„Nachrichten aus einem befreiten Land“AFGHANISTAN

„Nachrichten aus einem befreiten Land“

Ab Sonntagabend, dem 7. Oktober 2001 um 18.15 Uhr MEZ, befanden sich die USA und Großbritannien im Krieg gegen Afghanistan. Ein halbes Jahr danach meldeten sie und die mit ihnen verbündete „Nordallianz“ den Sieg. Kabul wurde eingenommen. Jetzt sollten die Waffen schweigen und der Wiederaufbau des Landes beginnen. Afghanistan würde nach über 20 Kriegsjahren erstmals eine Friedensperspektive erhalten. Und nun, zehn Jahre später, im März des Jahre 2012, erklärt NATO-Berater Prof. Rob de Wijk: „Der Krieg ist für das westliche Bündnis verloren“.

Von Eberhart Wagenknecht

D er Frieden, von dem die westlichen Kriegsmächte im Frühjahr 2002 redeten, stand von Anfang an nur auf dem Papier. In dem Beitrag des Eurasischen Magazins „Nachrichten aus einem befreiten Land“, der zum ersten Jahrestag des Falls von Kabul erschienen war, hieß es: „Weiterhin sterben tagtäglich Menschen in Afghanistan. Reste der Taliban, bewaffnete Trupps von sogenannten Warlords der verschiedenen ethnischen Gruppen, US-Soldaten und Engländer liefern sich noch immer Kämpfe. Die Zahl der Anschläge und Morde im Land, der militärischen Übergriffe und der Bombardierungen kann kaum jemand zählen. Die wichtigsten derer, die bekannt wurden, hat das EURASISCHE MAGAZIN hier in einer ersten Zwischenbilanz nach einem Jahr ‚Frieden‘ zusammengestellt.“

Amerikaner, Briten und „Nordallianz“ gerierten sich seinerzeit als Befreier. Aber dann wurde sogar die NATO mobilisiert, um weiter „Frieden“ zu schaffen. Truppen aus fast allen Ländern der Allianz kämpften und starben seither in Afghanistan. Am Ende versuchten die Amerikaner sogar mit dem altbösen Feind, den Taliban, zu verhandeln, um trotz der militärischen Niederlage eine Art „ehrenvollen Abschied“ zu erreichen. Die Taliban ließen sich Angebote machen und dann die Gespräche ein ums andere Mal platzen.

Der Krieg war nie zu gewinnen

Nun also ist der Krieg verloren. Die vorherige Besatzungsmacht in Afghanistan, die Russen und ihre Militärs, hatten dem Westen genau dies prophezeit.  Und auch in rund einem Dutzend Beiträgen, die nach 2003 im Eurasischen Magazin zum Thema Krieg in Afghanistan erschienen sind, war der Tenor immer derselbe: Dieser Krieg ist nicht zu gewinnen. Dennoch wurden immer mehr Soldaten nach Afghanistan entsandt, immer weitere Milliarden Dollars in Waffen investiert und fast täglich Zinksärge in die Heimatländer der NATO-Soldaten geflogen.

„Der 11. September war nur der Anlass für einen lange geplanten US-Krieg“

Anfang 2004 interviewten wir Dr. Matin Baraki zum Thema Verfassung und Regierungssystem im „neuen“ Afghanistan. Er antwortete u. a. auch zu Fragen nach der Instrumentalisierung des 11. Septembers durch die USA und zu Fragen nach der US-Strategie im ‚eurasischen Balkan'.

Baraki wurde 1947 in Afghanistan geboren. Er arbeitete zur Zeit des Interviews als Lehrbeauftragter für Internationale Politik an den Universitäten Marburg und Kassel und forschte Jahrzehnte lang zur politischen Entwicklung Afghanistans. Seine Kernaussage: „Der 11. September war nur der Anlass für einen lange geplanten US-Krieg“. (Link geht nicht)

„Da braut sich was zusammen“

Im Juni 2006 sprachen wir mit  Dr. Conrad Schetter, Wissenschaftler am Zentrum für Entwicklungsforschung der Universität Bonn, der dort die Forschungsgruppe „Politikgestaltung und Konflikte“ leitete. Schetter gab sich im damals fünften Jahr der militärischen Intervention des Westens keinerlei Illusionen hin. Verstöße gegen Sitten und Wertvorstellungen der Afghanen durch westliche Organisationen seien vor allem in Kabul an der Tagesordnung. Sie spielten den Taliban in die Hände und brächten neuen und unerwarteten Zulauf für die islamistischen Kämpfer. Das Land könnte für den Westen bereits verloren sein, befürchtete er.

Die Amerikaner seien von der afghanischen Bevölkerung „anfänglich mit einer gewissen Erwartung auf Befreiung vom Joch der Taliban wahrgenommen“ worden. Doch der Wind habe sich „aufgrund des wenig angepassten Verhaltens der Amerikaner sehr stark gedreht.“ Daran schuld sei zum Beispiel „das brachiale militante Vorgehen der US-Truppen im Süden des Landes, dem immer wieder Zivilisten zum Opfer fielen, Hochzeitsgesellschaften, Bauern auf dem Feld, Kinder.“ Auch die Missachtung afghanischer Traditionen. Trage dazu bei, dass man die US-Truppen mehr und mehr zum Teufel wünsche. Als Beispiel nannte Schetter, dass  „beispielsweise GI’s ungeniert in Frauengemächer eindringen, um sie zu durchsuchen.“ Nicht einmal afghanische Männer beträten diese Räume.

Schetter hatte Afghanistan damals als das Umerziehungslager des Westens bezeichnet. Im Interview mit dem EM sagte er dazu, das sei zwar als Provokation gemeint gewesen. Aber es stimme natürlich. „Denn wenn sie einen Zaun um das Land ziehen, haben Sie genau das: ein Umerziehungslager; andere würden sagen eine große Schule. Als ich im März das letzte Mal in Afghanistan war, nahm ich bei meiner Abreise den Eindruck mit, dass ich ein Land verlasse, in dem versucht wird, Afghanen an allen Ecken und Enden umzuerziehen.“

Schetters Fazit lautete damals:  „Da braut sich was zusammen“

„Die Taliban kehren zurück – das Land steht auf der Kippe“

Frieden hat das Land nach dem Einmarsch der westlichen Truppen niemals gefunden. US-Truppen, Milizen, die Aufbautruppe ISAF und auch die NATO versuchten, die Ordnung aufrechtzuerhalten. Doch die Taliban kehrten zurück. Ihre Schläge gegen die westlichen Besatzungstruppen wurden immer präziser.

In einem analytischen Beitrag, ebenfalls vom Juni 2006, zeigte das EM das ganze Ausmaß des Scheiterns der westlichen Intervention: „Seit Jahresbeginn wurden bei Kämpfen in Afghanistan den verschiedenen Berichten zufolge mehr als 1.200 Menschen getötet, darunter auch etwa 50 ausländische Soldaten.“ Und weiter: „Noch nie seit der Vertreibung der Taliban waren in Afghanistan die Kämpfe zwischen US-geführten Truppen und Rebellen so heftig wie derzeit. Im Frühjahr war es zu regelrechten Aufständen gekommen.“ Wütende Afghanen riefen den Berichten zufolge: „Tod Amerika, Tod Karzai“, dann stürmten sie die Polizeistationen und Einkaufszentren in Kabul.

Schon damals erklärten hochrangige amerikanische Offiziere, aber auch deutsche Militärs ganz ungeschminkt: „Die Taliban kehren zurück – das Land steht auf der Kippe“.

„Es droht der latente Bürgerkrieg“

„Wenn es nicht gelingt, die Gewaltstrukturen in Afghanistan aufzubrechen, die Drogenwirtschaft zu zerschlagen und die Korruption einzudämmen, ist die Prognose für das Land düster: dann droht ein Somalia-Szenarium mit Bürgerkrieg wie in den neunziger Jahren.“ Diese Warnung sprach der Afghanist Thomas Ruttig von der Stiftung Wissenschaft und Politik im Gespräch mit dem EURASISCHEN MAGAZIN im Sommer 2007 aus. „Um das Ruder vielleicht noch herumreißen zu können, müsste die internationale Gemeinschaft die afghanische Bevölkerung für sich gewinnen“, erklärte er damals.

Ruttig hatte wischen 2000 und 2006 als ‚political officer’ bei den UN-Missionen in Afghanistan UNSMA und UNAMA, als stellvertretender EU-Repräsentant und als politscher Berater der Deutschen Botschaft in Afghanistan gearbeitet. Er hat u. a. an der Universität von Kabul studiert und spricht die neupersische Schriftsprache Dari und das Afghanische Pashto.

Seine Hoffnung, dass die westlichen Besatzer in Afghanistan Erfolg haben könnten, war gering. Daher auch seine düstere Prophezeiung: „Es droht der latente Bürgerkrieg“.

Eine neue Afghanistan-Strategie?

Vor dem NATO-Gipfel 2008 in Bukarest sprachen wir mit Dr. Timo Noetzel , der seit April 2008 eine zu internationaler Stabilisierungspolitik und modernen Protektoraten arbeitende Nachwuchsgruppe des Exzellenzclusters der Universität Konstanz leitete. Der Westen, so Noetzel, weiche vielen Problemen einfach aus und schaffe damit eine bedrohliche Entwicklung. Es sei zu hoffen, dass in Bukarest die angekündigte Strategie beschlossen und verabschiedet werde, die der Entwicklung eine gewisse Wende geben könnte. Daran werde man Bukarest messen müssen.

Es war eine Hoffnung. Dabei blieb es. Die von Timo Neoetzel aufgeworfene Frage vom Sommer 2008 „Kommt die neue Afghanistan-Strategie“ konnte am Ende mit einem klaren Nein beantwortet werden.

Afghanistan-Mission in der Sackgasse

Im März 2009 analysierten Behrooz Abdolvand und Heinrich Schulz von der FU Berlin die Hintergründe von NATO-Direktiven zu Afghanistan. Dabei beleuchteten die Autoren auch, welche Rolle deutsche ISAF-Truppen im Afghanistan-Einsatz spielen. Ihr wenig schmeichelhaftes Resümee fassten sie im Titel ihres Beitrags zusammen:  „Deutsche Außenpolitik im Tal der Ahnungslosen“.

Wer profitiert, wenn die NATO in Afghanistan scheitert?

Das gleiche Autorengespann ging im Dezember 2009 genau dieser Frage nach und erläuterte in einem sehr fundierten und ausführlichen Beitrag „Die Bedeutung des Landes am Hindukusch für die Weltpolitik“.

„Flehen um Gottes Schutz vor der Rache der Afghanen“

EM-Autor Prof. Wolf Oschlies fragte im August 2010: „Was geht die Deutschen dieser Krieg an? Für wen oder was sterben deutschen Soldaten in einer Region, die die meisten Deutschen nicht einmal auf der Landkarte zeigen können. Wie können deutsche Politiker und Parlamentarier für einen Krieg in einem Land eintreten, dessen Konfliktherde deutsche Autoren schon vor 90 Jahren beschrieben haben?“ Er argwöhnte: „Gilt für gegenwärtige Deutsche der bekannte Satz: Wer aus den Fehlern der Vergangenheit nicht lernt, ist dazu verdammt, sie zu wiederholen?“ Oschlies kommt zu dem Schluss: „Offenkundig ja. Leider!“
Er taucht ein in die gemeinsame Vergangenheit, die auch wir Deutschen mit den Afghanen haben und berichtet äußerst fesselnd über „Alte deutsche Erfahrungen und neue Fehler am Hindukusch“.

„Die Taliban sind Bestandteil der afghanischen Nation“

Darauf wies bezeichnenderweise ein hochrangiger politischer Mitarbeiter der NATO hin. Dass es schief geht in Afghanistan, das dämmerte von Anfang an am ersten den Militärs und anerkannten Wissenschaftlern, wie wir in unseren Beiträgen über die Jahre zeigen konnten. Einer, der die Gründe für den Schlamassel auf den Punkt brachte, war im Dezember 2010 der frühere (1991 bis 1994) Außenminister der Türkei und spätere politische Vertreter der NATO für Afghanistan, Hikmet Çetin. Er nannte als Erkenntnis dafür, dass die NATO-Truppen am Hindukusch nicht den Frieden bringen konnten:  „Der Westen versteht Afghanistan nicht“.

Der letzte Schrei: „Nichts wie raus aus Afghanistan“

Alle versuchen nun, so schnell wie möglich nach Hause zu kommen. Nichts wie raus aus Afghanistan, lautet die Parole. Der Krieg ist verloren. Der Frieden wird fürchterlich sein. Die schlimmsten Vorhersagen könnten sich nun erfüllen.

Der Westen hat darauf keinen Einfluss mehr. Afghanistan bleibt wie immer unbesiegt. Die Afghanen nehmen ihr Schicksal wieder selbst in ihre Hände. Das Pulverfass Hindukusch bleibt.

Afghanistan Außenpolitik

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