Londoner Pläne als WunschdenkenAFGHANISTAN

Londoner Pläne als Wunschdenken

Es hat den Anschein, als hätte das US-Militär aus vergangenen Fehlern gelernt und den Kurs seiner Kriegsführung in Afghanistan korrigiert. Bei genauerer Betrachtung aber erkennt man bereits die ersten deutlichen Zeichen des Scheiterns der Operation. Denn wieder gibt es viel zu viele „Kollateralschäden“. Insgesamt entpuppen sich die Pläne der Londoner Konferenz vor allem als Glaube und Hoffnung.

Von Behrooz Abdolvand und Nima Feyzi Shandi

15.000 Soldaten kämpfen in der Operation „Mushtarak“ um die Eroberung der Taliban-Hochburg Mardscha, mit dem Ziel, die Aufständischen aus der Ortschaft zu vertreiben und den Einfluss der Zentralregierung auf diese Region auszudehnen. Auf den ersten Blick scheint es, als würde an dieser Operation alles stimmen.

Aber gleich zu Beginn der Kämpfe wurden 15 Zivilisten und neun afghanische Armeeangehörige durch Bomben der NATO getötet, sechs NATO-Soldaten starben bei Gefechten mit den Taliban. Schäden, die der Natur des asymmetrischen Krieges entsprechen. Das war auch zu erwarten. Inzwischen ist die Zahl der Kollateral-Opfer auf über 100 angestiegen.

Ein neues Kapitel asymmetrischer Kriegsführung

Zwei Wochen vor Beginn der Operation haben die Alliierten deren Start durch Abwurf von Flugblättern zur Warnung der Zivilbevölkerung öffentlich erklärt. Dies gab den für eine direkte Konfrontation nicht entsprechend bewaffneten Taliban genügend Spielraum, um sich, den Prinzipien der Guerillakriegsführung folgend, zurückzuziehen. Bereits während der letzten Kriegsjahre haben die Taliban bewiesen, dass sie militärstrategisches Denken meisterhaft beherrschen. Mit jedem Fehler der Alliierten haben die Taliban mehr an Ansehen, Kraft und auch an Zulauf gewonnen. Zwar wurden die Taliban in der Anfangsphase des Krieges empfindlich geschwächt, in den Folgejahren ist ihre Truppenstärke allerdings von etwa 5000 Mann auf heute schätzungsweise 50.000 angewachsen.

Die Aufständischen schlagen ausschließlich dort zu, wo sie sich taktisch im Vorteil wähnen. Ihre Angriffe richten sich entweder gegen Angehörige der NATO, der afghanischen Armee oder gegen Zivilisten, die mit den Alliierten zusammenarbeiten. Die Taliban sind in hohem Maße mobil und nicht auf die Errichtung von Militärbasen angewiesen. Vielmehr führen sie ihren Krieg aus der Mitte der Zivilbevölkerung heraus, genießen deren logistische Unterstützung und leben innerhalb von Stammesstrukturen, von denen sie selber ein Teil sind. Aus diesem Grund schwächt eine Eroberung von Ortschaften die Taliban nicht, sondern bringt lediglich ihren Feind in die Reichweite ihrer Waffen. Je näher die NATO-Soldaten den Taliban kommen, desto intensiver nutzen diese den Schutz der Bevölkerung. Es scheint, als kämen sie aus dem Niemandsland und verschwänden nach jeder Militäroperation wieder im Nichts.

Die NATO gewinnt allenfalls einmal eine Schlacht

Wenn die NATO ein Gebiet erfolgreich erobert, so hat sie zwar eine Schlacht gewonnen, nicht jedoch den Krieg, da sie die jeweiligen Gebiete halten und logistische Verbindungen, die durch Talibangebiet laufen, zur Versorgung der vor Ort stationierten Soldaten aufrechterhalten muss. Sowohl diese Soldaten, als auch die Versorgungslinien sind ideale Ziele für die hoch motivierten und in der asymmetrischen Kriegsführung geübten Taliban. Es ist daher absurd, die Einnahme von Ortschaften durch die Alliierten als große militärische Erfolge zu verkaufen. Dies erfüllt allenthalben propagandistische Zwecke, wird der Realität des Guerillakrieges jedoch nicht gerecht. Es verwundert daher auch nicht, dass die Taliban Pressevertreter eingeladen haben, die sich vor Ort persönlich von den desaströsen Ergebnissen der Operation Mushtarak überzeugen können.
 
Das Ausmaß des Desasters der NATO-Operation lässt sich beispielhaft an einem Angriff in der Ortschaft Mardshak erkennen, bei dem die NATO-Truppen in eine von den Taliban verminte und umringte Ortschaft eindrangen.  Das alliierte Militär war gezwungen, die Truppenversorgung teilweise mit Hubschraubern durchzuführen, da die umliegenden Gebiete fest in den Händen der Taliban liegen. Von dort operieren diese erfolgreich gegen die logistischen Brücken der NATO. In den ersten Tagen erklärten die Taliban sogar, einen Hubschrauber des Typs Chinook, der US-Truppen transportiert, abgeschossen zu haben, wobei Erfolgsmeldungen der Taliban zumindest kritisch hinterfragt werden sollten.
Diese hilflos anmutende Operation ist selbst das Ergebnis einer gescheiterten und planlosen Konferenz in London.

Finanzielle Zuwendungen für die Taliban

Diese fand im Vorfeld der Operation Ende Januar 2010, als internationale Afghanistan-Konferenz statt, in deren Verlauf neue Richtlinien für die alliierten Truppen und die afghanische Regierung verabschiedet wurden. Im Rahmen der neuen Strategie sollten in erster Linie die „gemäßigten“ unter den radikalislamischen Taliban-Kämpfern, darunter sogar solche „mit Blut an den Händen“, durch finanzielle und materielle Zuwendungen und Gespräche zum Wohlverhalten bewogen werden.

Als Zeichen des guten Willens wurden einen Tag vor der Konferenz fünf führende hochrangige Mitglieder der ehemaligen Taliban-Regierung – darunter der ehemalige Taliban-Außenminister Wakil Ahmad Muttawakil, wie auch Fazal Mohammad, Shams-uns-SAFA Aminzai, Mohammad Musa Hottak und Abdul Hakim – von der UN-Sanktionsliste gestrichen. Von der afghanischen Regierung werden diese als gemäßigte Taliban bezeichnet und als Verhandlungspartner angesehen. Die Karzai-Regierung verschweigt jedoch vor der Öffentlichkeit, dass Abdul Hakim bereits seit drei Jahren als Gouverneur der Provinz Uruzgan dient und Mohammad Musa Hottak als Parlamentsabgeordneter die Partei von Präsident Karzai vertritt.  Die anderen drei sind bereits seit geraumer Zeit Regierungsberater in verschiedenen Angelegenheiten.

Mangel an Ansprechpartnern

Wenn man bedenkt, dass die Taliban im Vorfeld der Konferenz jede Form der Kooperation abgelehnt haben, ehe nicht die Alliierten das Land verlassen hätten, wird der Mangel an Ansprechpartnern auf Seiten der Taliban sichtbar. Er hat nun offenbar dazu geführt, dass krampfhaft nach ihnen gesucht wurde, vielleicht in der Hoffnung, dass diese als Katalysator fungieren, um andere Taliban für die Seite der Regierung zu gewinnen.
Vor diesem Hintergrund lässt sich die zweifelhafte Logik der aktuellen Operation Mushtarak nachvollziehen. Wie der afghanische Verteidigungsminister Wardak in einem Interview mit der BBC erklärt, wendet die Regierung eine Strategie von Zuckerbrot und Peitsche an. Dabei erfolgen jetzt die Peitschenhiebe in Form der Militäroperation, die den Appetit auf das Zuckerbrot in Gestalt einer möglichen politischen Teilhabe seitens der Taliban wecken sollen.
Der englische General Paul Newton betrachtete im Vorfeld der Konferenz die geplante  „Scheckbuch-Diplomatie“ als „die beste Waffe gegen Aufstände“, welche bis jetzt angeblich nicht zum Einsatz gekommen ist. Für diesen Zweck sind im Militärbudget der USA allein für das Jahr 2010 Mittel in einer Höhe von 1,3 Milliarden Dollar vorgesehen. Diese können von den Kommandeuren nach eigenem Ermessen für die „Taliban-Reintegration“ verwendet werden. 

Deutschland wird zu diesem Zweck 50 Millionen Euro bereitstellen, was von Bundesaußenminister Westerwelle mit folgenden Worten begründet wurde: „Viele Personen haben sich nicht aus fanatischer Überzeugung den Extremisten angeschlossen, sondern aus wirtschaftlicher Not“.  Zur Unterstützung abtrünniger Taliban wurde zusätzlich von den westlichen Alliierten ein Fond mit bisher 140 Millionen Dollar aufgestellt. Insgesamt sollen in den nächsten Jahren sogar 500 Millionen Dollar zur Verfügung stehen.

Ein zweiter wesentlicher Punkt der neuen NATO-Afghanistan-Strategie ist die stärkere Dezentralisierung der Regierungskompetenzen, welche einerseits lokale Strukturen an der Entwicklung und Stabilisierung des Landes beteiligen soll, gleichzeitig aber zur Schwächung der zentralen Regierung in Kabul führen würde.

Umarme den Feind, den du nicht besiegen kannst

Im Wesentlichen ist das strategische Umdenken der Alliierten durch zwei Tatsachen begründet: Einerseits sind den NATO-Ländern im Krieg gegen den Terror zahlreiche Fehler unterlaufen und der jahrelange Versuch, die Taliban militärisch zu besiegen, ist offensichtlich fehlgeschlagen. Nun versucht die NATO gemäß eines alten römischen Sprichworts - „umarme den Feind, den du nicht besiegen kannst“- die Taliban zu umarmen, mit der Hoffnung, diese Umarmung später in einen Würgegriff zu verwandeln. Anderseits haben, aus Angst vor der Wiedererstarkung der Taliban als einer Vertreterin der pashtunischen Titularnation, alle anderen im Land vertretenen Nationalitäten wie z.B. Usbeken, Tadschiken oder Hezaras erneut mit dem Aufbau lokaler Sicherheitsstrukturen begonnen.
 
Dies stellt im Prinzip nichts anderes dar als den Rückfall in die Bedingungen vor der Machtübernahme der Zentralregierung in Kabul im Jahr 2001, welche damals zur Auflösung der lokalen Milizen führte. Diese Entwicklung darf jedoch nicht nur als eine Reaktion auf die Unfähigkeit der Regierung, Sicherheit zu gewährleisten, betrachtet werden, sondern spiegelt auch die historisch gewachsenen Stammesstrukturen wider, welche sich seit jeher um die eigene Unabhängigkeit vom Zentrum bemüht haben.

Zweifel am Erfolg

Es darf deshalb stark daran gezweifelt werden, dass die „neue“ NATO-Strategie die Sicherheitsdynamik im Land zu Gunsten der Alliierten und der korrupten und illegitimen Regierung Karzai verändern dürfte.

Dass die Taliban von ihrem Vorhaben, ausländische Besatzer aus dem Land zu vertreiben, nicht durch finanzielle Geschenke abzubringen sind, wurde bereits vor der Konferenz deutlich, als am Tag der Einweihung der neuen Karzai-Regierung von Taliban-Mitgliedern zwei massive Anschläge auf das Regierungszentrum in Kabul verübt und kurz zuvor UN-Einrichtungen angegriffen wurden. Die Taliban dementierten auch Meldungen über angebliche Verhandlungen zwischen dem UNO-Beauftragten für Afghanistan, Eide,  mit  ihren Vertretern im Vorfeld der Konferenz. Dies kann als weiteres Zeichen für fehlendes Interesse an einer Aussöhnung und gegen die Londoner Vorschläge für ein Programm zur Wiedereingliederung von Taliban-Kämpfern in die Zivilgesellschaft interpretiert werden.  In ihrer Erklärung bekräftigen die Taliban stattdessen ihren Willen zum heiligen Krieg und bezeichnete die Londoner Afghanistan-Konferenz als gescheitert.

Nachbarn nicht am Erfolg der NATO interessiert

In London signalisierte die NATO ihren Willen zur politischen Integration der Taliban in die Machtstruktur Afghanistans und gab so indirekt zu, dass der Krieg nicht zu gewinnen sei. Auf der Münchner Sicherheitskonferenz  war eine Alternative dergestalt vorgeschlagen worden, dass die internationale Gemeinschaft und die Nachbarländer in der Region die NATO mit voller Kraft unterstützen sollen. Rasmussen hatte sogar vorgeschlagen, dass Russland sich am militärischen Einsatz in Afghanistan beteiligt. Realität ist allerdings, dass die Militärpräsenz der NATO in Afghanistan aus der Sicht der jeweiligen regionalen Akteure, wie China und Russland, Iran und Pakistan nicht leicht zu verdauen ist. Die chinesische Regierung betrachtet die Präsenz der NATO in Afghanistan als eine Gefahr für die Stabilität in Xinjang, da sie langfristig die Destabilisierung der bereits jetzt fragilen Uiguren Gebiete fürchtet. (Siehe dazu EM 12-09 „Afghanistan - Die Bedeutung des Landes am Hindukusch für die Weltpolitik“).

Die Nachbarländer Afghanistans, die die westlichen Alliierten nach deren Wunsch unterstützen sollen, dürften wohl kaum an einem Erfolg der NATO interessiert sein, sondern an einer Schwächung sowohl der NATO als auch der Fundamentalisten. Dementsprechend unterstützen diese Länder beide Seiten, sowohl die Alliierten, als auch die Taliban – einerseits um die radikalen Islamisten zu schwächen, andererseits um die NATO zu beschäftigen. In der Praxis erkennt man diese Doppelstrategie sowohl in der Unterstützung der NATO, als auch in der Frage der Bewaffnung und Finanzierung nicht nur der Taliban, sondern auch den jeweiligen Verbündeten der Nachbarländer innerhalb der afghanischen Ethnien.

Wie bewaffnen sich die Aufständischen?

Aufgrund des langjährigen Bürgerkrieges sind in Afghanistan immense Restbestände an Waffen vorhanden, die entweder aus sowjetischen Arsenalen oder aus den Zeiten stammen, in denen die Mudschaheddin materiell von den USA unterstützt wurden. Darüber hinaus besitzen traditionell viele Afghanen Gewehre, einerseits um ihre Unabhängigkeit zu bewahren, andererseits zum Selbstschutz. Auch wurde die so genannte Nordallianz während des Bürgerkrieges durch den Iran, Russland und Indien mit Waffen ausgerüstet, die noch immer im Land vorhanden sind. Darüberhinaus ist es fast allen Beobachtern bekannt, dass gewisse Elemente des pakistanischen Geheimdienstes ISI die Taliban mit Waffen versorgen.

Jedoch stoßen alliierte Truppen bei Taliban-Kämpfern auch immer öfter auf Waffen und Munition aus amerikanischen Beständen, welche den afghanischen Regierungseinheiten von der US-Armee zur Verfügung gestellt worden sind. US-Soldaten fanden z.B. nach einem Gefecht im Korangal-Tal im Osten Afghanistans bei den Leichen von mindestens dreizehn beim Schusswechsel getöteten Taliban-Kämpfern Gewehre und Munition, die aus amerikanischen Beständen stammen. Dies wurde durch Seriennummern und andere Merkmalen an den Patronen bestätigt. Überrascht haben dürfte es wohl nur die Wenigsten, denn schon lange ist den Beobachtern geläufig, dass korrupte afghanische Armeeangehörige die Taliban mit Waffen versorgen. Bereits Ende September 2009 strahlte der britische Sender BBC einen Dokumentarfilm aus, welcher die afghanischen Armeeangehörigen schwer belastet hatte. Er dokumentiert eine freundschaftliche Übergabe von Waffen und Munition an die Taliban durch afghanische Soldaten.

Innerhalb der einheimischen Sicherheitskräfte mangelt es somit offenbar nicht nur an Disziplin, sondern es treten auch offensichtliche Fälle von Korruption auf. Es scheint jedoch, dass die fehlende Disziplin afghanischer Armeeangehöriger durch das Verhalten des US-Militärs begünstigt wurde, welches den Verbleib von Waffen und Munition weniger strengen Kontrollen unterzog. Bereits im Februar 2009 kritisierte der US-Rechnungshof das Militär, dass es versäumt hätte, die Übergabe von Tausenden Gewehren an afghanische Sicherheitskräfte zu dokumentieren. Im Februar 2009 zitierte der US-Sender CNN einen Regierungsbericht, wonach das amerikanische Militär bei einer Inventur nicht in der Lage war, den Verbleib von 36 Prozent aller an die afghanischen Streitkräfte gelieferter Waffen aufzuklären. Insgesamt seien „87.000 der etwa 242.000 Schusswaffen, welche die USA produzierten und von Dezember 2004 bis Juni 2008 an Afghanistan lieferten”, unauffindbar.

NATO-Waffen für die Taliban

Tatsächlich ist dieser Vorfall nicht die Ausnahme und beschränkt sich bei Weitem nicht auf die US-Streitkräfte. Auch ein beträchtlicher Teil deutscher Waffen und verschiedener militärischer Materialien, welche an die afghanische Armee übergeben worden sind, bleibt unauffindbar. Nach einem Bericht des Rundfunksenders „NDR Info“ lieferte das Bundesverteidigungsministerium im Januar 2006 einen „Altbestand von 10.000 ausgemusterten Walther-P1-Pistolen zur Ausrüstung der im Aufbau befindlichen Streitkräfte“ an das afghanische Innenministerium. Die deutschen Pistolen seien dann an afghanische Polizisten und Soldaten verteilt worden. Nur 4.563 der Handfeuerwaffen befänden sich jedoch derzeit noch in den afghanischen Beständen, hieß es. Durch Diebstahl oder Verkauf wechselten diese Waffen anscheinend ihren Besitzer und landeten somit bei den Taliban-Milizen.

Nach UN-Berichten verlassen jährlich bis zu 25 Prozent der Polizisten die afghanischen Sicherheitskräfte. Viele dieser Abgänger, aber auch aktive Polizeibeamte, welche trotz angeblich besserer Bezahlung nicht in die Reihen der Taliban wechseln, verkaufen ihre Dienstwaffen offensichtlich lukrativ an Schwarzmarkthändler. Pakistanische Medien berichteten jüngst, dass hunderte Taliban-Kämpfer aus den Stammesgebieten und dem nördlichen Swat-Tal moderne „amerikanische, indische und deutsche Waffen“ in ihrem Arsenal hätten. Angst macht der amerikanischen Armeeführung dabei vor allem die Möglichkeit, dass US-Soldaten durch US-Waffen oder Munition getötet werden könnten. Wie sollten Armee und Regierung das den Angehörigen der Opfer erklären?

Wie finanzieren sich die Taliban?

Als Antwort auf Beschlüsse der jüngsten Afghanistan-Konferenz erklärten die Taliban, dass sie nicht für Sold kämpfen und dass man sie daher mit Geldangeboten nicht umstimmen kann. Es ist eine Binsenweisheit, dass sowohl Bewaffnung, als auch Finanzierung durch den pakistanischen ISI und durch bestimmte Kreise in Saudi Arabien erfolgen. Da der Krieg eine kostspielige Angelegenheit ist, deutet alles darauf hin, dass diese Finanzierung auch künftig erfolgen wird. In diesem Zusammenhang sendete die ARD in jüngster Vergangenheit den Dokumentarfilm „Alltag im Talibanistan“, der sich mit den Zuständen im südlichen Afghanistan auseinandersetzte. Laut dem Bericht, der u.a. auf die Finanzierungsquellen der Islamisten eingegangen ist, kontrolliert die Taliban (von Alliierten geduldet) große Gebiete im Süden des Landes. In Anwesenheit afghanischer Polizei werden hier Straßengebühren kassiert. Von den Behörden unbeanstandet verlangen die Taliban von den Bauern Steuern und von den stromverbrauchenden Haushalten Stromgebühren, ohne dass die Taliban dabei selbst für die Stromlieferungen verantwortlich wären. Dem Bericht der ARD zufolge betreffen die Straßengebühren sogar die Versorgungskonvois der Alliierten, welche je nach Größe und Gewicht zwischen 1300 und 2500 USD pro Fahrzeug betragen können. Im selben Bericht wird gezeigt, wie Taliban-Anhänger Cannabispflanzen für den Export von Haschisch vorbereiten. Den Experten ist dabei seit langem bekannt, dass der Drogenhandel oder dessen Besteuerung eine wesentliche Einnahmequelle zur Finanzierung der militärischen Handlungen der Taliban darstellt.

Interessanter ist jedoch die Tatsache, dass Firmen, welche am Wiederaufbau der afghanischen Infrastruktur beteiligt sind, zwischen 20 und 30 Prozent des Auftragswertes an die Taliban-Milizen bezahlen müssen, damit sie nicht angegriffen oder bedroht werden. Nicht nur einheimische Privatunternehmen, die z.B. dafür zahlen müssen, dass ihre Sendemasten für Mobilfunknetze nicht zerstört oder ihre Mitarbeiter nicht beim Straßenbau angegriffen werden, sondern auch ausländische Wiederaufbauhelfer sind zur Zahlung von Schutzgeldern verpflichtet, welche oft für die Ausrüstung von Aufständischen genutzt werden, die dann später gegen NATO-Truppen kämpfen. Diese Praxis betrifft sowohl deutsche, als auch britische, kanadische und sogar US-amerikanische Wiederaufbauprojekte. Zwar weisen z.B. offizielle Stellungnahmen der GTZ eine Erfüllung finanzieller Forderungen stets zurück, es gibt aber Belege dafür, dass die Tochterfirma der GTZ International Services im Süden Afghanistans in Projekten aktiv ist, deren Umsetzung ohne eine „stille Einwilligung der lokalen Talibanmilizen nicht möglich wäre“, wie es heißt. Paradoxerweise wird die Finanzierung militanter Gruppen indirekt sogar durch entwicklungspolitische Prinzipien begünstigt, wonach bei Projekten alle Akteure beteiligt werden sollen. Somit erhalten auch die Stämme Hilfsgelder, welche unter Generalverdacht stehen, mit den Taliban zu sympathisieren.

Der Afghanistankrieg als geopolitischer Interessenskonflikt

Nicht nur die indirekte Finanzierung der Taliban durch Schutzgeldzahlungen der am Wiederaufbauprojekten beteiligten Unternehmen oder Zuwendungen an verbündete Stämme, sondern auch direkte Schmiergeldzahlungen seitens der NATO-Staaten zum Schutz eigener Truppen können als Finanzierungsquellen der Taliban genannt werden. Nach Berichten der Londoner Times haben italienische Behörden zumindest im Jahr 2008 Schutzgelder für eigene Truppen gezahlt, welche im Gebiet Sarobi östlich von Kabul stationiert waren. Im August 2008 kamen daraufhin bei Attacken der Taliban zehn französische Soldaten ums Leben, die das Kommando von den Italienern übernommen hatten und laut Times zu unvorsichtig vorgingen, da sie von den früheren Abmachungen mit den Taliban nichts wussten.

Anscheinend ist auch der jüngste Vorschlag der NATO, Taliban-Kämpfer gegen fianzielle Zuwendungen für sich zu gewinnen, doch nicht so neuartig. Schon in der Vergangenheit tauchten immer wieder Berichte auf, laut denen ehemalige Taliban für den Kampf gegen ihre früheren Waffenbrüder gewonnen werden sollten. Großbritannien hat beispielsweise bereits im Jahr 2007 versucht, 2000 abtrünnige Taliban Kämpfer für Kampfeinsätze auszubilden, darunter 200 als Gruppenführer.  Das Ergebnis dieses Projektes war die Integration vieler ehemaliger Taliban-Anhänger in den westlichen Militärstrukturen als ortskundige Pfadfinder.

In der jüngsten Zeit mehren sich jedoch Berichte darüber, dass diese gut bezahlten und integrierten Personen spontan ihre westlichen Kameraden erschossen haben. Allein in den letzten Wochen sind annähernd fünfzig alliierte Soldaten bei solchen Angriffen entweder getötet oder schwer verletzt worden. Ähnliche Zwischenfälle sind auch aus Sowjetzeiten bekannt, was darauf deuten lässt, dass Aufständische mit Geld nur temporär zu gewinnen sind. Der Grund für dieses wechselhafte Verhalten ist dabei keinesfalls ihre Käuflichkeit, sondern eher die Tatsache, dass die Stämme traditionell immer wieder neue zeitlich begrenzte Koalitionen eingehen müssen. Dies geschieht einerseits als Mittel zum Erhalt ihrer Unabhängigkeit und anderseits als Maßnahme zur Schwächung anderer Stämme und Ethnien innerhalb des Landes. Sie sind daher nicht käuflich, sonder bestimmen und wechseln ihre Partner nach eigenem Interesse.

Im Fall der Taliban sollten zusätzlich noch zwei weitere Faktoren berücksichtigt werden. Erstens setzt sie sich überwiegend aus Pashtunen, also den Angehörigen der afghanischen Titularnation zusammen. Zweitens sieht sie aufgrund ihrer Ideologisierung durch den Wahabismus ihre primäre religiöse Aufgabe im Aufbau eines afghanischen Emirates mit einer extrem fundamentalistischen Verfassung.

Strategie der Nachbarn: Konfliktmanagement statt Konfliktlösung

Ergänzend zu diesen Faktoren muss berücksichtigt werden, dass der langandauernde Konflikt im Land dazu führte, dass sich viele Nachbarländer in die inneren Angelegenheiten der Stämme eingemischt haben und Afghanistan somit als ihre außenpolitische Einflusssphäre betrachten. Dies führte dazu, dass keine afghanische Staatlichkeit mit einer zentralen Regierung zustande kommen konnte. Das Fehlen der notwendigen Regierungsgewalt führte zur Entstehung krimineller Banden und lokaler Sicherheitsstrukturen, welche den Erfolg jedes Versuchs zur Schaffung einer zentralen Macht weiter untergraben haben und die Fachleute im Bezug auf das Land vom „failed state“ sprechen ließ. Diese Problematik lässt sich auch anhand der Bewaffnung der Taliban wie auch anderer ethnischer Gruppen in Afghanistan erläutern und wurzelt in einer Doppelstrategie der Nachbarländer.

Es scheint, dass alle Akteure, vor allem Russland eine ambivalente Politik gegenüber den USA betreiben. So gestattete die russische Regierung vor kurzem den USA, russischen Luftraum und russische Häfen für die Versorgung der US-Truppen in Afghanistan zu nutzen. Die USA waren auf alternative Versorgungsrouten angewiesen, da die Angriffe der Taliban auf Versorgungseinrichtungen in Pakistan eine sichere Versorgung der US-Truppen erheblich einschränkte. Diese freundliche Geste seitens der russischen Regierung hinderte diese allerdings nicht daran, zu Beginn des Jahres 2009 der kirgisischen Regierung 150 Millionen US-Dollar und einen Kredit über zwei Milliarden US-Dollar in Aussicht zu stellen, für den Fall, dass die kirgisische Regierung den Flughafen Manas, der den US-Truppen als Luftwaffenstützpunkt dient, von diesen zurückfordern würde. Zwar können die USA den Luftwaffenstützpunkt Manas nach wie vor nutzen, dafür wurde es der russischen Regierung gestattet, im kirgisischen Osch eine zusätzliche strategische Militärbasis einzurichten, die von Russland zu dem Zweck errichtet worden ist, der Präsenz der USA in der Region Paroli zu bieten. Durch diese Strategie verspricht sich Russland die Abhängigkeit der USA bezüglich der Nutzung von Transportinfrastrukturen zu erhöhen, um bei anderen Fragen den USA Konzessionen abringen zu können. Der russische NATO-Botschafter Dimitri Rogosin teilte über die russische Zeitung Kommersant mit, dass die Präsenz der USA in der Region zur Terrorismusbekämpfung zwar erwünscht sei, dass man von russischer Seite für diese Dienstleistung dennoch eine Gegenleistung erwarte, wie beispielsweise die Nichtaufnahme von Georgien und der Ukraine in die NATO und den Verzicht auf das amerikanische Raketenabwehrsystem in Polen und Tschechien. (Die Erklärung von US-Präsident Obama vom September hinsichtlich des Verzichtes auf ein solches Raketenabwehrsystem lässt darauf schließen, dass Russlands Rechnung zumindest teilweise aufgegangen ist.)

Sind die Ölquellen in Wahrheit das amerikanische Ziel?

Trotzdem gibt es Bedenken von russischer Seite ob der augenscheinlich langfristig geplanten Präsenz der USA in der Region. Andrei Arischow, leitender Forscher im Zentrum für strategische Studien schrieb für Ria Novosti Mitte September in einem Artikel mit dem Titel: „Great Game - eine neue Stufe?“, dass die USA in der Region Zentralasien eine komplexe Politik praktizieren, die diplomatisch, militärisch und informationstechnisch ausgerichtet sei. Die USA würden die NATO-Präsenz konsequent als Deckmantel für die Durchsetzung ihrer strategischen Langzeitinteressen in Zentralasien nutzen. Er sieht im Verhalten des US-Präsidenten Obama weitere Indizien, da entgegen seiner Äußerungen im Wahlkampf ein schneller Abzug der US-Truppen aus Afghanistan gegenwärtig kein Thema zu sein scheint. Stattdessen würden die US-Truppen ihre militärische Infrastruktur in Afghanistan massiv ausbauen, wie beispielsweise die Flughäfen Shindand und Baghram, die bereits von der sowjetischen Armee genutzt und deren Landebahnen vor kurzem auf 3500 Meter verlängert worden sind, was wiederum den Einsatz von strategischen Flugzeugen, wie B52-Langstreckenbombern ermöglicht.

Die Flughäfen seien darüber hinaus mit kostspieligen und hochempfindlichen Radarsystemen ausgestattet worden, die die Überwachung des gesamten eurasischen Luftraums erlaubten. Des Weiteren seien in Ost- und Zentraleuropa, sowie im Kaukasus ähnliche Einrichtungen installiert worden, um den gesamten Luftraum zwischen Europa und China zu kontrollieren. Er führt weiter aus, dass die USA und die NATO sechs weitere Militärbasen in Zentralasien besäßen, darunter Manas (Kirgistan) und Termes (Usbekistan), und somit Zentralasien von der US-Militärmaschinerie erobert worden sei.

Arischow kommt zu dem Schluss, dass das Hauptziel der USA in der Region die Kontrolle der fossilen Brennstoffe sei bzw. den Zugriff Russlands und Chinas auf diese Ressourcen zu verhindern, was nicht zuletzt durch die Präsenz in Afghanistan möglich sei.

Revidiert Russland seine Beziehungen zu den Taliban?

So ist es nicht verwunderlich, dass russische Medien Nachrichten verbreiten, in denen gefordert wird, die russischen Beziehungen zu den Taliban zu revidieren und echte Verhandlungen mit ihnen zu führen. So erklärte der Experte für internationale Beziehungen, A. N. Serienko gegenüber Ria Novosti, dass Russland mit einigen pashtunischen Stämmen Kontakt aufgenommen habe, die einige Regionen im Grenzgebiet zwischen Pakistan und Afghanistan kontrollieren. Obwohl die Regierung solche Kontakte dementiert, lässt sie durchblicken, dass man die Taliban und die Paschtunen als „Ureinwohner“ Afghanistans, nicht einfach in einen Topf werfen kann, und ließ verlautbaren, dass Russland immer mit den Pashtunen enge und vertrauliche Beziehungen unterhalten habe, da sie schließlich die wichtigste Ethnie im Vielvölkerstaat Afghanistan seien.
 
Man toleriert allerdings von russischer Seite die gegenwärtige US-Präsenz, ist doch der sich permanent steigernde militärische Konflikt zwischen den Taliban und den US-Truppen für die eigenen langfristigen politischen Interessen von Nutzen. Wie bereits dargelegt, sind die USA in Zentralasien in Bezug auf Afghanistan zunehmend auf die Unterstützung Russlands zur Versorgung der eigenen Truppen angewiesen (und nach NATO-Angaben sogar Militärtechnik von Russland kaufen – 400 russische Militärhubschrauber sind in Afghanistan für die NATO im Einsatz), da Pakistan zu unsicher geworden und mit dem Iran noch kein Übereinkommen erzielt worden ist. Außerdem genießt Russland durch den Konflikt in Afghanistan einen strategischen Vorteil, da gegenwärtig ein Großteil des amerikanischen Militärs in Afghanistan gebunden ist, so dass die USA kaum in Erwägung ziehen werden, bei Streitfragen wie dem Georgienkrieg gegenüber Russland einen harten Konfrontationskurs einzuschlagen. So steht Russland gegenwärtig als einer der Gewinner des Afghanistankrieges da, kann es doch aus der Beschäftigungstherapie amerikanischer Truppen politisches Kapital schlagen und hat so beispielsweise in Abchasien nach dem Georgienkonflikt seine erste Militärbasis eröffnet, ohne dass die USA nennenswerte Reaktionen zeigten.

Wiederaufbau lokaler Milizen

Ähnlich wie Russland hegt auch die chinesische Regierung Vorbehalte gegenüber der Präsenz von US-Truppen in Afghanistan und Zentralasien, und es scheint, dass sich eine koordinierte Politik zwischen Russland und China bezüglich der Afghanistan-Frage entwickelt.

Russland und der Iran haben außerdem Angst vor einer langfristigen Präsenz westlicher Truppen in ihrem Hinterhof, die als Gefahr für ihre eigene nationale Sicherheit wahrgenommen wird. Insbesondere der Ausbau von US-Militärbasen in Bagram und Shindant, welche auch die Landung strategischer Bomber ermöglichen, zeigen, dass diese Ängste durchaus begründet sein können. Anderseits strebt Pakistan nach einer von Pashtunen dominierten Regierung, welche Afghanistan als strategisches Rückzugsgebiet für die pakistanische Armee im Falle eines Konfliktes mit Indien öffnen würde. China zeigt sich wiederum über mögliche Auswirkungen westlicher Präsenz in der Region auf separatistische Bestrebungen seiner uighurischen Minderheit besorgt. Indien möchte die Position Pakistans im Nachbarland begrenzen und unterstützt daher das Vorgehen Russlands und Irans hinsichtlich der Nordallianz, die sich heute Nationalfront nennt. Aber auch die Alliierten selbst sind sich dessen bewusst, dass die Macht der Zentralregierung außerhalb von Kabul endet und müssen sich daher mit dem Wiederaufbau lokaler Milizen abfinden.

Unter solchen Umständen erscheinen die in London vereinbarten Pläne zur Problemlösung in Afghanistan eher als Wunschdenken, welches die Realität unberücksichtigt lässt. Afghanistan hat sich während der letzten Jahre zu einem gefährlichen Pulverfass auf dem geopolitischen Schachbrett entwickelt, das zu einem Sisyphusprojekt der NATO werden kann, falls diese weiterhin versucht, in der Region Sicherheit zu schaffen.

Lösungsvorschläge, die nicht von vornherein abgelehnt oder zum Scheitern verurteilt würden, müssen sowohl landesspezifische ethnische Gegebenheiten als auch die Interessen der Nachbarländer berücksichtigen. Im ersten Schritt sollten daher anhand einer Volkszählung die Anteile einzelner Nationalitäten an der afghanischen Bevölkerung ermittelt werden. Im zweiten Schritt müsste eine föderale Verfassungsstruktur geschaffen werden, welche ähnlich wie im Libanon eine proportionale Beteiligung einzelner Volksgruppen an der Machtausübung ermöglichen würde.

Um regionale Mächte, allen voran Russland, Iran und China, zufrieden zu stellen, muss die NATO einem zeitlich begrenzten Engagement, am besten mit einem Abzugszeitplan, zustimmen. Nicht zuletzt sollten Gelder, welche für die Eingliederung der Taliban vorgesehen sind, eher in den Aufbau einer funktionsfähigen, gut bezahlten und bewaffneten afghanischen Armee investiert werden, bevor mit den Verhandlungen mit der Taliban begonnen wird. Denn solange sich die Taliban auf der Siegerseite sehen, werden alle Verhandlungsvorschläge nur als Zeichen von Schwäche interpretiert und Operationen wie Mushtarak das Gegenteil von dem bewirken, was sie erreichen sollen.

Afghanistan Außenpolitik

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