13.01.2023 14:10:35
Von Andrea Jeska
EM – Die Bergregionen des Kaukasus ziehen das Chaos an - und es ist nicht allein ihre Schuld. Durch eine Laune der Geographie sind die nord- und südkaukasischen Staaten stets am Rande der Handelswege für die Supermächte gewesen. Das Aufeinandertreffen dieser Supermächte verlief meist blutig und auf Kosten der kaukasischen Völker. Zogen die Mächtigen wieder ab, war das Land verwüstet, Leben vernichtet, Wurzeln gekappt. Mühsam bauten die kleinen Völker ihre Welt wieder auf, stets in der Hoffnung, nun endlich Frieden zu haben. Bis heute hat sich daran nichts geändert, sind die Motive und Konsequenzen für das hochnäsige Zertrampeln schwacher Nationen gleich geblieben. Es ging und geht um Bodenschätze, um Machterweiterung, um Sicherung strategisch wichtiger Regionen. Ob die kaukasischen Völker dabei vernichtet werden und Menschen entsetzliches Leid erdulden müssen - die Tschetschenen - oder zum Spielball politischer Eitelkeiten werden, wie die Karabacher, die Osseten, die Apsny (wie die indogene Bevölkerung Abchasiens heißt), aber auch Tausende von georgischen, armenischen, aserischen Flüchtlingen, findet wenig Aufmerksamkeit im Gerangel um die Verteilung der Welt.
Washington und Moskau tragen ihren Teil dazu bei, daß der Kaukasus nicht zur Ruhe kommen kann. Deren Großmachtpolitik nimmt wenig Rücksicht auf die regionalen Bedürfnisse und verhindert jeden Ansatz eines Bündnisses zwischen den einzelnen Kaukasus-Staaten. Seit Anfang der 90er Jahre neue Öl- und Gasvorkommen im Kaspischen Meer entdeckt wurden, nutzen die beiden Mächte ihre jeweiligen politischen und wirtschaftlichen Verbindungen, um sich den Einfluß über jene Gebiete zu sichern, durch die sie ihre Transportrouten für die kaspischen Vorkommen lenken wollen. Das schockierende Beispiel Tschetschenien zeigt, daß man in Moskau und in Washington bereit ist, aus übergeordneten Interessen notfalls auch Völker zu opfern. Die Russen brauchen Tschetschenien, um ihre Pipelines nutzen zu können, die über das Territorium der kleinen Republik verlaufen. Daß der Tschetschenien-Krieg Rußlands militärische und politische Resourcen seit fast einem Jahrzehnt in Beschlag nimmt kommt den Amerikanern sehr gelegen.
Nicht nur der Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan um Berg-Karabach (siehe EM 08/03) destabilisiert den Kaukasus. Eine wahrscheinlich noch größere Gefahr für die Region, nach Einschätzung einiger Politologen sogar für Europa, geht von der Instabilität Georgiens und der brüchigen Waffenruhe in seinen Randgebieten aus. Abchasien und Südossetien, zu Sowjetzeiten Teile des georgischen Territoriums, haben sich 1992, nachdem der ehemalige georgische Staatspräsident Swiad Gamsachurdia unerträglich nationalistische Töne anschlug und es schließlich zum Bürgerkrieg kam, für eigenständig erklärt. Freedom's just another word for nothing left to loose, sang zu Hippiezeiten Janice Joplin - und könnte es heute dort singen. Beide Gebiete überleben mehr schlecht als recht mit Hilfe Rußlands. Abchasien, einst blühendes Touristenland, vegetiert als völkerrechtlich nicht anerkannter Staat vor sich hin, die Südosseten halten sich mit Schmuggel aller Art über Wasser. Die Freiheit, nach der sich beide Volksgruppen sehnten, ist ein schlechter Witz, und auch die ideologische Rechtfertigung für den teuer bezahlten Separatismus – Angst um den Verlust der eigenen Wurzeln und Traditionen – kann nur als absurd definiert werden, wenn man sieht, wie sehr die Identität beider Volksgruppen inzwischen russifiziert ist.
Als sei das nicht Problem genug, haben die Georgier auch noch den Tschetschenien-Krieg am Hals, der über die Grenzen ins georgische Pankisi-Tal geschwappt ist. Bei den dortigen Kistinen, einer tschetschenischen Volksgruppe, verstecken sich und ruhen sich jene tschetschenischen Männer aus, die von Rußland als Terroristen angesehen werden. Ein Trainingslager für Al Kaida, Versteck für Osama bin Laden, Sammelpunkt aller islamischen Extremisten – keine Paranoia, die Rußland nicht bereits über das kleine, idyllische Tal ausgeschüttet hätte. Erst Ende August drohten die Russen erneut damit, im Tal einzumarschieren, um ihren Kampf gegen Terrorismus effektiver führen zu können. So propagandistisch die russischen Drohungen sind, ganz von der Hand zu weisen sind die Vorwürfe nicht, Georgiens Haltung gegenüber kriminellen oder extremistischen Gruppen sei zu lasch. Entführungen, Partisanentum, Waffen-, Drogen-, Frauenhandel – Georgien hat alles davon und noch einiges mehr. Und nur gänzlich erblindete oder moralisch abgestumpfte westliche Politiker sind noch in der Lage, in Georgiens Staatspräsident Eduard Schewardnadse den selbstlosen Helfer der deutschen Einheit sehen.
Von außen betrachtet ist es daher unverständlich, mit welchem Eifer Hilfsorganisationen in Baku und Tiflis die Versäumnisse der jeweiligen Staatschefs glätten wollen. In Tiflis gibt es fast so viele Organisationen wie in Afrika und jedes Jahr, so scheint es, werden es mehr Hilfswillige, die in schicken weißen Geländewagen durch die Stadt fahren.
Den Georgiern geht es deshalb nicht besser. Politische Stabilität herzustellen, ist Eduard Schewardnadse in seiner über zehnjährigen Amtszeit nicht gelungen. In Georgien herrschen Wild-West-Sitten. Polizisten und Zollbeamte verlangen willkürlich Schmiergelder, Verbrechen werden gegen Schweigegeld nicht verfolgt, Arbeit findet man nur gegen Bezahlung. Von den Dollarmillionen, die an Entwicklungshilfe ins Land flossen, verschwanden viele in dunklen Kanälen, gleichzeitig brachten es Mitglieder des Präsidenten-Clans zu Reichtum. Immer wieder kommt es zu Spekulationen über Schewardnadses Involvierung in unsaubere Geschäfte, auch Waffen- und Menschenhandel gehören dazu. Was den Georgiern von seiner Amtszeit in Erinnerung bleiben wird, ist ein steter Niedergang der sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse.
Wie im Berg-Krabach-Konflikt, treffen auch in Georgien zwei gegensätzliche Prinzipien des Völkerrechts aufeinander: Einerseits der Schutz der territorialen Integrität und die Unverletzbarkeit der Staatsgrenzen. Die Wichtigkeit dieser Grundsätze zeigt der Fall Georgien, dessen staatlichen Strukturen die Abspaltung Abchasiens und Südossetiens ins Wanken brachte. Hinzu kommt der damit verbundene erhebliche Verlust an Staatsterritorium.
Anderersseits schreibt das Selbstbestimmungsrecht fest, daß Völker ihr Leben nach eigenem Gusto gestalten dürfen. Während der Sowjetzeit sind viele Kleinvölker deportiert, gedemütigt, unterdrückt worden. In welchem Ausmaß die Existenz dieser Völker in Folge der jahrzehntelangen Ausrottungsversuche bedroht ist, zeigt das Beispiel der Kalmücken. Das ursprünglich buddhistische Volk lebt heute südöstlich der Wolga. Unter den Sowjets deportiert und zersplittert, haben die Kalmücken ihre Sprache und die Grundlagen ihrer Religion vergessen. Schlimmer noch ist das Schicksal der moslemischen Meschteken, die von Stalin aus ihrer georgischen Heimat nach Kasachstan verbannt wurden, wo sie noch immer leben. Die verbliebenen rund 30.000 Angehörigen des kleinen Volkes möchten – um ihre Identität zu erhalten – als ganzes Volk in ihre alte georgische Provinz zurückkehren. Dort aber leben inzwischen christliche Armenier. Die georgische Regierung fürchtet den voraussehbaren weiteren ethnischen Konflikt, eine Lösung ist nicht in Sicht.
Staatsgrenzen, die dem Willen der Mehrheit entsprechen und die Identität von Minderheiten bewahrt, lassen sich offensichtlich nicht finden. Im Falle Georgiens haben sich die Vereinten Nationen (VN) und die OSZE entschieden, das territoriale Recht Georgiens über das Selbstbestimmungsrecht der Osseten und der Apsny zu stellen. Fragt man im Kaukasus nach, warum den einzelnen Völkern nicht einfach ein Stück Land, ein Fitzelchen Heimat zugestanden werde, folgt stets die sehr empörte Gegenfrage, wo man denn in multiethnischen Staaten hinkäme, wenn jede Minderheit ihre Unabhängigkeit beanspruche?
Mit diesem territorialen Ansatz ziehen sich die VN und die OSZE inzwischen den Zorn aller Beteiligten zu. Georgier sehen im Nicht-Gelingen ein absichtliches Versagen und flüchten sich in allerlei hanebüchene Verschwörungstheorien. Abchasen unterstellen Parteilichkeit zugunsten der Georgier. Selbst in Südossetien, wo der Krieg nicht ganz so grausam war und Georgier und Osseten inzwischen wieder wie früher nebeneinander leben, hält man von den Vermittlungsversuchen der OSZE wenig.
Lösungsvorschläge und kluge Dokumentationen gibt es wie Sand am Meer. Gerade aus Deutschland ist viel Geld in Konfliktforschung und Friedensinitiativen zum Kaukasus geflossen. Dutzende von Geisteswissenschaftlern fühlten sich berufen, ihre Sicht der Dinge preiszugeben und ihren wissenschaftlichen Ruf ein wenig lauter schallen zu lassen. Kaum eine politische oder private Stiftung, die nicht Symposien, Seminare, Sommerlager zu diesem Thema veranstaltet hat. Da wurden sie alle an einen Tisch gesetzt: Abchasen mit Georgiern, Georgier mit Osseten, Osseten mit Inguscheten, Armenier mit Karabachern, Karabacher mit Aseris. Man aß Häppchen, tauschte Argumente aus, fand sich auf persönlicher Ebene nett. Ein Jahr traf man sich in Tiflis, im darauffolgenden in Baku, dann in Jerewan und zwischendrin in Bonn, Berlin und Bad Honnef.
Mit dem Geld der VN gab und gibt es Ferienlager für Kinder aus verfeindeten Gebieten – Azin aus Suchumi (Abchasien) spielt dann einen Sommer mit Viktor aus Kachetien (Georgien) und Marina aus Stepanakert (Karabach) mit Gleichaltrigen aus Baku (Aserbaidschan). Klar führt das zu einer Aufweichung der Feindbilder. Nur: zurück im eigenen Land stoßen diese Kinder auf Unverständnis, schlimmstenfalls Isolation.
Inzwischen sind mehr als zehn Jahre über Thesenpapieren und Seminarprotokollen vergangen. Mit der typischen Arroganz westlicher Betrachtungsweise wich man nicht von der Idee ab, daß es gelingen müsse, eine multiethnische Gesellschaft in ein Korsett zu drängen. Was dabei auf der Strecke blieb, war die Einbeziehung der speziellen Traditionen der Kaukasier, die je nach Strandpunkt entweder brutalisiert oder romantisiert wurden – mal sah man drohenden Terrorismus, mal heroischen Freiheitswillen. In den deutschen Nachrichten verkam das Gebiet zu einem Sammelpunkt aller gefährlichen menschlichen Neigungen.
Auch die Argumente der involvierten Nationen änderten sich nicht. Bei Kaffee und Kuchen wurde weiter darüber gestritten, wer vor ein paar hundert Jahren zuerst welche Region besiedelte – und damit ein ewiges Siedlungsrecht dort habe. Die gegenseitigen Vorurteile wurden bis zum Abwinken durchgekaut, Feindbilder stets erneut auf Hochglanz geputzt. Aseris unterstellten Armeniern, brutal und kriegsbesessen zu sein, umgekehrt gilt dasselbe. Die Georgier sprechen den Osseten jede Zivilisation ab, die Osseten den Georgiern dafür die Toleranz. Abchasen sagen, Georgier hätten versucht, sie als Volk auszulöschen. Der exilierte abchasische P räsident Tamaz Nadareishvili darf an deutschen Instituten Vorträge halten , wenngleich er in seinem Heimatland Volksverhetzung betreibt. Abchasien leistet sich noch immer einen Separatismus, der das Volk ins Elend stürzt. Ein Frieden kraft Einsicht und Verminderung des rechthaberischen Gebarens ist weit entfernt.
Und der Westen? Seufzt und übt sich in lammfrommer Geduld. Hinter verschloßenen Türen, wurde gepokert, geschoben, gefeilscht. In Florida trafen sich der armenische und der aserbaidschanische Präsident – und gingen unverzüglich zerstritten auseinander. OSZE und VN-Gelder flossen reichlich. Wer einen Namen hatte, wurde zu den Treffen geflogen, in Hotels untergebracht. Nach Erfolgen befragt, wurde gerne auf die sogenannte Normalisierung der Beziehungen hingewiesen, auf Erkennung und Vermeidung möglicher künftiger Konfliktanlässe. Kein Krieg! Für jene, die sich an der Friedensfront profilierten, war das schon so gut wie Frieden.
Es waren dieselben Jahre, in denen die Flüchtlinge aus den jeweiligen Krisengebieten Tag für Tag ihr Heimweh bekämpften, in denen ihnen der Regen durch dünne Zeltwände auf den Kopf tropfte oder sie zu siebt in klammen zehn Quadratmeter kleinen Zimmern hausten. Ohne Arbeit, Bildung, oft ohne Wasser, Strom und ausreichend Nahrung. Ohne alles, was einst ihr eigenes Leben war. Nicht das Nötigste, von Träumen und Hoffnungen ganz zu schweigen. Es waren Jahre, in denen sich Hilfsorganisationen trotz ihrer mit Satellitenempfang ausgerüsteten und gesicherten Geländewagen davor fürchteten, im Pankisi-Tal weiter Lebensmittel zu verteilen und die tschetschenischen Flüchtlinge sich selbst überlassen blieben. In Tiflis gab es unter den Abchasien-Flüchtlingen verzweifelte Selbstmorde, und sogar Intellektuelle wie der georgische Schriftsteller Lascha Bakradse sympathisierten schließlich mit jenen, die Abchasien auch mit Krieg zurückholen würden.
Die Flüchtlingslager um Baku waren eigentlich nur provisorisch errichtet worden. Solange bis Karabach wieder zu Aserbaidschan gehört, wie die Regierung den Leuten versicherte. Da gab es kein Friedensinstitut, das Pläne entwarf, wie man solchen hohlen Versprechungen ein Ende bereitet und die armen Menschen endlich integriert.
Es waren Jahre, in denen sich die Präsidenten der südkaukasischen Länder bereicherten – häufig am Geld internationaler Organisationen –, Vetternwirtschaft und Korruption ausbauten und trotz der Beobachtung internationaler Organisationen Wahlfälschung betrieben. Man scherte sich einen Teufel um ein demokratisches Rechtssystem, dessen Aufbau in Georgien und Armenien beispielsweise mit dem Geld der Deutschen Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) unterstützt wird. Hilflos sahen die jeweiligen Organisationen all diesem Treiben zu. Währenddessen schoßen selbsterklärte Rambos und durchgeknallte Partisanen einander ab – und etliche Zivilisten dazu. Unter Aufsicht der VN wurden an der abchasischen Grenze Leichen ausgetauscht. Trotzdem erhielten die Partisanengruppen immer mehr Zulauf, war der Zulauf bei jenen, die für gewaltsame Lösungen eintraten, erschreckend. Außer Spesen nichts gewesen, wäre vielleicht eine zu zynisches Resümee der Friedensarbeit im Kaukasus während des vergangenen Jahrzehnts. Doch Frieden - oder auch nur eine Annäherung daran - haben all diese Versuche nicht gebracht.
Warum können Hunderte, Tausende von hilfswilligen Friedensstiftern jahrelang ihre Gehälter von der OSZE, der EU, den VN etc. beziehen, obwohl der Friedensprozeß kein Stück voran kommt? Es wäre unangemessen, anzunehmen, die Organisationen seien schlichtweg unfähig. Die Möglichkeiten, die der OSZE und den VN zur Verfügung stehen, sind genauestens untersucht worden und bekannt. Sind sie der Grund für ihre erfolglose Arbeit?
Liest man die Vorschläge zur Konfliktvermeidung, verwundert deren ausgewogener Ton. Natürlich sind Konflikte geschichtlich bedingt, haben ihren Grund in der Angst um Lebensraum, um Wurzeln, Traditionen, Verteilung von Gütern etc. Aber ist das eine Entschuldigung für alles? Rechtfertigt die Sehnsucht nach der Heimat, aus der man verstoßen wurde, sie sich mit Waffengewalt zurückholen zu wollen? Muß man die Tradition eines Volkes leben, wenn das zu neuen Kriegen führt? Reicht es, einmal Land besiedelt zu haben, um auf ewig Anspruch darauf zu haben? Basiert die Zukunft zwangsläufig auf der Vergangenheit? Und muß der Westen Verständnis für archaische Sitten wie Blutrache und Sippenverurteilung haben?
In Georgiens Hauptstadt Tiflis wurde just ein Film gefeiert, der vom Kampf eines jungen Tschetschenen gegen die Russen erzählt. Der Junge, gerade 14, setzt den Kampf seines Bruders fort, den die Russen getötet haben. Diese alttestamentarische Botschaft des „Auge um Auge“ findet auch unter den Georgiern große Sympathien. Daß man um Vaterland und Ehre kämpfen, ja, dafür sterben muß, wird als moralisch richtig angesehen. Nur wenigen ist diese Heldentums-Philosophie suspekt. Das daraus folgende Fortbestehen einer kriegerischen Situation, die Unmöglichkeit, je Frieden zu erreichen, wird billigend in Kauf genommen. Natürlich ist es wünschenswert, die Erinnerung an die Vergangenheit eines Volkes zu wahren. In dieser Vergangenheit weiter zu leben, heißt aber, der Gegenwart und der Zukunft keine Chance zu geben.
Im Kaukasus sind die Begriffe Krieg und Lebenserhalt eines Volkes untrennbar miteinander verbunden. Rückblickend auf die Geschichte ist das verständlich. Auch im Falle Tschetscheniens kann man die Terrorakte angesichts der widerlichen Grausamkeiten der Russen wohlwollend als Verteidigung betrachten. Aber in Armenien, Aserbaidschan und Georgien? Gab oder gibt es einen wirklichen Anlaß, Menschen abzuschlachten, mit denen man mehr oder minder friedlich zusammenlebte?
Viel zu vorsichtig sind die Vorwürfe gegen die Regierungen, deren Korruptheit, Geldgier und Verantwortungslosigkeit das Leid ihrer Völker verstärkt. Im Gegenteil führt die Unterstützung westlicher Organisationen oft erst dazu, daß sich die Landesführung der Verantwortung entziehen kann, sich einen Dreck um die Lösung des Flüchtlingsproblems kümmert, die Landwirtschaft nicht subventioniert, um künftige Mangeljahre zu vermeiden, Randgruppen und sozial Schwache nicht zur Kenntnis nimmt. Politiker dieser Art werden im Westen als Staatsgäste empfangen, egal, wie groß ihre Operettenhaftigkeit und ihre Schamlosigkeit ist. Schröder feiert mit Putin, der für den tschetschenischen Völkermord verantwortlich ist, Weihnachten, Genscher geht mit Schewardnadse bummeln. Alijew kommt in Aserbaidschan um des kaspischen Öls willen mit jeder Schweinerei davon, Armenien ist dem Westen egal, deshalb läßt man Kocharjan betrügerisch gewähren.
Das Problem vieler Friedensansätze ist, daß sie im universitären Elfenbeinturm erdacht werden. Selbst dann, wenn zu dem Thema Konferenzen stattfinden, bleibt man unter sich: Professoren und Professoren, Politologen und Politologen. Die resultierende Intellekt-Lastigkeit führt dazu, daß so manche Konflikttheorie an der Realität vorbeischrammt, nichts anderes ist, als eine Art Selbstbefriedigung. Selten nur werden die alltäglich Betroffenen in die Konfliktlösungen einbezogen, meist berichten Mitarbeiter von (Hilfs-) Organisationen über deren Elend und klingen dabei, als berichteten sie von einem besonders interessanten zoologischen Problem. Viele dieser Arbeiten sähen sicherlich anders aus, würde ihr Verfasser eine Woche in einem kaukasischen Bergdorf selbstgebrannten Wodka trinken und den Menschen bei ihren Gesprächen zuhören.
Die meisten Übereinkommen über den Status der abtrünnigen Gebiete, den Umgang mit den Flüchtlingen und die Wiederaufnahme von Beziehungen auf banalem Niveau hielten folglich keinen Monat – manchmal keine Woche. Der Streit über den Status Abchasiens, das einseitig seine Unabhängigkeit von Georgien erklärt hat, brachte Russen und Georgier mehrfach an den Rand eines Krieges, und es ist nur den Verhandlungen der OSZE zu verdanken, daß die Gefahr jedes Mal abgewandt wurde.
Führt man sich all die Vergeblichkeit vor Augen, scheint Ruhe für den Kaukasus die Einhaltung dreier – leider utopischer – Bedingungen zu erfordern: 1. Zurückhaltung der Großmächte. Dieser Wunsch wird an der Gier nach Öl scheitern. 2. Ein Gesamtfriedenskonzept unter Einbeziehung aller kaukasischen Konflikte, auch des Tschetschenien-Krieges. Solange es an einer Stelle brennt, wird es geistige Pyrotechniker geben: selbsternannte Partisanen, bezahlte Söldner, wandernde Terroristen und korrupte Politiker, Geschäftsleute, die sich am Waffenhandel und am Mordgeschäft bereichern. Diese Bedingung wird an der Selbstherrlichkeit des russischen Präsidenten scheitern. 3. Mehr Eigenverantwortung der Betroffenen. Zur Zeit ebenfalls nicht zu erwarten.
Alan Parastajew, Leiter einer südossetischen Hilfsorganisation, glaubt, Fortschritte könnten erzielt werden, wenn der Status der separatistischen Gebiete ignoriert würde und jedes Land eine Weile sich selbst überlassen bliebe. Wenn die Menschen Zeit hätten, sich wieder auf sich selbst, ihre Nachbarschaft und ihre Gemeinsamkeiten zu besinnen. Solche Überlegungen schließen den Kreis zu der schon erwähnten Frage, wohin man käme, wenn jede Minderheit Autonomie wolle. Von Regierungen oder Organisationen gestellt, hat diese Frage meist rein rhetorischen Charakter und die schon im voraus gedachte Antwort lautet: ins Chaos.
Abgesehen davon, daß es viele Minderheiten gibt, die sich in ihrer Nicht-Autonomie wohl fühlen, keine Ambitionen auf Eigenstaatlichkeit haben, würde es sich im Kaukasus durchaus lohnen, über ein Völkerbündnis nachzudenken. Die abchasische Dichterin und Journalistin Nadjeschda Wenediktowa schrieb vor vielen Jahren, nur die Überwindung des nationalistischen Gedankens könne zu einer Lösung führen. Der Kaukasus müsse sich von der Idee der nationalstaatlichen Selbstbestimmung lösen, auch die territoriale Einheit könne nicht mit allen Mitteln verteidigt werden. Stattdessen müsse man versuchen, diese Entwicklungsstufe zu überspringen und nach dem Vorbild des vereinten Europas – damals, vor der europäischen Zerstrittenheit über die Teilnahme an Angriffskriegen, konnte man noch an ein vereintes Europa glauben – die Staatlichkeit der kaukasischen Völker zugunsten einer Hinwendung zur Völkervertretung aufzulösen. Ob ein integriertes, föderalistisches Modell am Ende die Widersprüche zwischen der Unverletzbarkeit der Grenzen und der Selbstbestimmung der Völker soweit abmildern kann, daß Frieden im Kaukasus möglich wird, hängt davon ab, wann der Leidensdruck groß genug ist, endlich von Vernunft geprägte Lösungen finden zu wollen. Ansätze hat es mit der Kaukasischen Föderation 1917 und dann 1992 schon einmal gegeben, beide Versuche aber scheiterten an den damaligen politischen und sozialen Bedingungen. Gelänge es, für eine solche Idee ein solides Fundament zu schaffen, könnte der dritte Versuch Erfolg haben.
13.01.2023 14:10:35
08.07.2022 17:15:55
18.05.2022 09:35:41
14.05.2022 12:09:22
11.04.2022 14:21:21
19.03.2022 10:08:25
16.07.2021 13:38:36
22.03.2021 21:36:33
17.02.2021 15:05:27
28.01.2021 07:02:33