NATO-Gipfel in Bukarest: Kommt die neue Afghanistan-Strategie?EM-INTERVIEW

NATO-Gipfel in Bukarest: Kommt die neue Afghanistan-Strategie?

NATO-Gipfel in Bukarest: Kommt die neue Afghanistan-Strategie?

In Afghanistan liegt vieles im Argen. Im Gespräch mit dem Eurasischen Magazin moniert Dr. Timo Noetzel vor allem die fehlende Gesamtstrategie der NATO für das Land am Hindukusch. Er leitet seit April 2008 eine zu internationaler Stabilisierungspolitik und modernen Protektoraten arbeitende Nachwuchsgruppe des Exzellenzclusters der Universität Konstanz. Der Westen, so Noetzel weiche vielen Problemen einfach aus und schaffe damit eine bedrohliche Entwicklung. Es sei zu hoffen, dass in Bukarest die angekündigte Strategie beschlossen und verabschiedet werde, die der Entwicklung eine gewisse Wende geben könnte. Daran werde man Bukarest messen müssen.

Von Hans Wagner

  Zur Person: Timo Noetzel
  Dr. Timo Noetzel leitet seit April 2008 eine zu internationaler Stabilisierungspolitik und modernen Protektoraten arbeitende Nachwuchsgruppe des Exzellenzclusters der Universität Konstanz.

Von 2006-2008 war er Mitarbeiter der Stiftung Wissenschaft und Politik und 2007 Visiting Fellow bei Chatham House in London.

Von 2003-2006 arbeitete er als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Deutschen Bundestag und absolvierte 2005 das Seminar für Sicherheitspolitik an der Bundesakademie für Sicherheitspolitik.

Noetzel hat in Konstanz, Belfast und Oxford studiert. Inhaltlich arbeitete er zuletzt schwerpunktmäßig zu Auslandseinsätzen der Bundeswehr und zum Kommando Spezialkräfte sowie zu Transatlantischer Sicherheitspolitik und der NATO.
Dr. Timo Noetzel  
Dr. Timo Noetzel  

E urasisches Magazin: Im April soll ein NATO-Gipfel in Bukarest stattfinden. Wird bis dahin die von der Bundesregierung seit längerem geforderte Gesamtstrategie für den Einsatz des westlichen Bündnisses in Afghanistan vorliegen?

Timo Noetzel: Das wurde im Herbst auf dem Treffen der Verteidigungsminister im niederländischen Noordwijk so beschlossen und man sollte nach wie vor davon ausgehen, dass eine solche umfassende Strategie in Bukarest verabschiedet werden wird.

EM: Woran fehlt es bei der bisherigen Strategie der westlichen Länder für den Einsatz in Afghanistan?

Noetzel: Einmal an der Frage der Konsensfähigkeit. Das heißt, es gibt bislang innerhalb des Bündnisses sehr stark divergierende Positionen. Da sind einmal Länder wie zum Beispiel Deutschland, die den Afghanistaneinsatz vor allem als eine Stabilisierungsoperation ansehen. Sie gewichten daher auch die Maßnahmen und die Ressourcen entsprechend. Ihnen geht es vordringlich um Wiederaufbau, den Aufbau von Infrastruktur, humanitäre Maßnahmen. Und dann gibt es die andere Gruppe, das ist vor allem das amerikanisch-angelsächsische Lager, die den ISAF-Einsatz mehr und mehr als eine Operation mit dem Schwerpunkt der Bekämpfung von Aufständischen versteht.

„Es gibt ein generelles Missverhältnis zwischen den zur Verfügung gestellten Ressourcen und den definierten Zielen.“

EM: Sie sehen aber wohl weitere Divergenzen?

Noetzel: So ist es. Es gibt ein generelles Missverhältnis zwischen den zur Verfügung gestellten Ressourcen und den definierten Zielen. Das immer noch prägende Ziel des Afghanistaneinsatzes ist es, ein rechtsstaatliches Gewaltmonopol in  Afghanistan wieder herzustellen und einen an demokratischen Werten orientierten Staat aufzubauen. Die Ziele sind also sehr ambitioniert. Wenn man jedoch die viel zu geringen Mittel betrachtet, die dafür bereit stehen, wird das Missverhältnis unübersehbar. Der „Spiegel“ hat das vor einer Weile auf den Punkt gebracht, indem er den Afghanistankrieg als einen Discountkrieg bezeichnete.

EM: Wo kommen in diesem Discountkrieg eigentlich die afghanischen Truppen vor? In den Medien ist immer nur von den Truppen der USA und ihrer Verbündeten die Rede. Beteiligt sich Kabul überhaupt nicht an der Bekämpfung seiner Gegner?

Noetzel: Es besteht ein Missverhältnis in der medialen Verarbeitung dieses Krieges. Es gibt die afghanische Regierung, afghanisches Militär, afghanische Polizei und andere afghanische Sicherheitsdienste, die alle sehr deutlich engagiert sind. Es stehen sich vereinfacht ausgedrückt in Afghanistan zwei Konfliktparteien gegenüber. Auf der einen Seite kämpfen die afghanische Regierung mit ihren Sicherheitskräften und die Truppen der ISAF. Auf der anderen Seite haben wir es mit einer sehr heterogenen Aufstandsbewegung zu tun. Die Regierung in Kabul und das afghanische Militär sind in alle Operationen eingebunden. Die ISAF-Tuppen kämpfen nicht allein, sondern sie kämpfen grundsätzlich zusammen mit den afghanischen Truppen. Von den wenigen der ISAF zur Verfügung stehenden Ressourcen wird ein Großteil für den Aufbau der afghanischen Sicherheitskräfte verwendet. Die Wahrnehmung in unseren Medien spiegelt in dem Punkt die Realität in Afghanistan nicht wieder.

„Die Regierungen tun sich schwer, den Sinn und Zweck dieses Einsatzes den Bevölkerungen so zu erklären, dass daraus die Bereitschaft für den Einsatz größerer Mittel entsteht.“

EM: Weshalb fließen eigentlich bei diesem, wie Sie sagten, ambitionierten Vorhaben die Mittel so spärlich?

Noetzel: Weil es schwierig ist, für derartige Operationen in den westlichen Gesellschaften ausreichend Unterstützung zu bekommen. Die Regierungen tun sich schwer, den Sinn und Zweck dieses Einsatzes den Bevölkerungen so zu erklären, dass daraus die Bereitschaft für den Einsatz größerer Mittel entsteht.

EM: Und weshalb ist das so schwierig?

Noetzel: Da besteht eine Art Quadratur des Kreises. Man wird in Afghanistan nur Erfolg haben, wenn man mehr Mittel bereitstellt. Mehr Ressourcen kann man aber nur einsetzen, wenn ein Konsens in der Bevölkerung besteht, dass diese Mittel notwendig sind. Derzeit bestehen in den meisten europäischen Ländern aber stabile Mehrheiten gegen einen weiteren Afghanistaneinsatz. Und das hat wiederum damit zu tun, dass so wenig Erfolg sichtbar wird.

EM: Wie viele westliche Truppen und Nichtregierungsorganisationen sind in Afghanistan im Einsatz?

Noetzel: Das sind nahezu 42.000 ISAF-Soldaten und ungefähr 10.000 Soldaten unter dem Mandat der Operation Enduring Freedom. Außerdem noch 200 Polizeiausbilder der Europäischen Union. Dazu kommt dann noch umfangreiches Personal von zivilen Sicherheitsfirmen, die primär zu Ausbildungszwecken eingesetzt werden. Über den zahlenmäßigen Umfang der NGOs liegen mir keine verlässlichen Angaben vor.

EM: Ist das genug?

Noetzel: Nein, ganz eindeutig nicht. Es mangelt an allen Ecken und Enden nicht nur an Mitteln für den Wiederaufbau, sondern auch an Truppen. Mit dem, was eingesetzt wird, kann es keine schnellen substantiellen Fortschritte geben. Die Herausforderung, die sich in Afghanistan stellt, ist mit den zur Verfügung stehenden Mitteln nicht zu meistern. Die Größe und der Zustand des Landes zum Zeitpunkt der Intervention 2001 stehen dem schlicht und ergreifend entgegen.

EM: Gibt es denn inzwischen eine Zusammenarbeit mit einheimischen Kräften, mit lokalen Gruppen, wie zum Beispiel einzelnen Stammesführern?

Timo Noetzel: Darüber wird innerhalb des Bündnisses gesprochen. Die prinzipielle Notwendigkeit ist anerkannt, aber es konnte bislang kein Konsens herbeigeführt werden. Hauptziel wäre es, die Gegner durch Verhandlungen zu spalten und das müsste auch ein wichtiges Ziel der militärischen Operationsführung sein. Aber es ist äußerst schwierig einen Konsens darüber herbeizuführen, mit welchen Gruppen der Aufstandsbewegung man überhaupt verhandeln sollte.

„Die jetzige Wahrnehmung in Afghanistan ist, dass die Taliban zurückkommen und dass ISAF nicht in der Lage ist, die Aufstandsbewegung dauerhaft unter Kontrolle zu bekommen.“

EM: Wie groß ist heute noch die Zustimmung in Afghanistan zu Osama bin Laden und seiner Al Kaida, die ja ursprünglich das Ziel und den Grund für den Einmarsch geliefert hat?

Noetzel: Al Kaida wurde nie von der afghanischen Bevölkerung unterstützt, sondern war immer von den Taliban abhängig. Aber die Frage der Zustimmung der Bevölkerung insgesamt ist in der Tat der kritische Punkt. Das generelle Ziel jeder Aufstandsbekämpfung muss es ja sein, dass die Bevölkerung sieht und spürt, dass ihre Regierung sich gegen die Aufständischen durchsetzen kann. Der kritische Punkt ist dann erreicht, wenn die afghanische Bevölkerung den Eindruck bekommt, dass am Ende doch die Taliban gewinnen. Die jetzige Wahrnehmung in Afghanistan ist, dass die Taliban zurückkommen und dass ISAF nicht in der Lage ist, die Aufstandsbewegung dauerhaft unter Kontrolle zu bekommen, beziehungsweise aus dem Land zu vertreiben.

EM: Und wie ist die Stimmung gegenüber dem Westen? Werden die Fremden heute eher als Besatzer oder Befreier empfunden?

Noetzel: Im Norden Afghanistans, wo die Bundeswehr stationiert ist, gibt es immer noch große Sympathien für die ISAF. Es gibt nach wie vor eine deutlich positive Einstellung der Bevölkerung gegenüber der ISAF. Das Problem ist allerdings, dass die Afghanen auch mitbekommen, wie die Sicherheitssituation sich wandelt, wie die Taliban an Stärke gewinnen. Und es ist ja nicht ersichtlich, wie lange die ISAF überhaupt noch bleibt. Das beides sorgt für nachhaltige Verunsicherung.

EM: Und was bedeutet das?

Noetzel: Die Truppen der ISAF werden in großen Teilen des Landes nicht als Besatzer empfunden. Allerdings ist diese Einschätzung daran gebunden, dass mit der ISAF letztendlich eine positive Entwicklung im Lande einhergeht. Weil aber nun seit 2005 die Aufstandsbewegung immer mehr an Kraft gewinnt, weil immer mehr kriminelle Gruppierungen mit den Aufständischen gemeinsame Sache machen und damit verbunden immer weitere Teile des Landes unkontrollierbar werden, kommt genau dieser Punkt ins Kippen. Die positive Entwicklung im Land ist zum Halten gekommen.

EM: Deutsche Soldaten sollen mit einer schnellen Eingreiftruppe in Afghanistans Norden Aufgaben übernehmen, die bisher von einer norwegischen Einheit geleistet wurden, die nun aber abzieht. Wird Deutschland in Zukunft stärker in Kämpfe verwickelt und mehr eigene Opfer in Kauf nehmen müssen?

Noetzel: Die Norweger haben bislang die Kampfeinheit des Regionalkommandos Nord gestellt. Wenn nun die Bundeswehr diese Aufgabe übernimmt, wird sie mehr in Kampfeinsätze verwickelt sein als bisher, das ist zu erwarten. Die Frage nach den möglichen Opfern kann man natürlich nicht pauschal beantworten, aber prinzipiell muss man davon ausgehen, dass die Gefahren für die Soldaten zunehmen.

„Die Sicherheitslage hat sich seit 2005 verschlechtert, und zwar kontinuierlich, darüber gibt es überhaupt nichts zu diskutieren.“

EM: Sind die diversen Offensiven im Süden und im Nordwesten erfolgreich, oder  verschlechtert sich die Sicherheitslage der westlichen Kräfte eher weiter?

Noetzel: Die Sicherheitslage hat sich wie schon gesagt seit 2005 verschlechtert, und zwar kontinuierlich, darüber gibt es überhaupt nichts zu diskutieren. Die von den Taliban geführte Aufstandsbewegung hat allen Offensiven der ISAF und von Enduring Freedom zum Trotz immer mehr an Kraft gewonnen.

EM: Wie lange werden fremde Soldaten noch in Afghanistan stationiert sein – wann wird das Land jemals wieder seine volle Souveränität erlangen?

Noetzel: Wenn die ursprünglich einmal postulierten Ziele erreicht werden sollen, die wir ja eingangs schon angesprochen haben, dann werden die Truppen noch sehr, sehr lange bleiben müssen. Das wird zwanzig Jahre und länger dauern. Wenn es um bescheidenere Ziele geht, zum Beispiel um eine afghanische Regierung, die in der Lage ist, das Land halbwegs zu kontrollieren, dann  ist das vielleicht auch in einer kürzeren Zeitspanne zu erreichen. Wer eine Exit-Strategie fordert, also den Abzug aus Afghanistan in den nächsten vier, fünf Jahren beispielsweise, der gibt zu erkennen, dass die eigene Erwartungshaltung bezüglich der Entwicklung in Afghanistan schon sehr reduziert ist.

EM: Bei der deutschen Bevölkerung ist der Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan unpopulär. Gilt noch der Satz von Peter Struck, dass am Hindukusch auch die Sicherheit Deutschlands verteidigt wird, oder hat der nie gestimmt?

Noetzel: Das ist ein plakativer Satz. Er sollte damals der Bevölkerung verdeutlichen, dass die Entwicklung in Afghanistan auch uns nicht gleichgültig sein darf. Damals war Afghanistan eindeutig ein Rückzugsraum der Al Kaida mit einer ganzen Reihe von Ausbildungslagern. Mit dem Talibanregime zusammen kontrollierte Al Kaida nahezu 90 Prozent des Territoriums Afghanistans. Hätte dieses Regime weiter bestanden, dann hätte das ganz zweifelsfrei sehr negative Auswirkungen auf unsere Sicherheit hier im Westen gehabt. Die damals der Al Kaida zur Verfügung stehenden Mittel hatten die Terrororganisation in die Lage versetzt, Attentate im Westen zu planen und durchzuführen. Die militärische Intervention des Westens hat das Talibanregime zum Einsturz gebracht. Die Ausbildungslager wurden zerstört. Das hat unsere Sicherheitslage zweifelsohne verbessert.

„Der Westen tut aber zu wenig, um die eigentlichen Probleme – wie zum Beispiel die Drogeproblematik - anzugehen. Schlimmer noch, es wird ihnen ausgewichen.“

EM: Und heute?

Noetzel: Der heutige Einsatz in Afghanistan dient dazu, die gewählte afghanische Regierung in die Lage zu versetzen, sich gegen die Aufstandsbewegung behaupten zu können. Mittelbar ist unsere Sicherheit auch heute vom Zustand Afghanistans betroffen. Wenn wir heute aus dem Land abziehen, wird übermorgen das Talibanregime wieder die Kontrolle über Afghanistan erlangen. Die Regierung in Kabul allein ist zu schwach, um sich dagegen zu behaupten. Mit Sicherheit würde nach einem Abzug der ISAF Afghanistan wieder zu einer Basis für den internationalen Terrorismus und damit auch unsere Sicherheit bedroht werden. 

EM: Vor einem Jahr haben manche Militärs die Befürchtung geäußert, Afghanistan stehe auf der Kippe. Inzwischen gibt es mehr und blutigere Selbstmordattentate – ist der Westen dem Sieg oder der Niederlage inzwischen ein Stück näher gekommen?

Noetzel: Weder noch. Was man in Afghanistan beobachten kann, ist eine langsame Verschlechterung der Lage. Die ISAF ist dem Sieg nicht näher gekommen, befindet sich aber auch nicht auf dem unausweichlichen Weg in die Niederlage. Der Westen tut aber zu wenig, um die eigentlichen Probleme – wie zum Beispiel die Drogeproblematik - anzugehen. Schlimmer noch, es wird ihnen ausgewichen. Das ist eine bedrohliche Entwicklung. Zurzeit erleben wir einen schleichenden Prozess, und der ist nicht positiv. Jetzt ist zu hoffen, dass in Bukarest die angekündigte Strategie beschlossen und verabschiedet wird, die der Entwicklung eine gewisse Wende geben könnte. Daran wird man Bukarest messen müssen.

EM: Herr Dr. Noetzel, haben Sie herzlichen Dank für dieses Gespräch.

Afghanistan Außenpolitik Interview

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