Valentin Akudowitsch im Interview über Freiheit in BelarusEM-INTERVIEW

„Freiheit ist für jeden wichtig, sogar für die Pinguine“

Valentin Akudowitsch im Interview über Freiheit in Belarus

Im Rahmen des Programmschwerpunkts „tranzyt“- der Literatur Polens, der Ukraine und Belarus – stellte der belarussische Philosoph Valentin Akudowitsch auf der Leipziger Buchmesse seinen Essay „Der Abwesenheitscode: Versuch, Weißrussland zu verstehen“ (Suhrkamp, 2013) vor. Mit ihm sprach Julia Schatte. Im Gespräch beschreibt Valentin Akudowitsch die ambivalente Rolle der belarussischen Kultur und Sprache für die Politik und die kontroversen Auffassungen über Freiheit, Demokratie und Patriotismus in seinem Land.

Von Julia Schatte

Valentin Akudowitsch (Mitte mit Brille und Bart) in einer Diskussionsveranstaltung auf der Leipziger Buchmesse.
Valentin Akudowitsch (Mitte mit Brille und Bart) in einer Diskussionsveranstaltung auf der Leipziger Buchmesse.
Foto: Martin Feuchte

Eurasisches Magazin: In der Diskussion um nationale Identitäten auf der diesjährigen Leipziger Buchmesse sagten Sie, Belarus wäre die meiste Zeit „verdeckt“ gewesen. Wodurch verdeckt, durch wen, bzw. warum?

Valentin Akudowitsch: Verdeckt war Belarus, weil es das Land ganz einfach nicht gab. Die ganze Zeit über waren wir verschiedenen politischen Gegebenheiten und kulturellen Einflüssen ausgesetzt. Nie haben wir definiert, wer wir eigentlich sind, die hier auf diesem Territorium leben. Bis zum Beginn des 20.Jahrhunderts und der Gründung einer belarussischen Volksrepublik waren wir scheinbar gar nicht da. Zumindest gab es uns nicht als Staat.

EM: Welche politischen und kulturellen Einflüsse prägen heute Belarus?

Akudowitsch: Die Bezeichnung „Belarus“ ist künstlich, sie wurde im Kanzelarium des Russländischen Imperiums ausgedacht, um einen Teil Russlands zu bezeichnen, der aber etwas anders ist. Mehrere Jahrhunderte lang gehörte das belarussische Territorium  gar nicht zum russischen Staat, es stand unter byzantinischem Einfluss, war seit dem 13. Jahrhundert Teil des Großfürstentums Litauen und seit dem 16. Jahrhundert Teil der polnischen Rzeczpospolita.  Als Teil der Rzeczpospolita, der ältesten Demokratie Europas – vielleicht von England abgesehen – hätten wir auch eine demokratische Tradition, davon ist heute aber gar nichts mehr übrig.

Es gibt auch eine kulturelle Zweiteilung:  den einen Teil des Landes bilden die Litvinen, deren Kultur durch das Lateinische und den Katholizismus geprägt ist. Der andere Teil sind die Rusinen im Osten, die wiederum orthodox geprägt sind. Diese zwei Einflüsse haben den Prozess der Identitätsfindung früher und auch heute sehr erschwert.

„Dieses Land haben wir nicht im Kampf erobert, sondern es entstand einfach so“

EM: Wie hat sich die Selbstwahrnehmung der Belarussen seit der Unabhängigkeit verändert?

Akudowitsch: Radikal! Die letzten 20 Jahre waren eine spannende Zeit, denn plötzlich wachten die Belarussen in einem eigenen Land auf. Dieses Land haben wir nicht im Kampf erobert, sondern es entstand einfach so. Das Gefühl, unser eigenes Land zu haben, kannten wir vorher nicht. Es war schwierig, sich daran zu gewöhnen. Sehr viele haben sich auch nach 20 Jahren noch nicht daran gewöhnt. Vorher gab es zwar die belarussische Volksrepublik, aber ein eigenes Land war das nicht. Es war ein administratives Territorium des kommunistischen Imperiums.

In der Emigration gab es im 20. Jahrhundert zwar Vordenker, die  die Idee einer nationalen Wiedergeburt der Belarussen propagierten, aber in sowjetischer Zeit war alles blockiert, und unsere Bevölkerung konnte in diese Ideen kaum einbezogen werden.

„Präsident Lukaschenko hat alle Bewegungen einer nationalen Wiedergeburt sehr schnell abgewürgt“

EM: Wie sehen Sie die politische Entwicklung der Belarus in den letzten 20 Jahren?

Akudowitsch: In den 1990-er Jahren gab es viele Initiativen einer kulturellen Wiedergeburt, und die national-demokratische Bewegung war der stärkste politische Konkurrent Lukaschenkos. Um diese zu vernichten, wurden zunächst alle Versuche unterbunden, die belarussische Sprache zu etablieren, die Basis der national-demokratischen Bewegung war. Diese neue Unterdrückung der nationalen Geschichte, Kultur und Sprache der Belarussen behinderte wieder den Prozess der Identitätsfindung.

Präsident Lukaschenko hat alle Bewegungen einer nationalen Wiedergeburt sehr schnell abgewürgt. Mit diesem Diktator, einer Art Zar, setzt sich damit die Tradition eines  Gehorsams fort, an das die Belarussen schon lange Zeit gewöhnt waren.

EM: Welche Entwicklung hätten Sie sich für Belarus gewünscht?

Akudowitsch: Man hätte nach dem Gewinn der Unabhängigkeit  alles verändern und umbauen müssen - alle politischen, ökonomischen und sozialen  Institutionen. Stattdessen ist die sowjetische administrative Struktur im Großen und Ganzen  übernommen und erhalten worden, so dass  man stets in Moskau um Erlaubnis fragen muss.

Ich würde mir wünschen, wir bauten Belarus nach dem französischen Modell einer Staatsbürgergesellschaft auf, nicht nach dem deutschen, das auf ethnisch-kultureller Zugehörigkeit beruht. Leider haben wir  jedoch diese Diktatur bekommen.  Ob das nun aber gut oder schlecht ist, wird sich erst später zeigen.

Der Abwesenheitscode
In seinem Buch „Der Abwesenheitscode: Versuch, Weißrussland zu verstehen“ beschreibt Valentin Akudowitsch eine Nation, die erst in den letzten 20 Jahren ihrer Unabhängigkeit „wach geworden“ und nach wie vor auf der Suche nach der nationalen und kulturellen Identität ist. Das kulturelle Bewusstsein ist gespalten, denn ein Teil identifiziert sich mit Europa, ein anderer Teil mit dem Eurasischen Raum, der sogenannten „Russischen Welt“.  Die autoritäre Regierung unter Präsident Lukaschenko verstehe den Wert einer nationalen belarussischen Kultur nicht und unterdrücke sie, was die Identitätsfindung noch schwieriger macht.
Edition suhrkamp 2013, Taschenbuch, 204 Seiten, 15 Euro, ISBN-13: 978-3518126653.

„Man wird schon verhaftet, wenn man auf die Straße geht und in die Hände klatscht“

EM: Welche anderen politischen Stimmen gibt es derzeit neben der offiziellen Ideologie?

Akudowitsch: In den 90-er Jahren gab es noch eine starke Opposition, die auf die Straße ging und gegen den Gehorsam rebellierte. Es gab Kundgebungen, zu denen sich 20.000-50.000 Menschen versammelten. Mit Hilfe verschiedener Manipulationen hörte das aber allmählich auf.  Jetzt ist sowieso alles verboten, man wird schon verhaftet, wenn man auf die Straße geht und in die Hände klatscht. Ein politisches Leben gibt es praktisch nicht mehr. Offiziell haben wir ca. zehn politische Parteien. Wenn sie sich versammeln, werden sie nicht gleich verhaftet. Aber nur solange sie nicht auf die Straße gehen und sich nicht bemerkbar machen. Sicher wissen sie, dass von zehn Präsidentschaftskandidaten alle außer Lukaschenko  ins Gefängnis gehen mussten.

EM: Gibt es Widersprüche zwischen der offiziellen Darstellung und der Wahrnehmung des Volkes?

Akudowitsch: Die Mehrheit der Bevölkerung unterstützt Lukaschenko, aber selbst in den besten Zeiten gab es immer 20 Prozent, die nicht einverstanden waren. Das Rating Lukaschenkos ist inzwischen stark gefallen, aber durch die anhaltenden Repressionen regiert die Angst. Allen ist klar, dass der Widerstand sinnlos ist. Übrig geblieben ist der Protest einzelner. Wenn man also unbedingt verhaftet werden will, geht man damit auf die Straße. Die Mehrheit will das nicht. Nur ein paar Menschen halten es einfach nicht aus und tun es doch.

EM: Warum ist Lukaschenkos Rating gefallen?

Akudowitsch: Es wächst eine neue Generation heran. Selbst wenn sie nicht besonders politisch aktiv ist, so denkt sie bereits anders. Lukaschenko hat sich aber überhaupt nicht geändert. Welche Proteststimmungen es jedoch im Einzelnen gibt, ist unklar, weil alles im Verborgenen passiert.   

„Wir leben ein vollwertiges Leben, wenn ein unpolitisches Leben denn vollwertig sein kann“

EM: Wie sehen Sie Ihre persönliche Freiheit?
 
Akudowitsch: Man wird meine Texte in keiner staatlichen Zeitung oder Zeitschrift drucken, ich könnte auch nicht im staatlichen Fernsehen auftreten. Aber sonst kann ich frei schreiben und veröffentlichen, ein paar unabhängige Zeitschriften sind geblieben. Wenn man nicht gerade eine direkte persönliche Beschimpfung Lukaschenkos formuliert, kann man da alles publizieren, was man möchte. Wir leben also ein vollwertiges Leben, wenn ein unpolitisches Leben denn vollwertig sein kann.

EM: Für die meisten Belarussen ist Russisch die erste Sprache und auch die Sprache der Kommunikation. Wie sehen Sie das Verhältnis der beiden Sprachen in ihrem Land?

Akudowitsch: Die russische Sprache ist für uns eine funktionale, die belarussische dagegen die Sprache der Werte. Zu einer funktionalen Sprache, zur Sprache der Kommunikation kann das Belarussische für uns eher nicht werden, aber zum Symbol für unsere Werte.  Denn der Belarusse denkt mit dem Herzen eher als mit dem Kopf.

„In der Kommunikation dominiert eindeutig das Russische“

EM: Hat die belarussische Sprache dann eine Zukunft?

Akudowitsch: Das ist ein schmerzhafte Frage für mich, denn ich sehe das Belarussische als das Haus unseres Seins. Aber wir müssen uns eingestehen: Belarus wird niemals nur belarussisch sein. Diese Sprache war und wird nie die einzige Sprache unserer Nation sein. Lukaschenko hat einen großen Einfluss darauf, denn er sieht die belarussische Sprache als einen politischen Gegner, den es zu vernichten gilt. Daher schauen wir etwas neidisch in Richtung Ukraine, Baltikum oder auch Kasachstan, die ihre Sprachen in den letzten 20 Jahren aktiviert und entwickelt haben. Bei uns dagegen ist das Niveau eher gefallen. In der Kommunikation dominiert eindeutig das Russische.

Noch gibt es aber eine „unabhängige Kultur“, eine Art Untergrund-Kultur, in der die belarussische Sprache dominiert. Im Diskurs dieser unabhängigen Kultur ist das Russische die Sprache der Diktatur, des Totalitarismus und das Belarussische die Sprache der Freiheit.  Und Freiheit ist für jeden wichtig, sogar für die Pinguine.

EM: Im Diskurs um Identität tauchen die Termini „ethnischer Nationalismus“ und „neo-sowjetischer Nationalismus“ auf. Was verbinden Sie damit?

Akudowitsch: Nun, den neo-sowjetischen Nationalismus sehe ich eher auf der Alltagsebene. Was den ethnischen Nationalismus angeht, so gibt es verschiedene Gruppen, die einen eigenen Blick auf unsere ethnische Vergangenheit und Herkunft haben. Sie sind marginal, eine von ihnen  hat allerdings eine lange Tradition und ist sehr aktiv – es ist die Bewegung „Krivje“.

Sie stützt sich auf eine wissenschaftlich nicht wirklich fundierte Idee einer  Zivilisation der „Krivitschen“, die auf dem Territorium Litauens, Belarus und eines Teils von Russland lebten. Demnach wären die Belarussen keine Slawen, sondern Balten, die eine slawische Sprache sprechen. Diese These hat keine Bedeutung für die offizielle Ideologie. Sie spielt auch kaum eine Rolle für das Bewusstsein der Belarussen, aber ein Teil der Wissenschaftler unterstützt sie.

Es gibt zum Beispiel auch eine Bewegung, die eine Umbenennung des Landes anstrebt. Das „Russische“ soll aus dem Namen verschwinden, sie wollen keine „weißen Russen“ sein und schlagen den Namen „Großes Litauen“ (Velikaja Litva“) vor.

Ich denke aber, dass  diese Bewegungen lieber Fantasyromane schreiben sollten, aber keine nationalen Ideen und Konzeptionen entwerfen.

„Es heißt, dass der Belarusse ein christianisierter Heide ist“

EM: Welche Rolle spielt die Orthodoxie für die Politik und für das gesellschaftliche Bewusstsein der Belarussen?

Akudowitsch: Gar keine. Es heißt, dass der Belarusse ein christianisierter Heide ist. So sind wir eher Heiden geblieben. Die Religiösität ist sehr schwach ausgeprägt, wir neigen im Gegensatz zu den Polen nicht zum Mystizismus. Am besten würde wahrscheinlich der Protestantismus zu uns passen, sein Einfluss ist auch am stärksten. In Momenten, die kritisch für die Politik sind, sucht Lukaschenko schon den orthodoxen Patriarchen auf. Ich denke aber, wir leben bereits in einem säkularisierten und post-religiösen Zeitalter.

EM: Was assoziieren Sie mit dem Begriff Patriotismus?

Akudowitsch: Ich assoziiere ihn mit einer Elite. Diese ist wiederum nichts Besonderes für mich, es sind einfach Menschen, die nicht nur an sich und die eigene Familie, sondern an ihr ganzes Land denken. Ein Betriebsdirektor gehört für mich daher nicht zur Elite, denn er übt nur eine Funktion aus. Jemand, der zur Elite gehört, ist auch insoweit ein Patriot, als dass er seinem Land eine menschenwürdige Zukunft  wünscht. 

Die Semantik des Begriffs Patriot ist aber negativ besetzt, ebenso wie des Nationalisten. Es ist übrigens ein sehr interessantes Thema, durch welche kulturellen und sozialen Veränderungen Begriffe zum Negativen verändert werden. Viele Wörter haben einen Weg von Plus zum Minus gemacht.

„Im positiven Kontext wird der Begriff „Demokratie“ schon längst nicht mehr verwendet“

EM: Und was verbinden die Belarussen mit Demokratie?
 
Akudowitsch: Irgendwann war es ein sehr positiver Begriff, er drückte eine Zugehörigkeit zu etwas Progressivem aus. Später wurde das Wort verhunzt, denn aus Russland kam dann die Variante „dermokratija“ (heißt der´mo: Mist, Scheiße). Im Moment wird das Wort „Demokrat“ selbst in den belarussischen oppositionellen Parteien nicht verwendet. Das Volk verbindet damit etwas Unklares, eine unbestimmte Zukunft. Der Begriff Demokratie ist zwar weiterhin in allen Diskursen vorhanden, aber er wird entweder als Deckung oder Imitation verwendet oder als Beschimpfung, Diffamierung, und Entwertung gebraucht.

Im positiven Kontext wird der Begriff „Demokratie“ schon längst nicht mehr verwendet. Und so langsam verschwindet er auch aus dem Negativen, was sehr schlecht ist, denn so verschwindet er aus dem Bewusstsein überhaupt. Inzwischen gleicht für uns der Begriff „Demokratie“ dem Sprichwort „Denk nicht an den Teufel vor dem Schlafengehen“.

EM: Herr Akudowitsch, haben Sie herzlichen Dank für dieses Gespräch.

Belarus Demokratie Interview

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