganz ungebrochenen angelsächsischen Tradition auf diesem Gebiet. Zu deren Paradigmen gehört seit ziemlich genau einhundert Jahren die These von der Bedeutung des geographical pivot of History, des geographischen „Angelpunkts“ der Geschichte, der zuerst von dem britischen Geographen John Halford Mackinder entdeckt wurde.

Mackinder glaubte, daß die entscheidenden geopolitischen Prozesse bestimmt seien von der Teilung des Planeten in eine „Weltinsel“ aus Europa, Asien und Afrika, in deren Mitte das „Herzland“ (zwischen Wolga, Ostsibirien, Eismeer und Himalaja) liege, umgeben von einem inneren Kranz kontinentaler Gebiete (Osteuropa, Naher Osten, Südasien) und einem äußeren, der aus Inseln bestehe (England, die beiden Amerika, Australien und Japan). Seiner Meinung nach mußte die Beherrschung Eurasiens – also des „Herzlands“ – zwangsläufig die Unterwerfung der „Weltinsel“ zur Folge haben.

„Die eurasische Einheit ist immer etwas Phantomhaftes gewesen. Die dauerhafte Organisation dieses gigantischen Raumes gelang bisher nie, - und dürfte auch für die Zukunft unwahrscheinlich sein. - Entsprechende oder verwandte politische Pläne, scheiterten regelmäßig daran, daß sich die beiden denkbaren Vormächte des Herzlandes – Deutschland und Rußland – zu einer Zusammenarbeit außerstande zeigten“

Wenn man einmal von den Implikationen dieser Theorie für die britische Politik der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg absieht, bleibt bemerkenswert, daß sich die ganze Geschichte der amerikanisch-sowjetischen Konfrontation auch als eine Auseinandersetzung um die Kontrolle des heartland lesen läßt. Allerdings blieb das „herzland-über-alles“ (Stephen B. Jones) nicht unwidersprochen. Vor allem die „Pluralisten“ unter den Geopolitikern in den USA wiesen darauf hin, daß sich die Menge der Konflikte in Vergangenheit und Gegenwart unmöglich auf die Auseinandersetzung zwischen Herzland und Peripherie reduzieren lasse. Dieser Einwand hatte und hat insofern seine Berechtigung, als die eurasische Einheit immer etwas Phantomhaftes gewesen ist. Die dauerhafte Organisation dieses gigantischen Raumes gelang bisher nie, - und dürfte auch für die Zukunft unwahrscheinlich sein.

Entsprechende oder verwandte politische Pläne, soweit sie nicht einfach auf die zunehmende Ausdehnung Rußlands Bezug nahmen, das seit dem 16. Jahrhundert Sibirien unterworfen hatte und dann bis 1945 sukzessive nach Westen und Süden vordrang, scheiterten regelmäßig daran, daß sich die beiden denkbaren Vormächte des Herzlandes – Deutschland und Rußland – zu einer Zusammenarbeit außerstande zeigten: Entweder weil sie das Projekt durch dauernde Unterwerfung des jeweils anderen verwirklichen wollten (Hitlers „blockadefreier Großraum“, Stalins Aspirationen bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs, vielleicht bis zum Scheitern der „Noten“ vom Frühjahr 1952) oder von einer ideologischen Anpassung ausgingen, die wenigstens von den Deutschen niemals mitgetragen worden wäre (alle Nationalbolschewismen, auch diejenigen aktueller, russischer Provenienz).

Mit den neueren Vorstellungen von einer „Achse“ Paris-Berlin-Moskau steht es nicht besser. Schon bei oberflächlicher Betrachtung ergibt sich die Frage, von welcher Substanz eine dauerhafte Kooperation zehren sollte. Ein „eurasischer Block“ unter Teilnahme des politisch und wirtschaftlich labilen russischen Staates kann unmöglich als sinnvoll betrachtet werden. Dessen Stabilisierung ließe die Russen wie von selbst in die Position des „Reichsvolkes“ wachsen, was Frankreich seinerseits kaum hinnehmen würde.

Mit diesem Vorbehalt ist selbstverständlich nichts gegen einen deutsch-russischen Ausgleich gesagt, der von Bismarck ebenso wie von Rathenau oder Stresemann betrieben wurde auf Grund der Einsicht in eine andere geopolitische Konstellation als die des Herzlandes: die der Mittellage, die es für das Reich nötig machte, einen Ausgleich nach Westen und nach Osten zu suchen. Infolge der vorübergehenden Aufhebung der zentralen Stellung in der Nachkriegszeit, ist deren Bedeutung nach der Wiedervereinigung nur sehr begrenzt in das Bewußtsein zurückgekehrt. Zwar gab es schon Ende der achtziger Jahre Mutmaßungen über die Entstehung einer neuen deutschen Großmacht in „Mitteleuropa“ – prominente Verfechter dieser These waren Henry Kissinger und Alain Minc -, aber keine entsprechende Handlungsbereitschaft deutscher Regierungen.

Nimmt man einen rationalen Grund für diese Zurückhaltung an, dann müßte man den in der Erinnerung an das zweifache Scheitern des Versuchs selbständiger deutscher Machtpolitik suchen. Allerdings ist zu bedenken, daß zumindest der erste Fehlschlag zu den großen Tragödien – oder, wenn diese Kategorie denn im Hinblick auf historische Zusammenhänge Sinn hätte: Ungerechtigkeiten - der modernen Geschichte gehört. Wenig wäre dem Kontinent so bekömmlich gewesen wie ein deutscher Sieg im Jahr 1916, oder, um eine entsprechende Spekulation des britischen Historikers Niall Ferguson zu zitieren: „Belgien beiseite gelassen, war das westeuropäische Hauptziel des Krieges, so wie es in Bethmann-Hollwegs Septemberprogramm stand, einen zentraleuropäischen Wirtschaftsbund zu schaffen ... Es mag deutsche Empfindlichkeiten treffen, dieses Projekt für Mitteleuropa mit der EU, wie wir sie heute kennen, zu vergleichen, aber eine durch einen militärischen Sieg geschaffene Zollunion unter deutscher Führung unterscheidet sich nicht so sehr von einer Zollunion unter deutscher Führung, die durch eine militärische Niederlage geschaffen wurde ... Es ist wahr, daß es auch so eine russische Revolution gegeben hätte, aber 1916 hatten die Bolschewiken geringere Erfolgsaussichten als ein Jahr später. Wahr ist auch, daß es in den 1920er Jahren in Italien vielleicht den Faschismus gegeben hätte, aber mehr Nachahmer hätte es im besiegten Frankreich gegeben, nicht im siegreichen Deutschland. Mit einem triumphierenden Kaiser hätte Adolf Hitler sein Dasein als mittelmäßiger Postkartenmaler in einem von Deutschland dominierten Mitteleuropa gefristet, in dem er wenig vorgefunden hätte, über das er sich hätte beschweren können. ... Aus allen diesen Gründen ist der Erste Weltkrieg schlimmer als eine Tragödie, die, wie uns das Theater lehrt, unvermeidlich ist. Dieser falsche Krieg war nichts weniger als der größte Irrtum der modernen Geschichte.“

„Die ‚Westbindung‘ schien auch für das neue Deutschland alle außenpolitischen Konzeptionen überflüssig zu machen.“

Es ist allerdings unwahrscheinlich, daß ein Scheitern Deutschlands als gegebener Führungsmacht Zentraleuropas der tiefere Grund für die Zurückweisung einer neuen Rolle in diesem Raum ist. Ausschlaggebend wirkt die Entwöhnung seiner politischen Führung von jeder selbständigen Orientierung über vier Jahrzehnte hinweg. Die „Westbindung“ schien auch für das neue Deutschland alle außenpolitischen Konzeptionen überflüssig zu machen. Man hatte den „langen Weg nach Westen“ (Heinrich August Winkler) vollendet, und der Westen war zum „nationalen Mythos“ (Philipp Gassert) der Berliner Republik geworden. Um so überraschender, daß viele Protagonisten der Westbindung unter dem frischen Eindruck des Irakkrieges ihre Auffassungen revidiert haben, und neuerdings äußern, es gelte, „Abschied vom `Westen´“ (Wolf Lepenies) zu nehmen.

Dieser Auffassung nach, haben die USA die Ideen von 1945 verraten, weshalb es gelte, dieselben in Schutz zu nehmen und ihnen im alten Europa eine neue Heimstatt zu geben. Soweit hier über Europa nicht nur schwadroniert wird, hat man sich darunter das „karolingische“ vorzustellen, also das von Deutschland, Frankreich und dem Zwischenraum bestimmte Gebiet. Bei der für Ende April kurzfristig anberaumte Konferenz zur Stärkung der militärischen Zusammenarbeit in Europa kamen bezeichnender Weise Regierungsvertreter aus Berlin, Paris, Brüssel und Luxemburg zusammen.

Selbst wenn man davon absieht, daß alle bisherigen Vorstellungen von einem „Kerneuropa“ regelmäßig auf den Widerstand der Peripherie stießen, sollte deutlich sein, daß es in dieser Gestalt nur unter der Führung Frankreichs existieren könnte. Das hängt nicht nur mit dessen faktischem Gewicht zusammen, sondern auch damit, daß Paris niemals eine Europapolitik fördern würde, die den eigenen Vorrang in Frage stellen könnte. Auch und gerade in einem solchen Europa wäre wenig von einer gestärkten Handlungsfreiheit Deutschlands zu sprechen. Wer also in Folge der Abwendung von den USA so etwas wie einen Souveränitätsgewinn erwartet, müßte sich schon durch das Verhalten von Paris in der Krise eines Besseren belehrt sehen.

Die Problematik eines Konzepts, das den Primat Washingtons durch denjenigen von Paris ersetzen will, liegt nicht zuletzt darin begründet, daß die Macht der Vereinigten Staaten eine unbestreitbare Tatsache ist, während doch sehr zweifelhaft bleibt, worauf eigentlich der Anspruch Frankreichs gründen soll, - legt man den Maßstab tatsächlicher militärischer Macht an und sieht von seiner traditionellen Eitelkeit ab. Mancher wird diese relative Schwäche vielleicht sogar für einen Vorzug halten, aber doch nur unter der Bedingung, daß sich Deutschland zu einer Stärkung seiner Position entschließen würde. Davon ist es aber sehr weit entfernt. Dem Vorprellen von Außenminister Fischer, der eine Bereitschaft zu neuen Anstrengungen im Blick auf die europäische Rüstung signalisierte, wurde sehr rasch und ausgerechnet vom Verteidigungsminister widersprochen.

Vor allem aber ist zu bezweifeln, daß die Deutschen seelisch auf eine solche Kursänderung vorbereitet sind. Ohne Zweifel war die Friedensbewegung ein europäisches, wenn nicht globales Phänomen, aber nirgends hatte sie einen so deutlich unpolitischen Zug wie in Deutschland. Man gebe sich keinen Illusionen hin: Vor allem die Jungen, die auf die Straße gingen, haben nichts anderes getan, als sich wohlerzogen zu zeigen und die Lektionen zu beherzigen, die ihnen die Generation der Väter, der Lehrer und der heimlichen Erzieher mit auf den Weg gegeben hat; man kann das Ganze auch wie ein amerikanischer Beobachter darauf zurückführen, daß die Reeducation „... zu weit gegangen“ (Mark Lilla) ist.

„Da wir eben weder Protektorat noch Kolonie sind, sondern Bündner minderen Ranges, haben wir uns entsprechend aufzuführen.“

Der Verfasser bekennt, daß er auf kurze und auch auf mittlere Sicht keine Alternative zur Anlehnung Deutschlands an die USA sieht. Er hat schon bei anderer Gelegenheit dafür plädiert, sich dem sanften Hegemon unterzuordnen. Man mag das wenig bunt und für das Gemüt unbefriedigend finden, aber jeder Versuch, deutsche Politik zu treiben, hat sich von Einsicht in die Gegebenheiten leiten zu lassen. Und die verlangt vor allem die Anerkennung der amerikanischen Hegemonie und die notwendige „Delikatesse“ (Heinrich Triepel), mit der der Hegemon behandelt werden will. Da wir eben weder Protektorat noch Kolonie sind, sondern Bündner minderen Ranges, haben wir uns entsprechend aufzuführen.

Der in den beiden letzten Jahren immer wieder bemühte Vergleich der USA mit Rom hat etwas Angestrengtes. Tatsächlich war die Politik der Vereinigten Staaten nur selten im genaueren Sinne „imperialistisch“. Man kann die Landnahme im Westen kaum entsprechend deuten, das gewaltsame Ausgreifen auf die „weißen“ Nachbarn war anfangs wenig erfolgreich (gescheiterter Feldzug gegen Kanada 1810), dann führte er zur vollständigen Integration in den Kernstaat (Annexion von Texas und Neu-Mexiko), Kolonien im klassischen Sinne gab es kaum und nur vorübergehend (Philippinen). Sehr richtig wurde gegen den Rom-Vergleich schon frühzeitig das ökonomische Moment angeführt und deshalb eine Analogie zu Karthago behauptet. Aber auch diese Parallele führt in die Irre: damit wird die demokratische Binnenstruktur ebenso übersehen wie das wesentlich Informelle der Herrschaft, die die USA ausüben.

Deshalb sollte man den Begriff „Hegemonie“ im präzisen Sinn verwenden: als Herrschaft durch Führung, bei der die Gefolgschaft nicht oder nicht nur gezwungenermaßen geleistet wird, sondern auf Anerkennung der Überlegenheit beruht. Der Völkerrechtler Heinrich Triepel, der diesen Zusammenhang sehr sorgfältig untersucht hat, kam zu dem Schluß, daß es ein aufsteigendes System der Führung gebe, von derjenigen, die der einzelne ausübe, bis hin zu derjenigen, die ein Staat gegenüber einer Mehrzahl anderer praktiziere.

Das klassische Beispiel für den Aufbau einer Hegemonie dieser Art war das Athen des Perikles. Nach dem Sieg im Zweiten Persischen Krieg hatte Athen seine Vormacht ausgebaut und den anderen Poleis ein Bündnis angeboten. Deren Pflicht bestand darin, für die Bundesflotte Schiffe oder Geld zu stellen. Im „Attischen Bund“ hatte Athen von Anfang an entscheidendes Gewicht, und bezeichnender Weise wissen wir fast gar nichts über die Funktion der Bundesversammlung. Sein Aufstieg zum Hegemon wurde allerdings bewirkt durch die Neigung der Bündner, sich von den militärischen Pflichten loszukaufen und dann durch das gewachsene Selbstbewußtsein der athenischen Bürgerschaft, die zuerst das Ausscheiden aus dem Bund und dann den Besitz von Kriegsschiffen verbot, um schließlich noch die Bundeskasse unter athenische Kontrolle zu bringen und die enthaltenen Gelder nach Gutdünken zu verwenden.

„Es ist hier nicht der Ort, zu diskutieren, ob Athen dauerhaft in der Lage gewesen wäre, seine Stellung zu halten, wichtiger erscheint die in diesem, anders als im römischen Fall, tatsächlich vorhandene Ähnlichkeit mit den USA.“

Ihren Höhepunkt erreichte diese Entwicklung unter Perikles, allerdings konnte die sich bereits andeutende Verwandlung des „Bundes“ (symmachie) in ein „Reich“ (arche) wegen der Niederlage Athens im Peloponnesischen Krieg nicht mehr vollendet werden. Es ist hier nicht der Ort, zu diskutieren, ob Athen dauerhaft in der Lage gewesen wäre, seine Stellung zu halten, wichtiger erscheint die in diesem, anders als im römischen Fall, tatsächlich vorhandene Ähnlichkeit mit den USA: die egalitäre Tendenz im Inneren, das ungebrochene kollektive Überlegenheitsgefühl, die daraus resultierende Neigung zu einsamen Entscheidungen und dazu, das eigene Gesellschaftsmodell zu exportieren, die besonderen Bedingungen einer Thalassokratie und die damit einhergehende Nötigung zu informeller Herrschaft.

Man muß den Stil amerikanischer Außenpolitik nicht schätzen und kein Anhänger kultureller „Amerikanisierung“ sein, um angesichts der Lage zu einem eindeutigen Ergebnis zu kommen: Jede Abwendung von den USA führt Deutschland in andere, in der Konsequenz weniger wünschenswerte Abhängigkeiten. Die Vorstellung, daß die gemeinsame Aversion des alten Kontinents gegenüber dem Irak-Krieg eine „europäische Identität“ erzeugt habe, bestimmt durch einen „politisch-ethische[n] Wille[n], der sich in der Hermeneutik von Selbstverständigungsprozessen zur Geltung bringt“ (Jacques Derrida, Jürgen Habermas), streift die Grenze zur Albernheit. Europa ist keine politische Wirklichkeit und von einer „Machtergreifung“ (Emanuel Todd) unendlich weit entfernt.

Daraus im Umkehrschluß zu folgern, man müsse sich den Vorgaben der amerikanischen Strategie blindlings unterwerfen, wäre aber gleichfalls verfehlt. Am Ende der erwähnten Sendung präsentierte Sloterdijk den Zuschauern noch eine Leseempfehlung: das Buch Macht und Ohnmacht des Amerikaners Robert Kagan. Was ihn nachhaltig an dieser Lektüre irritiert habe, so Sloterdijk, war das unverhohlene Bekenntnis des Autors zu einer harten, allein nationalen Interessen verpflichteten Politik der Vereinigten Staaten. Sloterdijk referierte Kagans Position selbstverständlich mit der Absicht der „Entlarvung“, und er durfte auf Beifall rechnen. Aber was soll damit gewonnen sein? Die Enthüllung der Tatsache, daß es in den USA eine lange Tradition machiavellistischen Denkens gibt, - das wäre immerhin etwas. Die Enthüllung, daß das normative Selbstverständnis der Vereinigten Staaten als Vormacht der freien Welt keine Abbildung der Wirklichkeit ist, vielleicht verbunden mit der Intention, sie zu ihrer wahren Identität zurückzuführen oder diese Funktion in einer Art von Rollentausch zu übernehmen, - das wäre gar nichts.

Dr. Karlheinz Weißmann, Jahrgang 1959, ist Historiker und Studienrat an einem Gymnasium. 1992 veröffentlichte er als Mitherausgeber das Buch "Westbindung. Chancen und Risiken für Deutschland".

Literatur:
Halford Mackinder: Der geographische Drehpunkt der Geschichte [1904], in: Josef Matznetter (Hrsg.): Politische Geographie, Wege der Forschung, Bd 331, Darmstadt 1977, S. 54-77

Geoffrey Parker: Western geopolitical thought in twentieth century, London und Sydney 1985

Niall Ferguson: Der falsche Krieg. Der Erste Weltkrieg und das 20. Jahrhundert, Stuttgart 1999

Mark Lilla: Ist die „Umerziehung“ zu weit gegangen? Amerikas Ideale und das deutsche Selbstverständnis, in: Neue Zürcher Zeitung vom 5. April 2003

Heinrich Triepel: Die Hegemonie. Ein Buch von führenden Staaten, Stuttgart 1938.

Robert Kagan: Macht und Ohnmacht. Amerika und Europa in der neuen Weltordnung; Berlin 2003

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