„Glückseligkeit“ von Zülfü LivaneliGELESEN

„Glückseligkeit“ von Zülfü Livaneli

Der bekannte türkische Musiker Zülfü Livaneli hat ein Buch vorgelegt, das ein Gesellschaftsbild der Türkei in Romanform zeichnet. Zülfü hatte 1971 nach dem Militärputsch und einer dreimonatigen Gefangenschaft seine türkische Heimat verlassen müssen. Nach Stationen in Paris, Stockholm und Athen wurde der als „Poet des friedlichen Aufstandes“ bezeichnete Künstler nach seiner Rückkehr in die Türkei gefeiert. Sein Buch ist eine eindringlich geschriebene Emanzipationsgeschichte.

Von Eberhart Wagenknecht

„Glückseligkeit“ von Zülfü Livaneli  
„Glückseligkeit“ von Zülfü Livaneli  

Auf einer gemeinsamen Reise sieht eine Schwester das ganze Elend ihres Bruders. Er ist bereit, sich für demokratische Ideale zu opfern und, sie wagt es nicht, ihm die Wahrheit ins Gesicht zu sagen: „Eigentlich hätte sie ihm noch so vieles sagen wollen, doch sie hatte plötzlich geschwiegen. Sie hatte ihrem Bruder nicht das Herz schwermachen wollen und hatte zurückgehalten, was sie sonst noch bewegte: ‚Liest du keine Zeitungen, schaust du nicht fern? Überall auf den Titelseiten siehst du nur Mädchen mit nackten Brüsten, Transvestiten, die als Sängerinnen auftreten, Huren, die Wasserski fahren und schamlos lächeln. Das, was du unser Volk nennst, besteht nicht mehr aus einzelnen Menschen. Es ist wie eine Herde, eine Herde von Versklavten. Keiner ist mehr eine Persönlichkeit – man hat ihnen die Selbstachtung und das Ehrgefühl genommen.“

Weder das Volk noch die Regierung schere sich auch nur ein bisschen um die, die für Demokratie kämpfen wollen, sagte die Schwester. Ihr Bruder und seine Freunde hungerten sich im Gefängnis zu Tode. Leider nahm dies niemand zu Kenntnis. Ihre Mitstreiter außerhalb des Gefängnisses gingen hin und töteten Polizeibeamte, die wenig verdienten, kaum über die Runden kamen. Sie spielten ein blutiges und zugleich sinnloses Spiel.

Doppelmoral und Verlogenheit

Eine bedrückende Szene eröffnet den Roman.  Das Mädchen Meryem, deren Mutter bei ihrer Geburt gestorben ist, wird im Alter von 15 Jahren vom Scheich ihres ostanatolischen Dorfes vergewaltigt. Klagen ist sinnlos, das weiß sie.

Schon hier zeigt der Autor die Spaltung der türkischen Gesellschaft und zeigt dem Leser Doppelmoral und Verlogenheit auf. Die Türkei Zülfü Livanelis versucht den Spagat zwischen beginnender Modernität in der Stadt und einer Rückständigkeit der ländlichen Gebiete, die für viele Menschen kaum aushaltbar ist.

Während sich Meryem ihrem Schicksal ergibt, träumt ihr Vetter Cemal den Traum einer unschuldigen Braut. Eine solche Geschichte macht unter den Soldaten die Runde, die in den Bergen gegen Anhänger der PKK kämpfen. Das Schicksal von Cemal und seinem einstigen kurdischen Jugendfreund zeigt die Konflikte zwischen den Bevölkerungsgruppen, die ungelöst bleiben.

Cemal leidet unter der Kälte in den Bergen, hat ständig den Tod vor Augen und seine Schwester ist zu Hause in den Keller eingesperrt. Sie soll nach dem Willen der Familie sterben, nachdem sie entehrt worden ist. Als Cemal aus dem Krieg zurückkehrt, soll er sie nach Istanbul bringen, um sie zu ermorden. Doch dort stoßen die beiden auf eine Türkei, die ihnen unbekannt ist, und ihre Anschauungen geraten völlig ins Wanken.

Soziologieprofessor mit Midlife-Krise

Die dritte Geschichte innerhalb des Romans rankt sich um den liberalen Soziologieprofessor Irfan Kurudal aus Istanbul, der seine Midlife-Krise erlebt und die alten Werte der islamischen Tradition dahinschwinden sieht. Die drei höchst unterschiedlichen Schicksale von Meryem, Cemal und Professor Kuruda führt Livaneli zu einer Geschichte zusammen. Die 15-jährige Meryem steht im Zentrum. Sie weiß nichts von der Welt, nur dass sie als Frau alle Schuld auf sich zu nehmen hat. Bis sie erkennt, dass die Welt nicht hinter ihrem ostanatolischen Dorf endet und ein unumkehrbarer Prozess der Emanzipation beginnt.

An der Ägäis stoßen die drei Personen schließlich aufeinander. Bei jedem von ihnen löst ihre Begegnung eine Entwicklung aus, die sie herausführt aus der Engstirnigkeit von religiösem Fundamentalismus, militantem Nationalismus und pseudoliberalen Ansichten. Dieser Roman um Ehrenmord und Frauenunterdrückung, Pubertät und verblendetem Idealismus lässt die Widersprüche der heutigen Türkei im Verlauf der ergreifenden Emanzipationsgeschichte lebendig werden - in schrillen Farben und sanften Tönen und stets eindringlich geschrieben.

*

Rezension zu: „Glückseligkeit“ von Zülfü Livaneli, Verlag Klett-Cotta, 2008, 309 Seiten, 22,90 Euro, ISBN 978-3608937923“.

Rezension Türkei

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