Europas Schlusslicht oder Eurasische Führungsmacht?TÜRKEI

Europas Schlusslicht oder Eurasische Führungsmacht?

Ne mutlu Türküm diyene“ - welch ein Glück, Türke zu sein. Dieser Satz wird Mustafa Kemal Atatürk zugeschrieben. Einer seiner politischen Enkel, Recep Tayyip Erdogan wird ihn sicher gutheißen und es nicht anders sehen. Er macht ihn sogar in gewisser Hinsicht zum politischen Programm, wenn er seine Landsleute in Deutschland auffordert, Türken zu bleiben, sich nicht zu assimilieren, Türkisch zu sprechen und dann erst Deutsch. CSU-Generalsekretär Alexander Dobrindt erblickt darin Aufwiegelung. Auch andere deutsche Politiker geben sich verärgert. Doch der Türkenpremier kontert: Er mache nur „Privatbesuche“ in Deutschland und spreche dabei zu seinen Landsleuten. Das ließ er z.B. bei seinem Auftritt im Februar 2011in Düsseldorf verlauten.

Von Wolf Oschlies

W as für „Privatbesuche“ mögen das sein, die der türkische Regierungschef abstattet, um hier vor über 10.000 Landleuten als Hassprediger aufzutreten? Im Februar 2008 denunzierte er in Köln Integration als Assimilation und nannte diese ein „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“. Ende Februar 2011 besuchte er Türken in Düsseldorf, „meine Staatsbürger, meine Leute, meine Geschwister“. Auch als Inhaber deutscher Pässe gehörten sie zur „großen Türkei“ und niemand darf sie „von unserer Kultur und Identität trennen“. Wenn es nach Erdogan geht, dann sollen Türken Deutsch bestenfalls als rudimentäre Zweitsprache lernen. Das ist keine Marotte des Premiers, sondern offizielle Politik, wie österreichische Parlamentarier Anfang März 2011 vor Ort erfuhren: „Deutschkurse im Ausland werden in Ankara eher als Provokation wahrgenommen“, wurde ihnen rundheraus gesagt. 

Gegen Juden und EU

Erdogans letzter „Privatbesuch“ fiel zeitlich mit dem Tod von Necmettin Erbakan zusammen, - gestorben am 27. Februar 2011in Ankara. Er war einst ein begnadeter Techniker an der TH Aachen, wo er auch promoviert hat. Politisch aber war Erbakan ein primitiver Antisemit und blindwütiger Chefideologe der extremistischen Milli-Görus-Bewegung, die eine islamische Weltherrschaft unter türkischer Führung erstrebt.

Erbakan war der politische Ziehvater von Erdogan, woran auch die Tatsache nichts ändert, dass er diesen zuletzt als „Kassierer des Zionismus“ verdammte und ihm den baldigen Sturz prophezeite. Was dem pathologischen Judenhasser Erbakan an seinem einstigen Schüler Erdogan besonders missfiel, hat er im November 2010 in einem Interview geäußert: „Er will in die EU, die ist aber ein Glied der zionistischen Weltordnung. Gott sei Dank nimmt uns die EU nicht auf“.
 
Die EU nimmt die Türkei in der Tat nicht auf, weil die Türkei kaum eines der für den Beitritt nötigen Kriterien erfüllt. In dieser Hinsicht ist der jüngste EU-Fortschrittsbericht von Anfang März 2011 eine erhellende Lektüre: Die Türkei ist das Land der Menschenrechtsverletzungen, „Ehren“-Morde, Verfolgung von Journalisten, Zwangsheiraten, mangelnden Rechtssystems, Terrors gegen religiöse Minderheiten etc., deren Verhältnisse sich verschlechtern, und die folglich nicht nach Europa gehört.

Die türkische Abwendung von Europa

Will Erdogan seine Türkei überhaupt in die EU führen? Seine bei „Privatbesuchen“ in Deutschland mehrfach wiederholte Absage an echte Integration der hier lebenden Türken passt zu türkischer Abwendung von Europa. Gegen einen EU-Beitritt sind gegenwärtig 62 Prozent der Türken, 2004 waren 75 Prozent dafür! Jüngste Umfragen der Jahre 2009 bis 2011 ergaben, dass 81 Prozent der Türken glauben, die EU habe als oberstes Ziel die Verbreitung des Christentums, 71 Prozent meinten, die EU wolle die Türkei zerschlagen, 52 bis 66 Prozent wünschen weder Christen noch Juden als Nachbarn, 62 Prozent bestimmen Religion als höchste Priorität in ihrem Leben, nur 13 Prozent die Demokratie.

Für Erdogan ist die EU ein „Christenclub“, und „wenn sie uns in der EU nicht wollen, verlieren wir nichts“. Die Länder des „Christenclubs“ sind den Türken gründlich zuwider: Nur 16 Prozent von ihnen habe eine gute Meinung von Deutschland, das damit noch am besten dasteht in Europa, da Briten, Spanier, Italiener, Franzosen etc. alle lediglich um zehn Prozent liegen. Diese EU muss es sich gefallen lassen, von Erdogans Türkei erpresst zu werden. Ende Januar hatte die EU mit der Türkei ein Abkommen zur Rücknahme illegaler Immigranten ausgehandelt, das diese nur anwenden will, wenn die EU die Visumspflicht für Türken aufhebt. Die Türkei steht laut Erdogan „nicht mehr als demütiger Bittsteller“ da, offiziell strebt sie noch zur EU, real zahlt sie dieser jahrzehntelange Zurückweisung und Ablehnung heim.

Außenminister Davutoglu und sein Konzept

So etwas empfindet mancher als neoosmanische Dreistigkeit, doch ist es Reflex einer neuen Außenpolitik, die Ahmet Davutoglu, seit 2003 Erdogans Chefberater und seit Mai 2009 Außenminister, zielstrebig betreibt. Dieser charismatische Politiker, Absolvent des türkischdeutschen „Istanbul Lisesi“ und langjähriger Hochschullehrer, hat der Türkei ein dreidimensionales Konzept von beeindruckender Schlüssigkeit verordnet: Sie soll „in Europa europäisch und im Orient orientalisch sein, denn sie ist beides“. Als Türkei kann sie bei Turkvölkern aktiv werden, als islamischer Staat in der islamischen Welt, und als Erbin des Osmanischen Imperiums in dessen einstigen Balkanprovinzen. Im Oktober 2009 hat er im bosnischen Sarajevo eindrucksvoll den Aktionsbereich seiner Politik absteckt: „Jawohl, was immer auf dem Balkan, im Kaukasus oder in Nahost passiert, geht uns ganz direkt an. Als Außenminister bin ich den einen Tag im Irak, den nächsten in Aserbaidschan und den Tag darauf in Bosnien. Alle Geschehnisse dort stehen auf unserer außenpolitischen Tagesordnung“.

Der Erfolg dieses Konzepts verblüfft. Minister Davutoglu ist mittlerweile ein international gefragter Gastredner und Autor, dessen optimistische Botschaften überall gut ankommen. Das gilt besonders für Russland, wozu Davutoglu im Februar 2010 in der angesehenen Fachzeitschrift „Russland in der Globalpolitik“ (RGP) ausführte: „Mit Russland verbinden uns mustergültige Nachbarschaftsbeziehungen, die von keinerlei Problemen verdunkelt werden. Wir halten Russland für einen unschätzbaren Partner, Ankara und Moskau kümmern sich um die Lösung ein und derselben internationalen Probleme, wir verstehen einander und umgehen delikat ‚schmerzliche‘ Themen, die Konflikte provozieren könnten“.

Russland und Türkei: Führungsmächte Eurasiens

Das ist keinesfalls orientalisch blumiger Nonsens. Russland und die Türkei haben sich vielmehr als „Führungsmächte Eurasiens“ erkannt, sagte im Mai 2010 Shibek Sysdykova, Asien- und Kaukasus-Expertin der Moskauer Universität. In der Türkei machen alljährlich knapp drei Millionen Russen Urlaub, nach Russland kommen türkische Bautrupps und Geschäftsleute, seit Anfang 2009 hat es eine Fülle von gegenseitigen Besuchen der Spitzenpolitiker beider Länder gegeben.

Mit Russland hat die Türkei keine politischen Probleme, pflegt einen umfangreichen Außenhandel und projektiert gemeinsame Öl und Gaspipelines. Aber gerade im außenwirtschaftlichen Bereich übertönt Davutoglus Gesäusel drängende Sorgen. 2009 war Russland zweitgrößter Handelspartner der Türkei mit einem Gesamtvolumen von 22 Mrd. US-Dollar, wobei 19 Mrd. auf türkische Importe entfielen. Die Türkei bezieht aus Russland die Hälfte ihres benötigten Gases und ein Viertel des Erdöls. Weil sie als Kompensation wenig zu bieten hat, räumte Minister Davutoglu ein, „häufte Ankara ein beträchtliches Handelsdefizit durch den Import von Energieressourcen an“. 2010 ging das infolge der Weltwirtschaftskrise etwas zurück, soll bis 2015 aber kräftig ansteigen, da die Premiers Putin und Erdogan am 13. Januar 2010 in Moskau einen Anstieg des Handelsvolumens auf 100 Milliarden US-Dollar vereinbarten.

Russische Kommentare zum russischtürkischen Verhältnis strapazieren „eurasische“ Terminologie und Assoziationen, was „gefährlich“ sein kann. „Vordenker“ Eurasiens war der russische Kulturphilosoph Konstantin Leontjew (18311891), der die Region vor allem als Heimstätte von Versagern ansah; nach seinen Worten „zeichnet sich unsere russische Seele durch die Eigenart aus, dass wir von allen Völkern, vielleicht abgesehen von den Türken, das am wenigsten schöpferische Volk sind“. 

Türkei, Aserbaidschan, Armenien

Die rohstoffreiche Ex-Sowjetrepublik Aserbaidschan (86.600 Quadratkilometer Fläche, 9,1 Millionen Einwohner) gilt seit jeher als der „kleine Bruder“ der Türkei, mit ihr „vereint durch gemeinsame Geschichte, Sprache und Kultur“ (Davutoglu). Aserbaidschans Souveränität wurde bereits 1920 von der Pariser Friedenskonferenz anerkannt. Später versank das Land in Stalins Sowjet-Imperium, aus dem es sich am 30. August 1991 durch Restitution seiner alten Eigenstaatlichkeit verabschiedete, um seither „ohne Freunde und ohne Feinde“ seinen Weg zu gehen.

Mit Russland lief das ohne Spannung ab: Etwa 650.000 Aserbaidschaner leben und arbeiten in Russland, aus dem sie jährlich bis zu 2,4 Milliarden US-Dollar nach Hause überweisen. Anfänglich spielte die politische Führung des Landes nicht ungern die Rolle des türkischen „kleinen Bruders“, inzwischen ist man deutlich auf Distanz gegangen und hat sich mehr auf England und Amerika zubewegt. Die haben nämlich längst den wirtschaftlichen und geostrategischen Wert des kleinen Landes am Kaspischen Meer erkannt, während die EU ihm ständig mit Klagen über Mängel in Demokratie, Rechtswesen etc. in den Ohren liegt.

Die Aserbaidschaner „haben die Ruhe weg“, was ihre außenpolitischen  und außenwirtschaftlichen Beziehungen betrifft. Von daher ist es auch nicht ganz einfach, die Qualität des Verhältnisses zur Türkei zu beurteilen. Das bilaterale Handelsvolumen ist mit 2,5 Milliarden US-Dollar bescheiden, das Volumen der türkischen Investitionen auch. Der Umgang mit der EU ähnelt türkischen Usancen: laute Bekenntnisse, Bekundungen der eigenen Zugehörigkeit zu „Europa“, aber keine konkreten Schritte.

Schwieriges Verhältnis zu Armenien

Zudem hat die Türkei Aserbaidschan in der Vergangenheit einige „Bärendienste“ geleistet: Sie machte im Krieg mit Armenien um die armenische Exklave Nagorny Karabach in Aserbaidschan (1991-1994) Miene, die türkische Militärintervention 1918-1920 zu wiederholen, und sie ergriff nach 2000 ganz undifferenziert die aserbaidschanische Partei bei Konflikten mit dem Iran. Dabei braucht Aserbaidschan keine türkische „Hilfe“, es hat strittige Fragen allein bereinigt, zudem 2004 im nordiranischen Täbris, wo Aserbaidschaner kompakt leben, ein Generalkonsulat eröffnet.
 
Schwieriger ist das Verhältnis zu Armenien (29.800 Quadratkilometer Fläche, 3,2 Millionen Einwohner), das noch immer von dem türkischen Völkermord 1915/16, bei welchem ca. zwei Millionen Armenier ermordet wurden, belastet ist. Bereits 1993 forderte die Türkei von Armenien, es solle mit seinen Anklagen eines türkischen Genozids aufhören, die Grenzen der Türkei anerkennen und seine Truppen aus Nagorny Karabach zurückziehen.

Armenien dachte nicht daran, die Türkei beharrte auf ihren Forderungen – erst 2007 gelang es, mit Hilfe der EU, Russlands und den USA diplomatische „Kanäle“ zu finden und am 10, Oktober 2009 in Zürich zwei „Protokolle“ zu signieren, die den Anfang einer Aussöhnung setzten sollten.

„Was nützt einem Land ein intelligenter Außenminister, wenn es einen politischen Toren als Premier ertragen muss?“

So hat es Davutoglu im Februar 2001 in der russischen RGP geschrieben und da wohl nicht im Traum daran gedacht, dass sein eigener Premierminister Erdogan mit dem Aussöhnungsversuch wie ein Elefant im Porzellanladen umgehen würde. Im April 2010 war der 95. Jahrestag des türkischen Genozids, woran Resolutionen in Schweden und den USA erinnerten. Darüber verärgert, hatte Erdogan 100.000 in der Türkei lebenden Armeniern mit Ausweisung gedroht. Das wiederum brachte ihm in Armenien eine Disqualifizierung als „politischer Brandstifter“ ein.

Was nützt einem Land ein intelligenter Außenminister, wenn es einen politischen Toren als Premier ertragen muss? Erdogan versuchte vergeblich, den Schaden zu begrenzen, den er selber angerichtet hatte. Der armenische Präsident Serge Sargsjan erklärte in einer TV-Ansprache an die Nation, „wir betrachten die gegenwärtige Phase der Normalisierung mit der Türkei für beendet“. Daran trüge Erdogan die Hauptschuld, und erst „unter einer anderen Führung in Ankara sei Armenien bereit, sich wieder um eine Normalisierung zu bemühen“.

Präsident Sargsjan hatte allen Grund, sich von Erdogan auch persönlich hintergangen zu fühlen. Im Dienste der Zürcher Protokolle, die selbst die Aufnahme diplomatischer Beziehungen vorsahen, hatte armenische Essentials aufgegeben – eine Historikerkommission sollte die Details der Bluttaten von 1915 untersuchen, und Armenien wollte die aktuelle Grenze mit der Türkei anerkennen, obwohl ihm die Pariser Friedenskonferenz 1920 im Vertrag von Sèvres den gesamten Nordosten der Türkei, von östlich der Stadt Trabzon bis zum südlichen Van-See, zugesprochen hatte. Das wären für die Türkei schmerzhafte Territorialverluste gewesen, die ihr die Weltkriegssieger ganz bewusst als Strafe für ihre „blutige Tyrannei“, sichtbar vor allem am Genozid an Armeniern, zugedacht hatten. Das weiß heute niemand mehr, und so kann Ankara von Jerewan die nachträgliche Billigung türkischen Genozids und Landraubs verlangen.

Türkei islamisches „Modell“? 

Sein Glanzstück lieferte Minister Davutoglo beim neuen Umgang der Türkei mit ihren arabischen „Brüdern“. Bei den Arabern hatte die Türkei traditionell ein verheerendes Image, weil sie, vor die Wahl zwischen Glauben und Weltmacht gestellt, sich stets für die Macht entschied und so ihr, eurasisch-orientalisches Imperium zusammenkriegte. Der Glaube spielte dabei eine untergeordnete Rolle, denn als Zentrum der islamischen „Welt“ waren die osmanischen Sultane bis 1923 automatisch auch „Kalifen“ (Nachfolger des Propheten Mohammed). Im Bewusstsein ihrer Allmacht gaben sie sich großzügig und liberal, was beispielsweise die Muslime in Bosnien, allesamt Slaven, veranlasste, freiwillig und massenhaft zum Islam zu konvertieren. Eben diese Liberalität bedingte das „unislamische“ Image des türkischen Islam bei Arabern.
 
Das hat die Türkei bislang als Neid interpretiert, weil arabische Despotien den türkischen Weg zu einer laizistischen Demokratie nicht nachgehen könnten. Nur die Türkei konnte  Kontakte zu Iran, Syrien, Jordanien etc. pflegen, ohne als islamisches „Leichtgewicht“ fundamentalistisch vereinnahmt zu werden. Jetzt wanken die Despotien, was automatisch den „Wert“ der Türkei erhöht – als Modell, Vermittler, Schlichter oder in anderen Rollen, die ihr niemand zugetraut hätte. Nur die Türkei kann mit extremistischen Organisationen wie „Hamas“ oder „Hisbollah“ Kontakt pflegen, und sei es mit keinem anderen Effekt, als diese dem Einfluss Teherans zu entziehen. Sie kann zwischen Israel und den Arabern vermitteln und weitere Taten dieser Art, die einen aufatmend daran denken lassen, dass die Türkei zum Glück Mitglied der NATO und „Trumpfkarte“ westlicher Sicherheitspolitik ist. Wenn, wie erwähnt, Demokratie, Wirtschaft, Menschenrechtspolitik der Türkei EU-Ansprüchen nicht genügen, dann stehen sie dennoch turmhoch über dem, was arabische Staaten in dieser Hinsicht aufzuweisen haben.

Türkisches „Heimspiel“ auf dem Balkan

Der Balkan ist für die Türkei ein Heimspiel. Von 1393 (Eroberung Bulgariens) bis 1912 (Befreiung Makedoniens) waren die Osmanen dort präsent, und bei Balkanvölkern ist es vielfach noch Usus, die osmanische Fremdherrschaft äußerst negativ zu charakterisieren. 1893 veröffentlichte der bulgarische Nationaldichter Ivan Vasov seinen später weltberühmten Roman „Unter dem Joch“, bulgarisch „Pod igoto“. Seither sind „Igo“, wahlweise auch „robstvo“ (Sklaverei) bei Bulgaren Synonyme für die Osmanenherrschaft, und ihre Nachbarn urteilen nicht freundlicher. Die Gründe dafür sind beispielsweise bei dem serbischen Literatur-Nobelpreisträger Ivo Andric nachzulesen, der in seinen Romanen türkische Brutalitäten in schrecklichsten Details beschreibt. In makedonische Volksliedern werden „kleti Turci“ (verdammte Türken) beschimpft, serbische Sprichwörter besagen „nema vere u Turcina“ (ein Türke ist treulos) und ähnliches in Fülle mehr: Auf dem Balkan waren die Türken nie beliebt.

Aber verhasst waren sie auch nicht, schon gar nicht so brutal, wie ihnen immer nachgesagt wurde und wird. Eine blutige Terrorherrschaft hält sich nicht ein halbes Jahrtausend in einer fremden Umgebung, und selbst der Türkenhasser Adric hat ja geurteilt, dass die Osmanenherrschaft auf dem Balkan auch „die Zeit einer wunderbaren Ruhe gewesen“ sei. War sie gar „das goldene Zeitalter des Balkans“? Minister Davutoglu hat am 16. Oktober 2009 in Sarajevo zur Eröffnung der Konferenz „Das osmanische Erbe und die balkanische Muslimgemeinde heute“ dieses Behauptung gewagt und für sie und andere noch Szenenapplaus geerntet, z.B. mit Sätzen wie diesen: „In der Türkei leben mehr Bosnier als in Bosnien und mehr Albaner als in Albanien. Wir wollen eine neue Balkanregion, basierend auf gemeinsamen Werten, ökonomischer Kooperation und kultureller Harmonie. So war der ottomanische Balkan, den wir erneuern wollen“.

Aber Davutoglu lobte die Vergangenheit nicht unverbindlich, er erläuterte, warum sie lobenswert gewesen war und wie man ihre alten Vorzüge in neue Vorteile verwandeln könnte: Es gab eine Periode, in welcher die Balkanvölker von der türkischen Position „im Zentrum der Weltpolitik“ profitierten. Heute seien sie „Opfer eines weltweiten Wettstreits“ und lägen „an der Peripherie einer fremden Macht“.

Und die Lösung? „Wie im 16. Jahrhundert der osmanische Balkan zum Zentrum der Weltpolitik aufrückte, so wollen wir den Balkan, Kaukasus, Nahost zusammen mit der Türkei zum künftigen Zentrum der Weltpolitik machen. Das ist das Ziel der türkischen Außenpolitik, und wir werden es erreichen“. Eine eventuelle neoosmanische Befriedung des Balkans ließ selbst die EU aufmerken, die Ende 2010 ihren Hohen Bosnien-Repräsentanten Valentin Inzko nach Ankara schickte, um sich türkische Hilfe für das zerrissene, zerstrittene, blockierte Bosnien zu sichern.

Der Berliner Politologe Dusan Reljic hat das neue türkischbalkanische Verhältnis „Bündnis der Abgelehnten“ genannt – alle sind von der EU abgelehnt und proben nun den Schulterschluss. Nach wie vor kommen 80 Prozent der Hilfen und Investitionen von der EU, aber türkische Aktivitäten sind rascher, gezielter. Die Türkei investiert in „strategische Sektoren“ – Telecom, Flughäfen, Banken , sie bevorzugt religiöse und kulturelle „Verwandte“ (Bosnien, Albanien, Kosovo), und wenn sie denen größere Länder wie Rumänien und Serbien vorzieht, dann mit klaren Worten: Eine Wirtschaftsruine wie das Kosovo bekommt verbalen Kredit, aber keinen monetären! Anders Makedonien, „goldener Apfel“ des osmanischen Imperiums und Heimat von Staatsgründer Kemal Atatürk, das großzügig unterstützt wird, ökonomisch und vor allem politisch: Makedoniens EU und NATO-Karriere wird rechtswidrig von Griechenland blockiert, wogegen die Türkei opponiert – mit Nadelstichen oder schwererem Kaliber.

Was hat die Türkei wirklich zu bieten?

„Straßenfeger“ waren im West-Balkan 2010 türkische TV-Serien wie „Sehrezad“ und ähnliche. Sie zeigten keine Türkei der Sultane, Janitscharen und Harems, sondern eine moderne und laizistische Türkei. Die Balkanleute hatten ihren Spaß an diesen Soap- Operas – die Türkei mehrfachen Gewinn: In Bosnien füllten sich die türkisch finanzierten Privat-Universitäten, in Serbien stiegen die Hörerzahlen von Türkisch-Kursen und ganz allgemein verzeichnete die Türkei erfreulich gewachsene Zahlen balkanischer Touristen. Kurz: Das türkische Image wandelte sich über Nacht zum Positiven, Bosnier empfinden es nicht mehr als Beleidigung, „Türke“ genannt zu werden, alte Aversionen, etwa die der Serben gegen die Türken, sind vergessen.

So weit, so gut, aber was hat die Türkei nun wirklich zu bieten? Der Wissenschaftler Reljic beziffert das türkische Angebot als relativ gering, und dieses wenige wird zumeist ungebeten offeriert und vor Ort als Einmischung empfunden. Was die Balkan-Länder benötigen – Wirtschaftshilfe, europäische Integration, Sicherheit und Energielieferungen , bekommen sie von den USA, der EU, der NATO und von Russland, die Türkei spielt dabei nur eine bescheidene indirekte Rolle, z.B. als NATO-Mitglied.

Wichtiger noch ist, dass auch türkische Bäume nicht in den Himmel wachsen. Wenn das Land momentan einen anderen Eindruck erweckt, dann weil es international grotesk überschätzt wird: Angeblich 17. Platz in der Weltwirtschaft, 12 Prozent Wachstum (2010), 2023 (zum 100. Staatsgeburtstag) führende Macht in Europa etc. Das alles klingt wie die DDR in ihrer Schlussphase, als sie restlos pleite war, aber laut eigener Bekundung „zu den zehn höchstindustrialisierten Staaten der Welt“ gehörte.

Um 2004 betrug die gesamtwirtschaftliche Wertschöpfung der Türkei armselige 22 Prozent des EU-Durchschnitts. Die Türkei (schrieb vor einem Jahr der Wirtschaftsjournalist Jacques Schuster) bleibt „auf absehbare Zeit ein bedauernswert unterentwickelter Schlucker“, den aufzunehmen die EU unbezahlbare 45 Milliarden Euro im Jahr kosten würde. Das Land ist hoch verschuldet, in Budget und Außenhandel hochdefizitär, vom Krisenjahr 2009 gebeutelt, längst noch nicht wieder auf dem Vor-Krisen-Level angelangt, mit allzu vielen Arbeitslosen und Analphabeten belastet und unfähig zu echten Reformen in Verfassung und Wirtschaft. Eine Führungsmacht sieht sicher anders aus.

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