Kann der Fußball die Nation einen?UKRAINE

Kann der Fußball die Nation einen?

Kann der Fußball die Nation einen?

Die Vorbereitungen auf die EM 2012 waren in der Ukraine von Verzögerungen und Skandalen gekennzeichnet. Welche ökonomischen, politischen und gesellschaftlichen Auswirkungen sind nun durch die EM zu erwarten? Kann das sportliche Ereignis einen Imagewandel im Ausland und einen Identitätswandel im Inneren schaffen?

Von Jutta Lindekugel

Jutta Lindekugel  

Jutta Lindekugel

 

Fußball ist emotional. Ein Fußball-Großereignis weckt Euphorie und Gemeinschaftsgefühl. Beispiele sind die „inoffizielle Geburtsstunde der BRD“ 1954 und das „Sommermärchen“ von 2006 in Deutschland. Welche Auswirkungen wird das Fußball-Großereignis Europameisterschaft auf die politisch zerrissene Ukraine haben?

Die Ukraine hat erst 1991 die Unabhängigkeit erlangt. Sie sei zwischen Ost- und West, zwischen Sprachen, Ethnien, Konfessionen zerrissen, ein „Zwischen“-, ein „Puffer-“, ein „Randgebiet“, so zahlreiche Verortungen von Mykola Rjabtschuk bis Samuel Huntington. Einig sind sich die Beobachter nur in der Heterogenität der nationalen Identität: Aufgefächert in Blau und Orange, Russisch und Ukrainisch, Ost und West.

In den 20 Jahren ihrer Unabhängigkeit hat die Ukraine autoritäre Regime, aber auch die Orange Revolution hervorgebracht. Derzeit bewegt die Verhaftung der Orangen Elite die Gemüter, während sich gleichzeitig in Straßenprotesten oder in den umstrittenen  Aktionen der Organisation Femen eine erstarkende Zivilgesellschaft manifestiert.

Zur Person: Jutta Lindekugel
Jutta Lindekugel ist promovierte Ukrainistin, freie Übersetzerin und Journalistin. Sie hat einige Zeit in Kiew und Odessa gelebt und arbeitete unter anderem für das Redaktionsbüro Radio + Fernsehen in Göttingen sowie für die ICUnet.AG in Passau. Heute lebt sie in Genf.

Seltenes Einheitsgefühl

Die Ukraine verfügt aber auch über fußballerische Identifikationsfiguren wie Andrij Schewtschenko oder Anatolij Schewtschuk, über Erinnerungsorte wie den Sieg des Vereins Schachtar Donezk 2009 oder den Erfolg der Nationalmannschaft, die 2006 das Viertelfinale der Weltmeisterschaft erreichte. Die integrative Funktion des Sports zeigt sich, wenn die ukrainische Nationalmannschaft von ukrainisch- und russischsprachigen, ost- und westukrainischen, politisch blauen und orangen, EU- und Russland-orientierten Ukrainern gleichermaßen angefeuert wird und ein in der sonst so heterogenen Ukraine ein eher seltenes Einheitsgefühl schafft.

„Die vorgestellte Gemeinschaft von Millionen scheint im Team von elf bezeichneten Menschen realer zu werden. Der Einzelne wird selbst zum Symbol seiner Nation, auch wenn er nur anfeuert“, so erweitert der Historiker Eric Hobsbawm in „Nations and nationalism since 1780“ den Symbolcharakter von elf Spielern auf eine riesige Fangemeinde. Die erfolgreichen Sportler verkörpern also die „vorgestellte Gemeinschaft“, die Nation, die Region oder eine bestimmte soziale Schicht, die den Fans ein Zugehörigkeitsgefühl, eine Identität verschafft. Der Erfolg der eigenen Mannschaft bedeutet ein Erfolgserlebnis für den einzelnen Fan. Dazu tragen auch nationale oder regionale Symbole bei: Fangesänge oder Hymnen, Flaggen, Trikots, Mannschaftsfarben. Sie wirken auf emotionaler Ebene auf die gefühlte Einheit ein und machen die Abgrenzung von den „Anderen“ leicht. Dies macht es möglich im Fußball-Kontext Gefühle expressiv auszuleben und gesellschaftliche Tabus zu brechen: vorbehaltlos Partei zu nehmen, Siege ausgelassen zu feiern, den „Anderen“ zu diffamieren – und: nationale Stereotype zu pflegen.

Nationale Stereotype im Fußball

„Deutsche Effizienz“, „Englisches Kick and Rush“, „Brasilianischer Samba-Stil“, „niederländisches totaalvoetbal“. Rolf Parr schreibt über Nationalstereotype im Fußball: „Diese (und viele andere) Stereotype in der Fußball-Berichterstattung imaginieren Nationalmannschaften als Individualsubjekte mit festem 'Charakter', der dann in jedem einzelnen Vertreter und letztlich in allen (nicht nur fußballerischen) Handlungen aller Vertreter dieser Nation (und nicht nur ihrer Nationalmannschaft) 'wiederzuerkennen' ist: Die für den zugeschriebenen deutschen Nationalcharakter spezifischen Merkmale 'Ordentlichkeit' und 'arbeitsamer Fleiß' (eventuell gepaart mit 'Rumpelfüßigkeit') manifestieren sich dann ebenso in 'ordentlichen' Häusern, 'ordentlich' geführten Kriegen und 'ordentlich' gewaschenen Samstagsautos wie eben auch in einem 'ordentlich' gespielten Fußball.” Diese Stereotype wurden als nationale Tugenden geboren und auf den Sport übertragen. Die Idee eines eigenen Stils trägt als gemeinsame Charakteristik zur Identitätsfindung bei. Sie werden auf dem Rasen durch physische Inszenierung, durch Spielzüge, Posen und Gesten dargestellt, die von den Medien in Zeitlupe eingefroren werden.
 
In Deutschland beziehen sich diese nationalen Stereotype vor allem auf westdeutsche Industrieleistungen, Erfindungen und Produkte „Made in Germany“. Die solchermaßen entstandenen nationalen Tugenden Leistungsorientiertheit, Ordnungsliebe oder Disziplin materialisieren sich auch im Fußball. Auch im ukrainischen Fußball pflanzt sich das Klischee der „kollektivistischen Spielweise“ aus Sowjetzeiten fort. So wird in Spielanalysen ukrainischer Mannschaften häufig deren „kollektive Leistung“ oder „Kampfbereitschaft“ hervorgehoben.

Die Stereotype sind historisch gewachsen und obwohl die Spielstile sich heute aufgrund des homogenisierenden Einflusses von Transfers und Migranten annähern und zu einem kreolischen Stil verschwimmen, überleben die nationalen Klischees sogar in der globalisierten Medienwelt. Durch Migration und Transfer werden einzelne Spieler mehrfach geographisch verortet. Da die Stereotype an eine nationale Mentalität gebunden sind, werden folglich auch Brasilianern, die in Deutschland spielen „brasilianische Qualitäten“ zugeschrieben oder türkischen Spielern, die in Deutschland ausgebildet wurden, „deutsche Erfolge“. Doch solche Widersprüche scheinen im Fußballkontext niemanden zu stören.

Lokaler, nationaler und globaler Fußball

Im Kontext der Globalisierung entstehen also aus dem Zusammenhang von Nation und Fußball, aus seiner Glocalisierung zahlreiche Irritationen. Einerseits bestehen weiterhin Nationalmannschaften, Länderspiele und in der Vorstellung der Fans auch nationale Spielstile. Auf Vereinsebene bleiben die lokal ansässigen, treuen Fans die einzige Konstante. Sie bestehen auf der historischen Mentalität ihres Vereins. Andererseits finden immer mehr Transfers statt, insbesondere aus ärmeren Regionen wie Osteuropa oder Afrika. Die Spieler verdienen ein immer höheres Gehalt, auch wenn sie weiterhin vorgeben aus Leidenschaft für „ihren“ Verein zu spielen, wie auch Volker Caysa in „Abseits denken“ feststellt: „Die Fußball-Millionäre müssen verstehen, so zu spielen, dass ihr Publikum an ihre Malocher-Ehre glaubt. Man will nicht Legionäre sehen, die ihr Nummernprogramm (ab-) spielen, sondern an Kämpfer mit Herz und Seele will man wenigstens glauben können.“ Und das Merchandising weltweiter Marken erfasst den Sport in Form von Werbung und Sponsoring von Trikots oder ganzen Stadien. Von den Spitzenspielern wird heute nicht nur gutes Spiel, sondern auch Werbetauglichkeit gefordert. Hierzu trägt auch das Fernsehen, insbesondere das Privatfernsehen, entscheidend bei.

„In der klassischen Epoche des argentinischen Fußballs waren die Räume (die Stadien), die Vereinsfarben und die symbolträchtigen Spieler Angelpunkte der Mannschaftsidentität; mit dem ständigen Wechsel der Sponsoren verändert sich heute auch permanent das Design der Trikots, und der regelmäßige Verkauf von Spielern geht zu Lasten identitätsstiftender Bindungen an den Verein. Darüber hinaus sind die Spieler der Logik des Spektakels unterworfen: Sie sind die neuen Mitglieder des lokalen Jet-sets, ommnipräsente Gestalten des Fernsehens und der Werbung; sie werden zu Sexsymbolen, überall gejagt von ihren Groupies", so Pablo Alabarces in „Für Messi sterben?“

Die Rolle der Oligarchen

Als die sowjetische Sportförderung mit dem Zusammenbruch der UdSSR entfiel, begann eine Phase des Bein-Drain. Doch seit Mitte der 1990er Jahre sorgen Oligarchen für Transfers in die Ukraine und für die Ausbildung von Spitzenspielern, die weltweit gefragt sind und die für viele Ukrainer zu Identifikationsfiguren geworden sind. Der Stürmer Andrij Schewtschenko von Dynamo Kiew kehrte erst jüngst nach Stationen beim AC Milan und FC Chelsea zu Dynamo zurück. Anatolij Tymoschtschuk wurde vom FC Bayern München gekauft. Die ukrainische Nationalmannschaft gelangte 2006 erstmals bis ins Viertelfinale einer Weltmeisterschaft.

Wenn auch die Herkunft der Vermögen der jeweiligen Oligarchen unklar bleibt, sind sie für ihre jeweilige Region, für den Fußball und auch für die EM 2012 unverzichtbar. „Es gibt immer eine Verbindung zwischen Wirtschaft, Politik und Sport“ lautet der Untertitel des Dokumentarfilms „The other Chelsea“ von Jakob Preuss. (EM 06-2011).
 
Auch auf Vereinsebene sorgen Oligarchen für ein immer besseres Spielniveau. Metalist Charkiw, das dem örtlichen Oligarchen Alexander Jaroslawskij gehört, nimmt in den ukrainischen Vereins-Meisterschaften seit 2007 den jeweils dritten Platz ein. Den unangefochtenen Meistertitel von Dynamo Kiew unterbrach in der Saison 2001/2002 erstmals Schachtar Donezk. Seither wechseln sich die beiden Clubs auf den ersten beiden Plätzen ab.

„Donezk ist keine arme Region und die Macht ist hier auf wenige Leute konzentriert. Es gibt klare Hierarchien. Wenn in Donezk etwas entschieden und angepackt wird, dann klappt das auch. Dafür sorgen die Oligarchen. In Kiew und anderswo jedoch versanden die Gelder. Dort gibt es unheimlich viele verschiedene Kräfte, die alle an der EM verdienen wollen“, sagte Filmemacher Jakob Preuss 2011 in einem Interview mit der Jungle World. Auch die regionale Bevölkerung, das Wahlvolk, zieht Effizienz derzeit demokratischen Prozessen und moralischen Bedenken vor. Oligarch Rinat Achmetow zum Beispiel, der die traditionelle Kohlebergbauregion des Donbass beherrscht und seit 1996 Präsident des Clubs Schachtar ist, ließ Trainer  Mircea Lucescu ab 2004 mit viel Geld Legionäre in die Ukraine locken, insbesondere junge Brasilianer, die andernorts als unsichere Investition betrachtet werden. In einigen Fällen gelang es bereits, solche Talente bei Schachtar zu formen und sie anschließend teuer weiter zu verkaufen. Schachtars Mischung aus osteuropäischer Offensive und südamerikanischer Kreativität sorgt für gute Unterhaltung und wachsenden Erfolg: Im Mai 2009 gewann die Mannschaft in Istanbul den UEFA-Pokal.

Im gleichen Jahr eröffnete die von Achmetow finanzierte, hochmoderne Donbass Arena. Der Oligarch investiert außerdem in ein Trainingszentrum und ein Jugendinternat des Clubs und zeigt auch außerhalb des Fußballs soziales Engagement. Dies trägt viel zur Entwicklung der Region bei. Achmetow ist Lokalpatriot, der noch immer in Donezk wohnt und der als authentischer Schachtar-Fan gilt. Seine Verbindung zum Volk ist glaubhaft. Damit stiften Oligarch und Verein auf regionaler Ebene Identität.

Achmetow ist der schärfste Konkurrent der Brüder Surkis, die seit 1993 dem Verein Dynamo Kiew vorstehen. Ihor Surkis löste seinen Bruder Hryhorij ab, nachdem dieser zum Präsident des ukrainischen Fußballverbands und Mitglied des Exekutivkomitees der UEFA wurde. Hryhorij Surkis ist in der Ukraine für die Organisation der EM 2012 zuständig. Die Konkurrenz der Oligarchen findet also nicht nur auf der wirtschaftlichen Ebene statt, sondern auch auf sportlicher und politischer.

Neben Achmetow haben auch andere Oligarchen dafür gesorgt, dass die EM in der Ukraine stattfinden kann, insbesondere Alexander Jaroslawski, der Stadion- und Flughafenmodernisierung sowie Infrastrukturprojekte in Charkiw mitfinanziert hat. Bei Streitigkeiten zwischen den Stadtbehörden und dem lokalen Oligarchen Pjotr Diminiskij in Lwiw zeigte sich die verhängnisvolle Abhängigkeit der Politik vom Geld. Diminskij weigerte sich, das Lwiwer Stadion zu finanzieren, da man ihm die Stadt hinsichtlich anderer Geschäfte nicht entgegen kam. - Was den Oligarchen nützt, nützt also auch der Region und steigert darüber hinaus noch das Niveau des ukrainischen Fußballs.

Wie entsteht überhaupt eine nationale Identität?

Die fußballerischen Großereignisse EM und WM eröffnen insbesondere dem Sieger und dem Gastgeberland die Möglichkeit, sich neu zu erfinden, mehr noch als die Politik das könnte. So war die neue deutsche Lockerheit 2006 für das In- und Ausland eindrücklicher, medial präsenter als politische Debatten zur Leitkultur oder zum Thema „Was bedeutet es heute Franzose zu sein?“

Die Forschung kennt die Schicksalsgemeinschaft (primordial), bei der sich aus einer gemeinsamen Kultur, Sprache, Ethnos, Religion oder Geschichte eine natürliche Gemeinschaft ergibt und die Willensgemeinschaft (konstruktivistisch), bei der der bereits bestehende Nationalstaat ein nationales Bewusstsein stiftet. Auch gemeinsame wirtschaftliche Interessen oder Ideologien können die Gemeinschaft initiieren. Die gemeinsame Identität drückt sich in einem bestimmten Symbolsystem aus und wird idealerweise durch Bildungsinstitute, Medien und die Elite des Landes tradiert. Gleichzeitig grenzt sich eine solche Gemeinschaft immer von „Anderen“ ab.

Um die Ukraine in dieses Schema einzuordnen, bedarf es eines Blicks auf die ukrainische Geschichte und die Verortungen der Nation von außen.

Selbstbild und Fremdbild

Walter Koschmal nennt die Ukraine ein „unsichtbares“ Land, denn die verschiedenen Teile der heutigen Ukraine waren Jahrhunderte lang unter der Fremdherrschaft mächtiger Nachbarn, hinter wechselnden Namen und in wechselnden Grenzen verborgen. Dabei ist ein negatives Selbstbild, die Opferrolle, zur Tradition geworden, mit dem sich die Kulturnation vom kolonialen Besatzer abgrenzt, mit dem sie aber auch den Fremdblick der polnischen und russischen Besatzungsmacht übernimmt. Viele ausländische Historiker und Journalisten haben die russophilen Mythen vom slawisch-orthodoxen Brudervolk, von den Kleinrussen mit ihrer Bauernsprache, von der russischen Vorherrschaft übernommen. So konstatieren Mykola Rjabtschuk und Mark von Hagen, dass die Ukraine selbst nach ihrer Unabhängigkeit von 1991 nicht im westeuropäischen Bewusstsein präsent ist, weil sie lange staatenlos war und durch die Augen der Besatzer als Teil von deren Reich wahrgenommen wurde.

Die heutige Ukraine bezieht ihre nationale Symbolik und ihr Selbstverständnis vor allem aus den historischen Epochen der Kiewer Rus, der Kosakenhetmanate und der kurzen Zeit der Unabhängigkeit nach dem Ersten Weltkrieg. Sie stellt damit eine dynastische Verbindung zur Rus her, auf deren Erbe Russland ebenfalls Anspruch erhebt. Weiterhin gelten die Kosakenhetmanate als eines der wenigen genuin ukrainischen Geschichtsphänomene, als goldenes Zeitalter, aus dem die ukrainische Folklore und die nationalbewegte ukrainische Romantik, insbesondere der Dichter Taras Schewtschenko, schöpften. Und auch die kurze Zeit der Unabhängigkeit nach dem Ersten Weltkrieg, in der der Historiker Mychajlo Hruschewskyj erster Präsident der unabhängigen Ukrainischen Volksrepublik war und in der eine kulturelle Blütezeit begann, stiftet Identität. - Die Ukraine setzt damit den russophilen Mythen eigene entgegen.

West-Ukraine – Ost-Ukraine?

Nach oberflächlicher Betrachtung stellen viele Kritiker eine Spaltung der Ukraine in einen westlichen und einen östlichen, einen europäischen und einen „asiatischen“ oder russischen, einen lateinisch-christlichen und einen byzantinisch-orthodoxen Teil fest. So sieht es auch Samuel Huntington in seinem „The Clash of Civilizations“: „Die Ukraine ist tief gespalten in den unierten, nationalistischen, ukrainischsprachigen Westen und den orthodoxen russischsprachigen Osten“. Eines der Zukunftsszenarien, die Huntington für die Ukraine entwarf, trifft heute zu, nämlich das Verharren der Ukraine als „geeint und zweigeteilt, unabhängig und doch generell eng mit Russland zusammenarbeitend“. So auch Mykola Rjabtscuhk: „Eine Besonderheit der Ukraine besteht darin, dass sie zwar in vieler Hinsicht geteilt, aber nicht gespalten ist.“

Mit dem Gedanken der Zweiteilung verbunden ist auch die Verortung der Ukraine „dazwischen“ und die damit einhergehende Funktion als „Brücke“ zwischen Europa und Russland, als „Grenzland“ für die Nachbarmächte von damals (Polen-Litauen, Moskauer Großfürstentum) und als „Puffer“ für die Großmächte von heute (Russland, EU, USA). Das geopolitische Interesse ist nach wie vor hoch, denn durch die Ukraine führen noch immer die wichtigsten Verkehrs- und Transportwege von Ost nach West.

Gemäß der Theorie der Zweiteilung war die Kultur entlang der so genannten Kaffee–Tee-Grenze gespalten, also zwischen dem von Habsburg und Russland besetzten Territorium. Im westlichen Teil konnte sie sich unter polnischer und seit 1772 Habsburger Herrschaft relativ liberal und eigenständig entwickeln, im östlichen wurde sie vom russischen Zaren unterdrückt und assimiliert. Diese Kaffee-Tee-Grenze hatte jedoch keinen festen Verlauf, sondern schloss seit dem Zerfall der Kiewer Rus unterschiedliche Regionen ein und aus.

Mit dem Zweiten Weltkrieg fiel auch die Westukraine der Sowjetunion zu und die polnisch-habsburgisch geprägte Westukraine wurde mit der russisch geprägten Ukraine in der ukrainischen Sowjetrepublik verschmolzen. Der Assimilationsdruck war hoch. Nur die russische Sprache ermöglichte Zugang zu Bildung und Karriere und beeinflusste so die Wahl einer Identität.

Streben nach nationaler Befreiung

Bis 1991 hatte der russische bzw. sowjetische Einfluss also nicht erst Ost und dann West erfasst, sondern hatte je nach Region unterschiedlich lange gedauert, war je nach Epoche unterschiedlich intensiv und hatte verschiedene Gebiete mit verschiedenen Grenzverläufen erfasst.

Die in der Perestrojka entstandene Intellektuellenbewegung hatte die nationale Befreiung angestrebt, die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion im Sommer 1991 möglich und mit einer breiten Zustimmung in der Volksabstimmung vom Dezember desselben Jahres bekräftigt wurde. Motiv war dabei vor allem die Hoffnung, Stagnation und Krise durch eine Trennung von Russland zu vermeiden. Dies konstatiert auch der Historiker und Journalist Taras Wosnjak: „Tatsache ist, dass es am Vorabend der Unabhängigkeit keine vollständig formierte Einheit gab, die man wenigstens unter Vorbehalt als ukrainische politische Nation hätte bezeichnen können. Im Grunde war die Bevölkerung der Ukraine lediglich durch das gemeinsame Territorium verbunden, während ansonsten unterschiedliche Mentalitäten sowie die Zugehörigkeit zu verschiedenen politischen Konstrukten und kulturellen Welten erhalten blieb.“

In der souveränen Ukraine wurde Ukrainisch per Gesetz zur offiziellen Verkehrssprache, die durch Bildungsinstitute und Behörden normiert werden sollte. Bis heute wird dies jedoch unzureichend und inkonsequent umgesetzt oder sogar ignoriert, insbesondere im Süden und Osten der Nation. Immer wieder werden Forderungen nach Russisch als zweiter Staatssprache laut. Im Westen entlehnt man Worte lieber aus dem Polnischen, um sich von der unmittelbaren Vergangenheit abzugrenzen. Doch in Massenmedien und Kultur dominiert auch hier die russische Sprache und macht die Ukraine zu einem russischen Informationsraum. Vor allem im Landeszentrum setzt sich immer mehr eine Hybridbildung, der „Surschyk“, als dritte Sprache durch. Die Sprache fällt als identitätsstiftendes Kriterium also aus.

Auch 2004 wurden die „zwei Ukrainen“ scheinbar wieder sichtbar im orangen und blauen Lager der „Orangen Revolution“, die mit West und Ost, mit ukrainischer und russischer Sprache, mit einer Anlehnung an Europa – Russland assoziiert sind.
Doch eine differenzierte Betrachtung ersetzt die Vorstellung von den „zwei Ukrainen“ durch eine Unterscheidung von Regionen.

Aufarbeitung der Geschichte: Innerukrainische Spannungen

Heute hegt jede Region ihre Vorurteile gegen andere. Schulen und Politik pflegen die innerukrainischen Ressentiments und Vorurteile. Sie wirken nicht auf einen Konsens hin. Bestimmte westukrainische Regionen verstehen sich aufgrund der starken galizischen Nationalbewegung und liberalen Entfaltung als die „eigentliche Ukraine“. In der Sowjetunion lagen die westukrainischen Gebiete noch an der Peripherie. Gleichzeitig wird die östliche und südliche Ukraine als  die „andere“ Ukraine diffamiert, als Ballast der alten Kolonialmacht, der seine Sprache und Identität verloren hat und hinsichtlich Demokratie und Zivilgesellschaft rückständig sei, im Gegensatz zum Westen des Landes keine eigene Nationalbewegung mit eigenen Symbolen ausgebildet hat. Dabei sind die russophonen Ukrainer wie die ethnischen Russen seit Jahrhunderten in der Region ansässig. Von einer Minderheit oder Diaspora möchte die aktuelle Forschung also nicht sprechen.

Tatsächlich ist die Bevölkerung im Osten ethnisch gemischter und ihre historische Erfahrung eine andere. Die Ostukraine wurde in der Sowjetzeit industrialisiert und ausgebaut und verbindet somit positive Aspekte mit dem Sozialismus.

Auf viele historische Fragen hat also jeder Landesteil eine andere Antwort: Geschah die Russifizierung freiwillig oder nicht? Ist die russische Sprache legitimes Erbe oder imperiale Last? War die Ukraine im zweiten Weltkrieg Teil der Sieger- oder der Verlierer-Koalition? War der Sozialismus eine gute oder schlechte Erfahrung? Richtete sich der stalinistische Terror gegen alle oder fand mit dem Hungertod von Millionen Sowjetukrainern in Folge von Stalins Kollektivierungspolitik zu Beginn der 1930er Jahre, dem so genannten Holodmor, ein Genozid statt? Eine Aufarbeitung der Geschichte steht noch aus.

Hoffnung Europa

Landesweit wird heute in Abgrenzung zu Russland die europäische Orientierung betont. „Für die Ukraine ist dieser stimulierende Faktor [EU-Beitrittsperspektive; Anm. d. Autorin] besonders wichtig, weil er zusätzlich mit der Frage der ukrainischen Identität verbunden ist, die sich historisch als Alternative zur ‚gesamt-russischen‘ (oder gesamtsowjetischen) entwickelt hat.“

„Europa wurde für die Schöpfer und Träger dieser Identität zu einem alternativen Zentrum, zur Quelle für erforderlichen symbolische Ressourcen, Codes und Diskurse, die es den Ukrainern ermöglichen sollten, ihre periphere Stellung und Minderwertigkeit in Bezug auf das herrschende russische Zentrum zu überwinden“, so Mykola Rjabtschuk in „Die reale und die imaginierte Ukraine“:

„Die ukrainische Kultur der letzten beiden Jahrzehnte scheint diese dekonstruktivistische Funktion wirkungsvoll auszuüben, indem sie die Begrenztheit der kolonialen wie auch der antikolonialen Sichtweise aufzeigt und ihnen einen offeneren und freieren Ansatz, den der Literaturwisschenschaftler Marko Pawlyschyn als ‚postkolonial‘ bezeichnet, gegenübergestellt. Diese freche Überparteilichkeit setzt junge ukrainische Intellektuelle oft heftigen Attacken von beiden Seiten – der ukrainisch-nationalistischen und der russisch-imperialen- aus. Allerdings eröffnet sie neue Möglichkeiten für die spielerische Beseitigung der Konfrontation im Geiste der orangen Revolution und ermöglicht es sogar, in der auf den ersten Blick hoffnungslos unbequemen Situation (...) gewisse Vorteile zu erkennen.“

Der Kulturwandel wird also vor allem von der jungen Generation herbeigeführt, so auch der Autor Maxym Kidruk: „Janukowytsch mag führen, wohin er will. Aber meine Generation -und jünger- sieht die Ukraine ausschließlich als Teil des modernen Europa, als Teil der westlichen Gesellschaft. Und das ist die einzige Richtung, in die die Ukraine sich bewegen wird. Das Problem ist, dass diese Leute noch zu jung sind, um Politiker zu sein und dass ihre Stimmen nicht gehört werden. Noch nicht gehört werden.“

Die östliche und südliche Bevölkerung lehnt keineswegs die ukrainische Souveränität ab. Ihre Distanz zur Nationalbewegung gilt deren antirussischen Ressentiments und sie vermisst die Anerkennung der regionalen Identitäten.

Geteilt aber nicht gespalten

Die Idee von den „zwei Ukrainen“, nämlich einer westlichen und einer östlichen, symbolisiert durch die geographisch-ideologischen Punkte Lwiw und Donezk, verwirft auch Mykola Rjabtschuk. Stattdessen stellt er fest, dass die Identitäten in Ost und West, mit russischen, polnischen und ukrainischen Traditionen vielfach in sich gebrochen sind. Es sei auf die separatistischen Bewegungen in Galizien oder auf der Krim hingewiesen. Es gibt also viele Regionen mit eigenen Identitäten und fließenden Grenzen. Diese Identitäten sind nicht national, sondern lokal, regional, konfessionell oder sozial strukturiert. So bleibt die Ukraine heterogen, vielfach geteilt, aber nicht gespalten.

Der Blick auf die Geschichte erklärt also die verschiedenen Erfahrungen der unterschiedlichen Regionen, die je eine eigene Identität hervorbrachte und die Ukraine bis heute zu einem heterogenen Staat macht. Diese starken regionalen Unterschiede sind eines der größten Hindernisse auf dem Weg zu einer einheitlichen nationalen Identität.

So stiften also weder Sprache noch Geschichte oder Ethnos in der Ukraine Einheit; es besteht keine primordiale Identität. Für die konstruktivistische Identität dagegen fehlt noch immer der Wille der Eliten, einen Kompromiss einzugehen und einen innenpolitischen Konsens zu schaffen, einigende Ideen anzuleiten oder einen gemeinsamen Erinnerungsort zu schaffen. Die Ukraine befindet sich noch immer in Transformation: vom unterdrückten und territorial vielfach gespaltenen zum souveränen Staat, von einer Industrie- und Rohstoff-basierten zur postindustriellen Informationswirtschaft - und von einer heterogenen Gesellschaft zu einer psychologischen Einheit?

Der bekannte Autor Jurij Andruchowytsch schreibt in „Das letzte Territorium“: „Die Geschichte hat es gefügt, dass zwischen dem Osten und dem Westen der Ukraine wesentliche Unterschiede bestehen. Sie sind so wichtig, dass man von einem fast katastrophalen Auseinanderdriften in den Grundfragen des öffentlich-staatlichen Lebens sprechen muss.

Erstens der Grad des Nationalbewusstseins - Hypertrophie im Westen, Atrophie im Osten. Zweitens die sich daraus ergebende sprachliche Trennung (einem bis heute gängigen Stereotyp zufolge spricht der Westen ukrainisch, während der Osten generell zweisprachig ist mit Russisch in den Städten und einem russisch-ukrainischen Gemisch, dem ‚Surshyk‘, auf dem Land). Drittens eine ideologische Trennung in den antikommunistischen Westen und den kommunistischen oder ‚kommunisierten‘ Osten. (...) Bedenkt man diese Antagonismen mit nüchternem Verstand, kommt man zu dem Ergebnis, dass ein mit so explosiver Ladung gespicktes Staatsgebilde keine Fünf Minuten länger existieren wird. Aber irgendwie kommt es dann doch nie zu dem prognostizierten Ausbruch. (...) Als Gegengewicht zur Desintegration muss es schließlich verbindende Realien geben (...). Diese verbindenden Faktoren basieren darauf, dass dieses Land seit nunmehr sechzig Jahren (...) einen geschlossenen Organismus bildet (...) Das Leben selbst verbindet, die Lebensweise, besser die Art und Weise und die Umstände des Überlebens und die damit verbundenen Besonderheiten in der Mentalität. Sowohl die extrem russifizierten Bewohner des Donbas als auch die Bürger des extrem nationalistischen Galizien zahlen annähernd die gleich Schmiergelder für die gleichen Dinge an die Behörden, trinken Schnaps mehr oder weniger gleicher Qualität mit mehr oder weniger gleichen Folgen, hören die gleiche grässliche Musik russischen Ursprungs, schleppen die gleichen Marktwaren n den gleichen abgrundtiefen karierten Taschen und tragen von Oktober bis April die gleichen Kanninchenfellmützen, erklären sich das Dasein mit Hilfe derselben Klischees, und vor allem fiebern sie mit gleicher Begeisterung für die Kiewer Mannschaft ‚Dynamo‘ wie auch die Nationalmannschaft der Ukraine (ein Faktor, der in den letzten fünf Jahren fast das einzige positive verbindende Moment darstellte). (…) Der angebliche „Graben zwischen dem Westen und dem Osten der Ukraine“ ist für mich ein totaler Anachronismus. Es gibt weitaus mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede. Die Ukraine ist wirklich ein einziges Land – anders als die Türkei, als Polen und sogar Russland. Aber wie verschieden ist das eine Land zugleich!“

Wie könnte psychologische Einheit entstehen?

Die „Orange Revolution“ markiert das Erwachen der ukrainischen Zivilgesellschaft, der mündigen Bürger, die gegen eine autoritäre Führung und korrupte Wirtschaft aufstehen. Eine Generation, die in der unabhängigen Ukraine ausgebildet wurde, die durch Massenmedien, Internet und Reisen Zugang zu freiheitlichen Ideen fand, verschafft sich Gehör. Rjabtschuk beschreibt dies: „Ich kenne diese Generation, die schon daran glaubt, dass man Freiheit und Wohlstand zu Hause erreichen kann, aber immer noch nicht daran glaubt, dass die Welt bereit sein könnte, das zu akzeptieren.“

Während das orange Lager sich in Grabenkämpfen und Koalitionen mit „Blauen“ selbst zerstörte und der „blaue“ Präsident Wiktor Janukowytsch seit seiner Wahl einen autoritären Kurs fährt und auch vor der Verhaftung der „orangen“ Elite nicht zurück schreckt, machen sich mündige Bürger durch Straßenproteste oder die viel beachteten barbusigen Aktionen der Gruppe „Femen“ bemerkbar. Sogar die Oligarchen, die einst für die Zementierung der Machtverhältnisse standen, die nun aber die Unberechenbarkeit des Regimes fürchten und den Blick auf neue Absatzmärkte richten, setzen nun auf Demokratie und Reformen. Hryzak stellt fest, die Ukraine sei das einzige ostslawische Land, in dem die Demokratie wächst und die Gesellschaft nicht apathisch, sondern stark ist.

Ein Staat mit gemeinsamen Außengrenzen und Symbolen wie Flagge, Hymne, Feiertage, Briefmarken usw. ist als geographische, politische Einheit entstanden. So lange aber keine Elite antritt, die sich berufen fühlt, die Nation neu zu gestalten, so lange nicht Demokratie die heterogenen Regionen verschmilzt: Wie könnte die psychologische Einheit entstehen?

„Zudem hatten sich die Ukrainer daran gewöhnt, in einem Staat zu leben, der de facto bilingual und biethnisch und auch in anderer Hinsicht vielfach geteilt war, gleichzeitig aber geeint durch die gemeinsame Außengrenze (‚Landkarte‘) und offiziell Symbole wie Flagge, Hymne, Wappen, Briefmarken. Hinzu kam trotz aller Differenzen ein Pantheon der Nationalhelden, es gab die Nationalfeiertage und eine kanonische Geschichtsschreibung. Waren die Symbole 1991 noch fast ausschließlich als ethnonational empfunden worden, verwandelten sie sich mit der Zeit langsam in staatsnationale Symbole. Als die ukrainische Fußballnationalmannschaft Ende der neunziger Jahre in derselben Qualifikationsgruppe mit der russischen spielte, stellten die Meinungsforscher verwundert fest, dass fast alle Einwohner der angeblich ‚prorussischen‘ Krim beim Spiel gegen die Russen doch der ukrainischen Mannschaft die Daumen hielten“, so Rjabtschuk.

Ein ukrainisches Sommermärchen?

Die anstehende Fußball-Europameisterschaft rückt das Land in diesem Jahr in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit und der Wahrnehmung im Ausland. Wie Ulrich M. Schmid von der NZZ schreibt, darf man „jedoch annehmen, dass die Ukraine erst dann zu einer stabilen kulturellen Identität findet, wenn ihr Selbstbild in Europa auch durch ein passendes Fremdbild ergänzt wird. In diesem Prozess kann die ukrainische Literatur eine wichtige, wenn nicht entscheidende Rolle spielen.“ Oder der Fußball.

Nach innen bewirken Identifikationsfiguren der Gegenwart manchmal mehr als Politik:  „Jedermann empfindet es als ehrenvoll, sich als Ukrainer zu fühlen, wenn Klitschko im Ring triumphiert oder Ruslana beim Eurovision Song Contest siegt“, schrieb Michail Dubinjanskij 2012 in den Ukraine-Nachrichten. In diese Kategorie gehört auch der Fußball, der im Sinne einer sozialen bis nationalen Identität eine Einheit herstellt.

Es ist zu hoffen, dass es dem autoritären Janukowytsch-Regime nicht gelingt, die EM für sich zu instrumentalisieren, wie vormals der argentinischen Diktatur, die als Gastgeber und Sieger der WM 1978 international ihr Image aufpolieren und innenpolitisch ihr System stabilisieren konnte. So stellte die Autorin Natalka Sniadanko am 18. März 2012 in der Tagesschau fest, es sei fast besser, die EM misslinge, denn das würde hoffentlich zu politischer Bewegung führen. Wenn die EM dagegen gut liefe, nähme die Regierung den Erfolg für sich in Anspruch und es gäbe keinen Ansporn für eine neuerliche Revolution. Witalij Klitschko sieht darin kein Dilemma, wie er im Spiegel-Interview kürzlich hervorhob: „Dieses Turnier ist das größte Sportereignis in der Geschichte der Ukraine. Es muss stattfinden. Im Gegenteil, es ist sogar eine hervorragende Gelegenheit, die Aufmerksamkeit der Welt auf die Missstände in unserem Land zu lenken.“

Die ukrainischen Machthaber zielten mit ihren Vorbereitungen auf die EM 2012 auf eine Imagekampagne. Kann das große Sportereignis diesen Sommer einen Identitätswandel im In- oder Ausland bewirken? Ist ein ukrainisches Sommermärchen möglich? Kann der Fußball, kann die EM 2012 einen neuen, gemeinsamen Erinnerungsort schaffen, der West und Ost, alle Regionen eint?

Was wird bleiben?

Studien zeigen, dass vieles, was für sportliche Großereignisse geschaffen wurde, wieder verschwindet. Zahlreiche Stadien und Hotels werden nach dem Event nicht mehr gebraucht. Neue Arbeitsplätze wurden nur vorübergehend geschaffen. Manche Staaten bleiben auf Schulden sitzen. Der ökonomische Nutzen verbunden mit der Hoffnung auf mehr Touristen und Direktinvestitionen ist kaum messbar. Nur ikonische Stadion-Bauten, die zu Sehenswürdigkeiten werden wie das Olympiastadion in Peking, und eine modernisierte Infrastruktur bleiben. Und die Fifa erschließt sich währenddessen neue, wirtschaftlich attraktive Märkte.

Die Berichterstattung über Bauverzögerungen und Skandale im Vorfeld sportlicher
Massenveranstaltungen gehört dazu, so auch in der Ukraine und Polen. Die Ukraine machte außerdem mit einer fragwürdigen Politik und Rechtsstaatlichkeit Schlagzeilen. Mehrfach wurde öffentlich gefordert, dem Land die EM 2012 zu entziehen. 2008 war sogar die Rede von Deutschland als Ersatz-Gastgeber. Jüngst wurde die Forderung wiederholt wegen der offensichtlich politisch motivierten Verurteilung von Ex-Premierministerin Julia Tymoschenko und Ex-Innenminister Jurij Luzenko.

Nun ist ein Boykott durch europäische Spitzenpolitiker angekündigt, solange die Regierung nicht hinsichtlich Tymoschenkos Haftbedingungen einlenkt. Seit Wiktor Janukowytschs Wahl im Februar 2010 beklagen westliche Beobachter dessen autoritären Kurs. Die UEFA dagegen forderte Anfang 2011 im Hinblick auf die EM, politisches Machtgerangel ruhen zu lassen, nachdem eine Mehrheit der Mitglieder des nationalen Fußballverbands FFU versucht hatte, den FFU-Präsidenten und UEFA-Exekutivmitglied Hryhoryj Surkis durch ein Misstrauensvotum seines Amtes zu entheben. Unter den Mitglieder auch Surkis' Konkurrenten im Bau- und im Fußballgeschäft, Rinat Achmetow und Alexander Jaroslawskij. Alle Beteiligten lenkten ein, denn die EM ist für die Ukraine und ihr Image zu wichtig.

Fußball als „Erinnerungsort“

In Polen und insbesondere in der Ukraine musste aufgrund des Rückstands in allen Bereichen umso mehr modernisiert und gebaut werden als beispielsweise anlässlich der EM in der Schweiz und in Österreich. Während Polen von EU-Geldern profitierte, sollte in der Ukraine der Staat etwa ein Viertel der Ausgaben tragen, Privatinvestoren den Rest. Nachdem Neu-, Aus- und Umbau von Stadien und Flughäfen lange weit hinter dem Zeitplan lagen, sprang der Staat aber ein.  Mittlerweile wurden etwa drei Viertel der Ausgaben für die bereits jetzt teuerste EM aller Zeiten durch Staatskredite finanziert. Dabei verwundern Berichte über eine neue, A 380-taugliche Landebahn in Donezk, über Auftragsvergaben ohne offizielle Ausschreibung, über an Baufirmen beteiligte oder mit ihnen verwandte Regierungsmitglieder, über den Abriss eines erst kürzlich gebauten Einkaufszentrums, das die Zugänge und Fluchtwege des Kiewer Stadions behindert hätte oder über U-Bahn-Sitzbänke für mehrere Tausend Euro pro Stück in Charkiw. So erhob Julia Tymoschenko den Vorwurf der Geldwäsche und Witalij Klitschko, der sich im kommenden Herbst wieder einmal um das Amt des Bürgermeisters von Kiew bewerben will, spricht von der Notwendigkeit einer Untersuchungskommission. Preisabsprachen in Luftfahrt und Hotellerie wurden letztens auch nach der WM in Südafrika untersucht.

Bis zum Sommer 2012 werden noch immer nicht alle Bauprojekte in der Ukraine fertig gestellt sein, insbesondere Autobahnen oder die Verbindung zwischen der Stadt Lwiw ins außerhalb gelegene Stadion. Hotels der unteren und mittleren Preisklassen wurden kaum gebaut. Sie würden nach der EM nicht mehr lohnen. Luxushotels und überteuerte Privatwohnungen können sich viele potentielle Gäste aber nicht leisten. Stattdessen laden die Städte Charkiw und Lwiw in mehr als vierzig Jahre alte Studentenwohnheime und auf Campingplätze mit zu wenig Dixiklos ein. So werden viele Fans wenigstens einen authentischen Eindruck vom Gastgeberland bekommen.  - Ob das zum beabsichtigten Image der Ukraine als weltoffene, moderne, europäische Gesellschaft passt?

„Sobald die Massenmedien, also die sichtbarsten Kräfte des Marktes, versuchen, den Fußball in seiner klassischen Rolle als Mechanismus der Einheit, die ihm aufgrund seiner Einfachheit, seiner menschlichen Wärme und seiner Fernsehtauglichkeit zukommt, in Stellung zu bringen, reproduzieren sie im Grund das Panorama der Exklusion und Diskriminierung. (...) In dieser Situation werden die Antworten keine fußballerischen sei. Sie müssen natürlich politisch sein. Nationale Identitäten, ein imaginierter, aber kein imaginärer Mechanismus, um mit Benedict Anderson zu sprechen, muss sich auf Zeichen einer spezifischen Zugehörigkeit stützten. Wenn Argentinier zu sein nicht bedeutet, Arbeit, Essen sowie Bildungsmöglichkeiten und Zugang zur Gesundheitsversorgung zu haben, dann ist es nichts wert. Die Identität muss den Körpern materiell eingeschrieben sein; die chauvinistischen Diskurse der Sportkommentatoren und die in Werbespots lautstark ausgestoßenen Segnungen und Flüche können diese körperlichen Einschreibungen nicht einmal ansatzweise ersetzen. (...) Die Krise, die Nation, unsere gemeinsame Zukunft – solche Dinge werden nicht in Fußballstadien geklärt, und schon gar nicht im Fernsehen. Aber möglicherweise auf den Straßen und in der Politik.“ (Pablo Alabarces: Für Messi sterben?)

Der Fußball kann keine nationale Identität schaffen. Aber er kann als Erinnerungsort und durch Identifikationsfiguren große Wirkung auf die nationale Psyche und die internationale Wahrnehmung entfalten.

„Wenn wir nicht unterwegs die Deutschen treffen“

„Die Nation wird nicht von einer Elite gebildet, sondern durch gemeinsame Erfahrung. Kurz gesagt: Wenn wir die ukrainische Fußballmannschaft anfeuern, die gegen Russland oder Frankreich spielt, dann sind wir für einen Augenblick EINE Nation, unabhängig davon, welche Sprache wir sprechen und ob wir in die NATO wollen. Diese gemeinsame Erfahrung kann einen sehr großen Unterschied machen”, sagte der Historiker Jaroslaw Hryzak 2004 im Interview mit der Zeitschrift „Ukrajina moloda“. Ähnlich formuliert es Christoph Wagner in „Abseits denken“: „Sehr wohl aber kann der Fußball als Vehikel zur Produktion kollektiver Identitäten dienen, als Erinnerungsort, der individuelle Erfahrungen und Erlebnisse in einem gesamtgesellschaftlichen und gemeinschaftlichen Kontext verankert und somit hilft, nationale Identität zu kreieren. Der Fußball als Volkssport mit seinen vielen Ritten und Symbolen scheint sogar geradezu prädestiniert dafür zu sein, etwa durch die Bildung von Mythen, die sich um bestimmte Ereignisse ranken, nationale Identität zu stiften. Der Fußball produziert Helden, an denen sich ganze Nationen aufzurichten scheinen, bringt Leitfiguren hervor, die sich manchmal gar zu Fußballgöttern verwandeln, lässt Superstars entstehen, die manchmal aber auch zu tragischen Helden werden.“

Bisher hat die Ukraine selten im Interesse der Medienwelt gestanden. So gesehen war die „Orange Revolution“ eine Gelegenheit zum Wandel ihres Fremdbilds. Für das Ausland bedeutete sie jedoch keinen Imagewechsel, sondern vielmehr eine erste Wahrnehmung der seit 1991 unabhängigen Nation. Nach innen wirkte die „Orange Revolution“ durchaus als Signal einer neuen Zivilgesellschaft, aber aufgrund der schnell aufgetretenen politischen Zerwürfnisse innerhalb des Orangen Lagers und des autoritären Kurses des seit Februar 2010 amtierenden Präsidenten Wiktor Janukowytsch ohne eine Einigung herbei zu führen, sondern eher noch als Zementierung der Zerrissenheit.

Im Sommer 2012 bietet sich dem Co-Gastgeber der Fußball-EM eine neue Möglichkeit zum Identitätswandel. Wieder richtet sich die Aufmerksamkeit der Medien auf die Ukraine. Endlich wird über die fehlende Rechtsstaatlichkeit berichtet. Erstmals werden für die Ukraine untypische Touristen in Massen „zu Gast sein“. Ob eine Euphorie ein neues Image der jungen Nation ins Ausland trägt, wie während der WM 2006 in Deutschland oder EM-Siege einigende und erneuernde Wirkung nach innen entfalten wie das „Wunder von Bern“ 1954 wird sich bald zeigen. Autor Maxym Kidruk über seine Erwartungen an die EM: „Ich hoffe wirklich, etwas wie das ‚Wunder von Bern’ in der Ukraine zu erleben. Das hätte eine enorme Wirkung auf unsere Identität! (…) Mein Favorit ist natürlich die Ukraine! Wir werden es ins Halbfinale schaffen. Kein Zweifel! Wenn wir nicht unterwegs die Deutschen treffen…“

Osteuropa Ukraine

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